Wohin könnten Familienzerrütungen und Schulmobbing führen ? Die unlogische Entstehungsgeschichte eines Schuldramas.
Mancher kennt die Situation: die Schule ist die persönliche Hölle. Es bilden sich exklusive Gruppen, Arroganz und Verachtung dominieren, Mobbing ist an der Tagesordnung und Lehrer ignorieren die Tatsachen.
Dieses Buch zeigt nun die Innenansicht einer solchen Klasse, die von all diesen Zuständen durchzogen ist. In dieser Klasse führen diese Zustände so weit, dass sich einer der Gemobbten umbringt und in seiner Rachsucht mit posthumen Botschaften die Klasse erbeben lässt. Denn er hat ein Tagebuch verfasst, in dem er die alltäglichen Ereignisse der Schüler dokumentiert und kommentiert. Wir würden diese Ereignisse jedoch wohl kaum als "alltäglich" bezeichnen. Denn dazu gehören dunkle Geheimnisse einzelner Klassenmitglieder, einseitige Schlägereien, Erpressung, Gefügigmachung und Vergewaltigung. Und mit dem Selbstmord des Schülers beginnt es: sowohl dieses Buch, als auch das WIRKLICHE Drama. Denn der Selbstmörder Jakob nahm seiner Sitznachbarin und "Freundin" das Versprechen ab, sie solle das Buch im Klassenverband vorlesen. Und das führt nun zu einer völligen Verkehrung aller vorigen Situationen: Freundschaften lösen sich, Beziehungen zerbrechen, neue Freundschaften bilden sich, "Hierarchien" kehren sich ins Gegenteil um und generelles Entsetzen macht sich breit. Und Lehrer schauen weg. Doch alles ist lediglich ein riesengroßer Schwindel. Denn so einfach ist das alles nicht, denn nicht viel ist so, wie es scheint und viel ist inszeniert von einem psychisch labilen und seelisch zerstörten Wrack eines jungen Menschen, der von einem promiskuen Vater mit einem denkbar schlimmen Leben "beschenkt" wurde. Nun fordert er seine Rache an allem und jedem. Dafür ist er bereit, jeden anderen, der IRGENDWAS mit ihm zu tun hat, mit sich in den Untergang und Tod zu reißen.
Das klingt alles ganz spannend, oder ? Ein Familien- und Schuldrama, das mit psychologischen, dystopischen und Thrillerelementen spielt. Doch genauso wie sich die Handlung als nicht so einfach (und angenehm komplex) herausstellte, ist auch das Buch in seiner Gesamtheit nicht so einfach. Ein Buch kann sich nicht allein an seinem Inhalt bemessen lassen. Die Form muss auch stimmen und das tut es hier nicht. Um genau zu sein, gibt es auch einige Makel am Inhalt selbst.
Zunächst zum Inhalt. Der Inhalt schwankt nämlich intensiv zwischen Familiendrama und Schuldrama. Der Fokus liegt fast unentwegt auf der schulischen Misere und den Schülern, doch entpuppt sich am Ende alles als perfider und grausamer Plan, der auf einem Familiendrama ruht. Wo nun ein Perspektivwechsel stattfinden müsste, um ALLES nochmal NEU zu beleuchten, findet keiner statt. Durch Andeutungen und späte Enthüllungen erfahren wir als Leser, wie tief das Drama eigentlich reicht und dass alles, was bisher geschah, noch eine zweite Schicht hatte. Doch dieser Blick auf die familiäre Schicht fehlt fast vollständig. Das Verhalten der verschiedenen Söhne bleibt für uns genauso im Zweifelhaften, wie die umfassende Verantwortungslosigkeit des notgeilen und beziehungsuntauglichen vaters. Darüber könnte ich nur Entsetzen versprüren, wenn ich denn Entsetzen verspüren könnte. Hier würde uns eventuell nur ein Psychologie-Kurs weiterhelfen, der einen Blick in die Psyche dieser Menschen ermöglichen könnte. Leider ist das jedoch nicht möglich und in diesem Sinne komme ich zu meinem zweiten Kritikpunkt.
Die Charaktere, mit denen wir uns hier hauptsächlich beschäftigen und die einen Großteil der Misere (bewusst oder unbewusst; im Guten oder Negativen) ausmachen, sind unplausibel. Der "Erzeuger" in seinen Einstellungen und in seiner Position als Urheber von fast ALLEM; die Beziehungsentstehungsgeschichte (sorry für das Wortungetüm :D) zwischen einem Mobbingopfer und einem Mobbingtäter (Stockholm Syndrome oder so ?); die Läuterung Walthers; der Amokläufer in seiner Gesamtrollenzusammenstellung. Wenn es Logik im Geschehen geben soll, dann muss ich sie mir schon zusammensuchen. MMn eine der wenigen plausiblen Personen war tatsächlich Tamara, eine wenig vorkommende Nebendarstellerin, die wahrscheinlich deswegen plausibel war, WEIL sie Nebendarstellerin war, wenig vorkam und dadurch keine personelle Tiefe erhielt. Deswegen bleibt das oben erwähnte Entsetzen, das ich verspüren müsste, aus. Denn die einfachen Konstanten "Aktion-Reaktion" und "Handlung-Handlungsrahmen" sind schlichtweg unlogisch. Wir tauschen zwar tief ein in menschliche Psychen, wir folgen der Autorin in die weiten Gefilde menschlicher Abgründe, doch ließ mich das alles kalt, da ich es einfach nicht nachvollziehen kann. Ich bin kein Psychologe, deswegen kann ich mich auch stark irren, aber wie kann ein psychisches Wrack direkt ein gesundes und vertrauensvolles Verhältnis mit einem SEINER TÄTER aufbauen (ich rede von Natasha und Tobias)? Es mag sein, dass das mal möglich ist (immerhin gibt sich Tobias echt Mühe), doch dann wären wir wieder am Punkt des Ausnahmefalles vom Ausnahmefall, der Kreis schlösse sich und wir sind wieder beim unplausiblen Charakterbild.
Auf 2 Ebenen will ich noch kurz eingehen: die sprachliche und die literarische Ebene, und evtl. auf noch ein paar kurze Gedankengänge.
Erst die literarische Ebene: jedem Kapitel ist (meist ein englischer) Ausschnitt eines Songs (ua Frozen von Madonna, Iridescent von LP) vorgeschrieben, der die Atmossphäre des jeweiligen Kapitels einfangen soll, denke ich. Außerdem arbeitet die Autorin (zum Ende hin immer öfter) mit dem Erzählen in cineastischen Sequenzen, also dem schnellen Springen zwischen einzelnen Schauplätzen bei gleichbleibendem Thema.
Ich konnte mir echt gut vorstellen, wie sich die Autorin diese beiden Elemente richtig gut vorstellen konnte. Nur kamen sie bei mir nicht an. Sie sind viel zu subjektiv eingearbeitet. DASS es jedoch zumindest mit dem Vorzitat grandios funktionieren KANN, zeigt der 1. Band der Tintenherztrilogie von Cornelia Funke. Die Strophen las ich irgendwann auch nicht mehr mit.
Was mir außerdem auffiel, war der absolut luftleere Raum, in dem sich die Handlung vollzog. Gegenstände, Anblicke, Räume. All das findet sich in diesem Buch nur in den rudimentärsten Zügen wieder, sodass ich mir quasi nichts vorstellen konnte. Denn ein Minimum an Vorstellungsgrundlagen muss schon gewährleistet sein, um überhaupt die Fantasie des Lesers anzuregen.
Zweitens die sprachliche Ebene: sprachlich betrachtet ist das Buch eine Zumutung. Grammatikfehler und Rechtschreibfehler finden sich in ziemlich großer Zahl. Außerdem zeigt die sprachliche Konzeption das, was ich mit den nichtvorhanden Charakterbildern bereits ausführte: dass sie nicht vorhanden sind. Spezielle Wendungen oder auffällige Worte finden sich in allen möglichen Kontexten und im Gebrauch aller möglicher Personen, so gegensätzlich sie auch angelegt waren (?). Es gibt keine personenspezifische Sprache oder Denkensart. Manche Fremdworte werden auch mal auf 20 Seiten immer wieder von allen möglichen Personen benutzt und finden sich dann nie wieder im Buch.
So interessant wie unpassend fand ich auch die Anspielung auf die öffentlichen Medien, die am Ende nach dem Schuldrama, direkt bei Shootern ihre Ursache finden und darauf unreflektiert rumhacken. Ich bin selbst ein exzessiver Gamer und rege mich auch regelmäßig über die Medien dsbzgl. auf. Doch muss da schon mehr kommen, als das bloße "Lästern" über die sensationsorientierte Reflexionsunfähigkeit der Medien in 2 kurzen zusammenhanglosen Nebensätzen am Ende des Buches. Sonst befinden wir uns selbst am gleichen Punkt: der oberflächlichen Reflexionslosigkeit.