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Eine junge Studentin findet in der Bibliothek ein Buch, in das ein anderer Student Hunderte von Randbemerkungen gekritzelt hat, offenbar im Bemühen, der wahren Identität des unter Pseudonym schreibenden Autors V. M. Straka auf die Spur zu kommen. Die junge Frau ist fasziniert und ergänzt die Notizen mit eigenen Mutmaßungen. Zwischen den beiden Studenten Jen und Eric entspinnt sich eine lebhafte Unterhaltung, die allein auf den Seiten des Romans »Das Schiff des Theseus« stattfindet. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach dem mysteriösen Autor V. M. Straka. Ein unbekannter Übersetzer hat den Roman herausgegeben und ihn mit teilweise verwirrenden Fußnoten versehen. Doch die beiden finden heraus, dass diese Fußnoten einen geheimen Code ergeben, der ihnen Informationen liefert, die der Straka-Forschung bisher völlig unbekannt waren. Was wie ein Spiel beginnt, wird im Laufe der Zeit bitterer Ernst, denn jemand scheint Interesse daran zu haben, dass die Identität des Autors nicht gelüftet wird. Jen und Eric geraten in gefährliche Verstrickungen, die sie fast das Leben kosten.
Ein hochraffiniert komponierter Roman, der zeigt, was ein Buch anrichten kann. In der Literatur und im Leben.
Eigene Beurteilung:
Das Schiff des Theseus ist ein altgriechisches Paradoxon, das sich mit der Frage beschäftigt, ob das Austauschen von Bestandteilen einer Sache irgendwann ihre Identität verändert – ob zum Beispiel ein Schiff, dass über dreißig Jahre alle seine Bestandteile ausgetauscht bekommen hat am Ende immer noch das gleiche Schiff ist (Terry Pratchett hat diese Frage in „Der fünfte Elefant“ auf die heilige Axt der Zwerge bezogen). Diese Frage lässt sich auch auf Menschen beziehen, bei denen sich die meisten ihrer Zellen über einen bestimmten Zeitraum komplett erneuern und auch auf die Frage, inwiefern Prothesentechnik oder Transplantationen die Identität von Menschen verändern können. Auch bezieht sich das Paradoxon auf die Frage der Klonierung und ist damit eine der ethischen Grundfragen der Eugenik.
Zum Teil vollzieht die Hauptfigur S. in diesem Buch die Abenteuer Theseus nach, wobei er allerdings das Problem hat, dass er zu Beginn des Buchs in Wassernähe erwacht und in eine Revolte hineinge-zogen wird, ohne selbst zu wissen, wer er denn genau ist. Er weiß nur, dass er einer Frau namens Szalome verfallen ist, die er später auch unter dem Namen Sola kennt und die er über weite Strecken dieses Buchs sucht. Dabei sieht er sich beständig von seltsamen und brutalen Leuten verfolgt – auch durch ein labyrinthisches Höllensystem, dass Hades und das Labyrinth des Minotaurs zusammen zu werfen scheint. Außerdem landet er immer wieder auf einem seltsamen Schiff, dem Schiff des Theseus, das von einem knorrigen Seemann namens Mahlstrom befehligt wird und dessen Besatzung die ganze Zeit mit zugenähten Mündern herumläuft, aber ständig Beobachtungen notiert. Dieses Schiff verändert im Laufe der Zeit beständig die Form, wobei es aber nach S.‘s Wahrnehmung die Identität behält, während sich S. – unwilliger Revoluzzer, Flüchtling, Seemann, Meuchelserienmörder etc. – sich seiner eigenen Identität nie sicher ist. Genauso wenig wie der Identität vieler anderer.
Durch eine Reihe seltsamer und magisch anmutender Ereignisse gelangen er und Sola schließlich in das Heim eines sehr bösen Menschen und sorgen da – mit Hilfe eines Affen – für ein unwahrscheinliches Chaos, das irgendwie mit materiellen und anderen narrativen Werkzeugen zu tun hat.
Wirr, metaphorisch und anspielungstechnisch überladen und dabei nicht sonderlich spannend ist die Haupterzählung dieses Romans eines Autoren namens V.M. Straka, der noch einige andere Bücher geschrieben haben soll, dessen Identität aber nicht ganz klar ist. Dieses Buch wurde durch eine Frau, die sehr viele verwirrende Fußnoten geschrieben hat posthum herausgegeben, wobei insbesondere das letzte – 10. Kapitel – eine Eigenproduktion der Herausgeberin auf der Grundlage von Manuskriptfragmenten sein soll – eine Arbeit der Liebe, denn die Herausgeberin ist wohl mit dem Autoren liiert gewesen. Wobei die Identität des Autoren selbst rätselhaft bleibt.
Soweit also die Inhalte und die Ausgabefiktion dieses Buchs von J.J. Abrams und Doug Dorsts. Und das ist nicht wirklich sonderlich spannend oder erhebend zu lesen.
Nun haben die beiden Autoren dem Ganzen noch eine zusätzliche Komplexitätsstufe hinzugefügt. Zwei Leser dieses Buchs, die es regelmäßig in einer Universitätsbibliothek ausleihen, kommen in den Rändern und zwischen den Linien des Buchs miteinander ins Gespräch und versuchen zu ergründen, was dieses Buch aussagen will und wer V.M. Straka eigentlich genau gewesen sein könnte, eine Recherche, die sie in die Welt hinaustreibt, in Konkurrenz mit ihren Dozenten bringt und sie einander immer näher, was man durch die Randnotizen immer wieder verfolgen kann – genau wie man die Identität Strakas versucht über angebliche – aber nicht mehr vorhandene – Randnotizen am Manuskript zu erschließen. Dabei fühlen die beiden sich öfter verfolgt und bedroht, nutzen aber trotzdem immer weiter diese halböffentliche Gesprächsform.
Neben den Randnotizen finden sich in dem Buch aber auch Photos, Briefe, Postkarten, Kopien aus anderen Artikeln und Büchern und viele andere Hinzufügungen, was alleine den hübschen Schuber und dessen anfängliche Verschiebung notwendig macht, damit man den ganzen Spaß nicht plötzlich auf dem Boden liegen hat. Es ist schon von Bedeutung, die verschiedenen Einlagen an ihren jeweiligen Plätzen zu finden, um sie den jeweiligen Randnotizen des werdenden Paares zuordnen zu können.
Werten die zusätzlichen Erzählschichten das Buch nun erzählerisch auf? Nein. Die Herausgabefiktion bleibt fragmentarisch und ziellos und die dazugehörigen Fußnoten scheinen eher das Ego der Herausgeberin zu streicheln als der Kernerzählung irgendetwas Substantielles hinzuzufügen. Und auch die ganze Besessenheit der Randnotizenschreiber bei der Recherche scheint eher narzisstisch als wissenschaftlich fundiert zu sein und erweckt den Eindruck mental Masturbation, wie man sie in manchen literaturwissenschaftlichen Kreisen gerne wiederfindet, wo selbst kleinste Details ad absurdum analysiert werden um selbst die abwegigsten Ableitungen zu rechtfertigen. Eine Tendenz, die die beiden anscheinend auch auf ihre jeweilige Lebensführung anzuwenden scheinen, was sie nicht besonders sympathisch macht – und ihre Lebensdarstellung auch nicht unbedingt interessant.
Handwerklich und konzeptionell ist „Ship of Theseus“ sicherlich interessant, aber erzählerisch eher unerfreulich und das macht das Lesen spätestens ab der Mitte zu einer eher unerquicklichen Pflichtübung. Originell, gut gedacht, aber nicht wirklich gut gemacht. Da hat mir das doch deutlich schwieriger zu lesende Book of Dave von Will Self eindeutig mehr Spaß gemacht - und erzählerisch mehr gebracht.