René Bote - Der geteilte Muttertag (komplette Kurzgeschichte hier)

  • Eine Buchvorstellung im eigentlichen Sinne ist das zwar nicht, denn die Vorstellung ist das "Buch". Weil ich in den letzten Tagen Lust hatte, was Kurzes zu schreiben, und weil heute Muttertag ist, gibt's diese Kurzgeschichte komplett hier zu lesen. Viel Spaß beim Schmökern.


    Das Muttertagswochenende begann in diesem Jahr sonnig und warm, und die Wetterfrösche behaupteten, dass das Hoch auch noch eine Weile halten sollte. Nachdem die erste Maiwoche noch verregnet gewesen war, genossen die Leute das schöne Frühlingswetter, und die Eiscafés hatten großen Zulauf.


    Auch Finja gönnte sich auf dem Weg in die Stadt ein Eis, allerdings nur ein kleines, denn das Geld, das sie in der Tasche hatte, hatte sie anders verplant. Sie war unterwegs zu Blumen Tigge, dem großen Blumenladen in der Innenstadt, der eine große Auswahl und gleichzeitig auch bezahlbare Preise hatte. Dort wollte sie für ihre Mutter ein Geschenk zum Muttertag kaufen, und sie wusste auch schon genau, was. Sie war vor ein paar Tagen schon mal da gewesen, um sich umzusehen, aber das war noch zu früh gewesen, um einen Blumenstrauß zu kaufen. Blumen brauchten nun mal Licht und Wasser, Finja hätte ihr Geschenk also nicht einfach im Schrank verstecken können. Außerdem würde ihre Mutter umso länger Freude an ihrem Geschenk haben, je frischer es noch war, wenn sie es bekam.


    Es war schon viertel nach elf, als Finja den Laden erreichte und ihr Rad an eine Laterne kettete. Sie hatte noch Einkäufe für ihre Mutter machen müssen, sonst wäre sie früher losgefahren. Dass die Blumenläden an diesem Tag das beste Geschäft des ganzen Jahres machten, war schließlich bekannt, und Finja schwante schon Übles, als sie das Gedränge rund um die Auslagen auf dem Bürgersteig vor dem Schaufenster sah.


    Sie hatte ein Blumengebinde ausgesucht, bei dem bunte Frühlingsblumen ein hölzernes Herz umrahmten. In das Herz waren die Worte Alles Liebe zum Muttertag eingebrannt, und am Rand entlang ein feines Muster. Das sah hübsch aus, und mit vierzehn Euro kostete es auch nicht die Welt. Finja musste die Blumen ja von ihrem Taschengeld bezahlen, allzu teuer durften sie also nicht sein.


    Die meisten Regale und die großen Plastikvasen auf dem Boden waren gut gefüllt. Der Blumenhändler wusste ja auch, dass er mit vielen Kunden rechnen durfte, und hatte sich dafür gewappnet. Einige Regale waren aber doch schon ziemlich geplündert, und das Personal war entweder wegen der vielen Kunden nicht zum Nachlegen gekommen, oder es hatte nichts mehr zum Nachlegen.


    Finja schob sich zwischen den Leuten durch bis zur Tür und wandte sich dann nach rechts. Dort an der Seite hatte sie die Sträuße mit dem Herzen gesehen, ein ganzes Regal voll. Sie erinnerte sich, dass es mehrere verschiedene Varianten gab, mit anderen Blumen und unterschiedlich geformten Holztafeln darin, aber sie hatte sich schnell für eine entschieden.


    Doch sie war nicht die einzige, der genau diese Sträuße am besten gefielen, und als sie sich endlich durchgedrängt hatte durch die Kunden, die die Gänge verstopften wie den Bus nach Schulschluss, sah sie, dass nur noch einer dieser Sträuße da war. Selbst der drohte ihr noch vor der Nase weggeschnappt zu werden, denn der Junge, der das Regal von der anderen Seite ansteuerte, hatte ihn offensichtlich auch auf dem Wunschzettel. Es war kein Unbekannter, der Finja da zuvorkommen wollte: Lian ging mit ihr in eine Klasse. Er war schmal, trug eine Brille mit einem dicken, dunkelblauen Gestell und belagerte in den Pausen meistens mit einigen anderen eine der steinernen Tischtennisplatten auf dem Schulhof.


    Er hatte Finja bemerkt und auch begriffen, dass sie auf den gleichen Strauß aus war wie er selbst. Er machte einen schnellen Schritt nach vorn, um ihr zuvorzukommen, aber das wollte Finja auf keinen Fall zulassen. Sie sprang ebenfalls vor und kümmerte sich nicht um das empörte Keuchen der Frau, die sie dabei anrempelte. Keine Zeit für Höflichkeiten, denn Lian streckte schon die Hand nach dem Strauß aus. Auch Finja packte zu und rammte gleichzeitig mit der Schulter Lian zur Seite weg. Der Rempler war nur halb beabsichtigt, Lian stand nun mal so, dass sie anders nicht schnell an den Strauß kam.


    Der Leidtragende dieser Aktion war der Blumenstrauß. Lian kam ins Straucheln und musste rasch einen Schritt zur Seite machen, um nicht hinzufallen, ließ aber nicht los. Auch Finja hielt die Hand fest um die Blumen gekrallt, und so kam es, wie es kommen musste: Der Strauß ging mitten entzwei.


    Finja behielt nur ein paar zerzauste und abgeknickte Blumen in der Hand zurück, das Holzherz, von beiden Seiten des Haltes beraubt, klapperte auf den Boden. Eine Ecke splitterte ab und schlitterte unters Regal. Da war unter Garantie nichts mehr zu retten, die Blumen und das Herz waren hin.


    Für einen Moment war Finja wie erstarrt, dann kochte die Wut über. „Was soll das?“ fauchte sie Lian an. „Warum reißt du mir die Blumen aus der Hand? Jetzt hast du alles kaputtgemacht!“ „Ich?“ rief Lian empört. „Ich hatte sie zuerst! Du wolltest sie mir wegnehmen!“ „Stimmt doch gar nicht!“ „Doch, so war’s!“ „Ich hab sie mir Mittwoch schon ausgesucht!“ „Und? Stand aber kein Schild dran, dass sie für sich reserviert sind!“


    So hätte es ewig weitergehen können, falls die Sache nicht vorher in eine handfeste Keilerei ausgeartet wäre. Bevor die beiden Streithähne noch auf die Idee kommen konnten, bis jetzt noch unbeteiligte Blumensträuße einzusetzen, um sich gegenseitig zu vertrimmen, ging jedoch eine Verkäuferin dazwischen. Die war wohl auch ohne Streitereien im Laden genug gestresst und machte kurzen Prozess. Sie schob Finja und Lian auseinander und entschied, dass jeder von ihnen die Hälfte des Schadens bezahlen musste. Natürlich protestierte Finja, denn wenn Lian nicht versucht hätte, ihr den Strauß wegzuschnappen, dann wäre das alles nicht passiert. Doch die Verkäuferin wollte nichts davon hören. „Jeder sieben Euro!“ wiederholte sie. „Keine Diskussion!“


    Und dabei blieb sie. Ob sie wollten oder nicht, Finja und Lian mussten je sieben Euro für den kaputten Blumenstrauß bezahlen. Außerdem mussten sie die Bruchstücke des Holzherzens einsammeln, und die Blumen, die während des Streits auf den Boden gefallen und zum Teil zertreten worden waren.


    Nachdem sie alles, was von dem einst hübschen Blumenstrauß übrig geblieben war, dem Mülleimer überantwortet hatten, wurden sie des Ladens verwiesen. Die Verkäuferin begleitete sie bis zur Tür, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich gingen, und blieb stehen, bis sie auch aus dem Gedränge zwischen den Auslagen draußen heraus waren.


    Ohne Lian noch eines Blickes zu würdigen, stampfte Finja zu ihrem Fahrrad. Nichts wie weg hier! Sie spürte die Blicke der Leute im Rücken, bestimmt tuschelten sie und würden zu Hause allen erzählen, was im Laden passiert war.


    Die Lust zum Einkaufen war ihr vergangen. Selbst wenn sie nicht rausgeworfen worden wäre, hätte sie nicht nach etwas anderem Ausschau gehalten. Sie wäre doch von allen angestarrt worden, und genug Geld für etwas Hübsches hatte sie jetzt auch nicht mehr. Für die neun Euro und zwanzig Cent, die sie jetzt noch in der Tasche hatte, hätte sie sich nur ein kleines Sträußchen zusammenstellen lassen können, ein paar von den preiswerten Blumen mit etwas Grün und farbigem Papier drum. Falls sie überhaupt noch mal reingelassen worden wäre, hätte die Verkäuferin sich für sie auch bestimmt keine Mühe mehr gegeben.


    Finja kettete ihr Fahrrad los, saß auf und radelte davon. Wütend trat sie in die Pedale, um möglichst schnell Abstand zu gewinnen. Nur weg vom Ort ihrer Schmach!


    Doch schon an der nächste Ecke, gerade eben außer Sichtweite des Blumenladens, zog sie die Bremsgriffe. Wohin wollte sie überhaupt? Nach Hause? Und dann morgen ohne etwas in der Hand dastehen? War es nicht besser, zu schauen, ob sie für das, was sie noch an Geld hatte, nicht doch noch etwas fand, das ihrer Mutter gefallen würde? Aber was?


    Sie stellte das Rad ab, lehnte sich mit der Kehrseite ans obere Rahmenrohr und dachte nach. Was bekam man für neun Euro und zwanzig Cent? In der Buchhandlung gab es Taschenbücher bestimmt schon für sechs oder sieben Euro, oder irgendwelche Sonderausgaben, aber ihre Mutter las selten, und wenn, dann Ebooks. Die konnte man schwerlich in buntes Geschenkpapier einwickeln lassen und nach Hause tragen. Ein Gutschein? Aber dafür würde sie sich vermutlich selbst bei einem Onlineshop anmelden müssen, das würde mit ihrem Taschengeldkonto nicht funktionieren. Also kein Buch, in welcher Form auch immer.


    Finja ließ den Blick weiterschweifen. Von ihrem Standort aus konnte sie einen Teil der Fußgängerzone überblicken, vielleicht klingelte ja bei irgendeinem Geschäft was. Die Parfümerie? Die warb mit einem großen Aufsteller für Sonderangebote zum Muttertag, aber sehr weit kam man da mit etwas mehr als neun Euro wohl trotzdem nicht. Außerdem hatte Finja sich nie darum gekümmert, welche Parfums ihre Mutter benutzte, die Chance, das falsche zu erwischen, lag bei nahezu hundert Prozent.


    Den Musikgeschmack ihrer Mutter kannte Finja dagegen, deshalb wäre eine CD schon eine gute Idee gewesen, aber auch das scheiterte an ihrem engen Budget. Der Elektronikmarkt hatte eine riesige Auswahl an CDs für neun Euro oder weniger, das wusste Finja, aber das, was ihrer Mutter gefallen würde, war vermutlich doch teurer. Trotzdem, ein Versuch konnte nicht schaden, vielleicht war ja gerade was im Angebot.


    Als sie an den Schaufenstern des Kaufhauses an der Ecke vorbeikam, zuckte ihr jedoch eine andere Idee durch den Kopf. Sie blieb stehen, so plötzlich, dass der Hund, der gerade ihre Wade beschnüffeln wollte, sich den Kopf stieß. Das Kaufhaus war voll und ganz auf Frühling eingestellt und präsentierte nicht nur die passende Mode, sondern hinter einem Fenster auch Klappstühle und Picknickkoffer. Warum nicht ihre Mutter zu einem Picknick einladen? Sie könnte einen Kuchen backen, und dann fuhr man am Nachmittag irgendwo ins Grüne, das wäre doch was! Da würde ihre Mutter sich bestimmt drüber freuen.


    Entschlossen machte sie kehrt, sprang am Rand der Fußgängerzone in den Sattel und sauste die Straße entlang. Bei Blumen Tigge war immer noch die Hölle los, aber das interessierte sie jetzt nicht mehr. Sie ließ den Laden links liegen, bog an der nächsten Kreuzung ab und hielt dabei Ausschau nach Lian. Ein bisschen schuldig fühlte sie sich nämlich doch, sie hatte sich den Blumenstrauß ja tatsächlich nicht zurücklegen lassen, und die sieben Euro, die er hatte zahlen müssen, hatten bestimmt auch in sein Budget ein gewaltiges Loch gerissen. Vielleicht stand er jetzt vor dem gleichen Problem wie sie und hatte nicht mehr genug Geld übrig, um seiner Mutter etwas zum Muttertag zu kaufen, das ihr auch gefiel. Deshalb wollte sie ihn zumindest an ihrer Idee teilhaben lassen, und wenn er nicht backen konnte, dann würde sie ihm anbieten, ihm zu helfen.


    Ihn zu finden war nicht schwer, denn zu Fuß konnte er so viel Abstand nicht gewonnen haben. In welche Richtung er vom Blumenladen aus gelaufen war, hatte sie gerade noch mitgekriegt, und den Rest konnte sie sich denken. Entweder hatte er aufgeben und wollte den nächsten Bus nach Hause nehmen, dann würde sie ihn spätestens an der Haltestelle einholen, oder er wollte doch noch mal gucken, ob er etwas fand, dann gab es nicht allzu viel Auswahl. In diese Richtung lagen nur eine Konditorei, die heute natürlich zahlreiche Torten mit muttertagsgerechter Beschriftung im Schaufenster hatte, und der kleine Laden einer ältlichen, etwas verschrobenen Frau, die ein buntes Sammelsurium an Zierrat verkaufte. Beide lagen am Weg, und Finja genügte ein Blick durch die Schaufenster, um zu sehen, dass Lian dort nicht war.


    Schließlich holte sie ihn kurz vor der Bushaltestelle ein. Als sie ihn entdeckte, begann er zu rennen, um den Bus noch zu kriegen, der eigentlich schon hätte weg sein müssen, aber einige Minuten Verspätung hatte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu fahren, so schnell sie konnte, ihn zu überholen und ihm den Weg zu versperren.


    Natürlich wollte er an ihr vorbei, aber sie erwischte ihn am Arm und hielt ihn fest. Fast wäre sie dabei hingefallen, denn mit dem Fahrrad zwischen den Beinen hatte sie keinen allzu sicheren Stand. Lian machte eine Bewegung, um ihre Hand abzuschütteln, blieb aber stehen, wohl auch, weil der Bus gerade anfuhr. „Danke!“ fauchte er. „Wie oft willst du mir heute eigentlich noch auf den Sack gehen?“ „Tschuldige.“ keuchte Finja, noch außer Atem von ihrem Sprint mit dem Rad. „Aber den hättest du eh nicht mehr gekriegt. Außerdem muss ich mit dir reden.“


    Lian schien keine große Lust zu haben, sich anzuhören, was sie zu sagen hatte, und wenn Finja ehrlich war, dann konnte sie ihm das nicht verdenken. Aber er blieb stehen und wartete, bis ihr Atem sich weit genug beruhigt hatte, dass sie ihm ihre Idee vortragen konnte. Wohin hätte er auch gehen sollen? Den Bus hatte er ja gerade verpasst, und der nächste würde erst in einer guten Viertelstunde kommen. Ob er jetzt gelangweilt am Haltestellenschild lehnte, ziellos durch die Straßen schlenderte oder Finja zuhörte, kam also aufs gleiche raus.


    „Sag mal, glaubst du, deine Mama und meine können sich gut leiden?“ fragte Finja. Vielleicht war die Idee bescheuert, aber wenn Lian ihren Vorschlag mit dem Picknick übernehmen wollte, und wenn sie ihm vielleicht sogar beim Backen half, konnte man sich dann nicht auch gleich zum Picknick treffen?


    Lian verstand erst mal gar nichts. Er starrte Finja an, als überlegte er, wie jemand so verantwortungslos sein konnte, sie frei rumlaufen zu lassen. Völlig durchgeknallt! sagte sein Blick. Wie sollte er auch verstehen, warum Finja das wissen wollte?


    „Naja, ich hab mir überlegt, dass ich vielleicht ein Picknick für meine Mama machen könnte.“ erklärte Finja zögernd. Lians abweisende Haltung machte es ihr nicht leichter, sie fühlte sich unsicher und hatte Angst, dass er sie am Ende einfach auslachen würde. „Um was zu kaufen, hab ich jetzt nicht mehr genug Geld. Ich würde einen Kuchen backen, und dann halt eine Decke einpacken und was zu trinken und so, du weißt schon...“ Lian nickte. „Und? Warum erzählst du mir das?“ Es klang immer noch wenig interessiert, aber schon nicht mehr ganz so abweisend wie eben. „Ich dachte...“ Finja zögerte. „Ich dachte, vielleicht könntest du auch so was machen. Oder hast du noch genug Geld über? Und wenn du auch ein Picknick machen willst, dann könnten wir es doch vielleicht zusammen machen.“



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  • Damit erwischte sie Lian eindeutig auf dem falschen Fuß.Sie sah, wie er überlegte, wie er erst mal verkraften musste, dass sie nach demZoff im Blumenladen hinter ihm hergefahren war, um ihre Idee, wie sie denMuttertag retten konnte, mit ihm zu teilen.
    Schließlich zuckte er mit den Schultern. „Von mir aus.Ich hätte noch zehn Euro, da krieg ich eh nichts Passendes für.“ Finja atmeteauf. Die erste Hürde war genommen. „Meinst du denn, das klappt mit unserenMüttern?“ „Glaub schon.“ meinte Lian nach kurzem Nachdenken. „Bei derWeihnachtsfeier haben sie jedenfalls ganz schön lange zusammengesessen.“
    Damit war es beschlossene Sache, und Finja überlegte zusammenmit Lian, wie sie das gemeinsame Picknick angehen sollten. Ganz ohne Hilfewürde es nicht gehen, aber beide waren zuversichtlich, dass ihre Väter sieunterstützen würden. Es ging hauptsächlich darum, die Mütter zum Ort desPicknicks zu locken, ohne dass sie ahnten, was sie erwartete, das konnten dieVäter sicherlich besser bewerkstelligen.
    Sie verabredeten, sich am Nachmittag bei Finja zutreffen, um alles vorzubereiten. Bei ihr würden sie ungestört sein, denn FinjasEltern waren bei Freunden zum Kaffee eingeladen und würden erst am Abendzurückkommen. Außerdem konnten sie auf die Backbücher von Finjas Mutterzurückgreifen, und natürlich auf die Küchenausstattung selbst. Die Küche beiLian zu Hause war da nicht so gut bestückt, denn Lians Eltern buken zwar Brotim Brotbackautomaten, sonst aber so gut wie gar nicht.
    Bis Lian kam, hatte Finja genug Zeit, schon mal nacheinem passenden Rezept zu stöbern. Ihre Mutter war hinreichend beschäftigt, unddie Küche war ja auch keine verbotene Zone, deshalb fiel es Finja nicht schwer,unbemerkt zwei Backbücher mit in ihr Zimmer zu nehmen.
    Die Rezepte, die in Frage kamen, mussten drei Bedingungenerfüllen: Es durfte nichts drin sein, was Finja, Lian oder einer der Elternnicht mochte, es musste einigermaßen einfach sein, weil Finja so gut auch nichtbacken konnte, und der Kuchen musste sich auf dem Fahrrad transportierenlassen. Finja und Lian hatten geplant, dass ihre Väter die Mütter mit dem Automitnehmen würden, aber sie selbst waren auf ihre Räder angewiesen. Sie hattensich als Ziel die Burgruine außerhalb der Stadt ausgeguckt, wo man sehr schönam Fuß des zur Hälfte abgetragenen Turms sitzen konnte, und da fuhr leider keinBus hin.
    Lian, der die heimische Küche nur von innen sah, wenn ersich was zu trinken aus dem Kühlschrank holte, war dankbar, dass Finja einwenig die Führung übernahm. Als er kam, hatte Finja drei Rezepte ausgewählt,die ihrer Meinung nach in Frage kamen, und am Ende einigten sie sich auf einenObstkuchen mit Beeren und Quark. Dafür würden sie nur den Boden backen müssen,der Rest musste nur zusammengerührt und mit Gelatine versteift werden.
    Die meisten Zutaten hatte Finja noch im Haus, nur für dieBeeren und den Quark mussten sie kurz in den Supermarkt. Die Beeren warenleider nicht frisch, sondern aus der Tiefkühlabteilung, aber zum Selbstpflückenwar es leider noch etwas zu früh im Jahr.
    Mit der Gelatine taten sie sich etwas schwer, das hatteFinja bislang nur einmal ausprobiert, aber mit der Anleitung auf der Packungklappte es doch einigermaßen gut. Während der Boden im Ofen buk, bereitetenFinja und Lian die Fruchtmasse zu, und nach einer knappen Stunde stand derKuchen im Kühlschrank, damit die Füllung fest wurde. Das würde eine Weiledauern, ungefähr zwei bis drei Stunden, wenn man dem Rezept glauben durfte, unddanach musste noch die Quarkmasse aufgestrichen werden.
    Eigentlich war bis dahin Lians Anwesenheit nicht nötig,zu tun gab es ja so lange nichts mehr, aber irgendwie hatte Finja auch keineLust, ihn nach Hause zu schicken. Stattdessen schlug sie vor, in der Zeit zurBurgruine zu radeln und sich schon mal den besten Platz für das Picknick zusuchen. Außerdem würden sie dann wissen, wie lange sie mit den Rädern für dieStrecke brauchten, und konnten sich ausrechnen, wann sie am nächsten Tag würdenlosfahren müssen.

    ***


    Am Sonntagmorgen deckte Finja den Frühstückstisch, wiesie es jedes Jahr am Muttertag und auch am Geburtstag ihrer Mutter zu tunpflegte, tat aber ansonsten so, als ob es ein ganz normaler Sonntag wäre. Dasfiel ihr nicht leicht, einerseits, weil sie aufgeregt war beim Gedanken an denNachmittag, und zum anderen, weil sie Verwunderung und vielleicht sogar einkleines bisschen Enttäuschung bei ihrer Mutter spürte. Ihre Mutter sah einGeschenk zum Muttertag zwar nicht als etwas an, das ihr zustand, aber sie hattedoch schon lange jedes Jahr etwas bekommen. Schon im Kindergarten hatte Finjaihr ein Bild gemalt, später in den ersten beiden Jahren in der Grundschule dannetwas gebastelt, und zuletzt hatte sie neben viel Liebe eben auch etwas vonihrem Taschengeld in ihre Gaben zum Muttertag gesteckt.
    Finja war froh, als sie dieser merkwürdigen Atmosphäre amMittag entfliehen konnte. Offiziell war sie mit einer Freundin verabredet, dereinzigen, die sie auch sonntags besuchen durfte, weil ihre Eltern genauwussten, dass die Eltern der Freundin da wirklich nichts gegen hatten. InWahrheit holte sie den Kuchen bei einer Nachbarin ab, die ihn für sieaufbewahrt hatte, damit Finjas Mutter ihn nicht fand, und machte sich auf denWeg zum Treffpunkt, den sie mit Lian verabredet hatte. Die Springform mit demKuchen steckte in einem Karton, der ließ sich besser auf dem Gepäckträgerbefestigen als die Form allein und schützte den Kuchen vor Verschmutzung. Dashätte gerade noch gefehlt, dass ein Vogel auf den Kuchen kackte! Außerdemverhinderte Finja so, dass ihre Mutter den Kuchen vorzeitig zu sehen kam, fallssie ihr durchs Fenster nachschaute. Wenn ihre Mutter sich über den Kartonwunderte, dann würde ihr Vater nur mit den Schultern zucken, und Finja selbstwar außer Reichweite, sobald sie einmal auf dem Rad saß und losstrampelte. Ineinem Rucksack hatte sie Teller, Becher und Kuchengabeln dabei, Lian würde dieGetränke und eine große Wolldecke mitbringen.
    Sie traf Lian kurz vor dem Stadtrand. Der Treffpunkt warso gewählt, dass sie den größeren Teil des Wegs zusammen radeln konnten, ohnedass deswegen einer von beiden einen nennenswerten Umweg hätte machen müssen.
    „Hat alles geklappt?“ erkundigte Lian sich, während sienebeneinander die wenig befahrene Straße entlangradelten. Finja nickte. „Undbei dir?“ „Auch. Hat deine Mutter was gemerkt?“ Finja schüttelte den Kopf. Sieglaubte nicht, dass ihre Mutter etwas gewittert hatte. Bis jetzt klappte alleswie am Schnürchen, auch das Wetter spielte mit, sie konnten echt zufriedensein.
    Bis zur Burg war es ein ganzes Stück zu radeln, und auf denletzten paarhundert Metern schoben Finja und Lian die Räder lieber. Da ging eseinerseits ziemlich steil bergauf, weil die Burgruine oben auf einem Hügelstand, und andererseits war der Weg auch voller Unebenheiten und Schlaglöcher.Finja befürchtete, dass der Kuchen nur noch Matsche sein würde, wenn sie da durchrumpelte.
    Sie hatten die Zeit aber gut bemessen und waren frühgenug dran, um noch alles vorzubereiten, ehe die Eltern kamen. Sie hatten mitihren Vätern verabredet, dass die erst mal einen Spaziergang mit den Mütternmachen würden, ehe sie sie zur Burgruine lotsten. Sonst wüssten die Mütterwahrscheinlich sofort, dass an der Burg eine Überraschung auf sie wartete, unddann wäre es irgendwie gar keine Überraschung mehr gewesen.
    Finja stellte den Karton mit dem Kuchen in den Schatten,damit die Sonne die Beerenfüllung und den Quark nicht zerlaufen ließ. Sie hatteauch daran gedacht, noch zwei Kühlakkus vorzubereiten, der Kuchen würde diehalbe Stunde, die es wohl noch dauern würde, bis die Eltern kamen, gutüberstehen. Auch die Limonade, die Lian mitgebracht hatte, fand noch Platz imKarton und würde sich nicht unnötig aufheizen.
    An einer Stelle, die einigermaßen eben und mit weichemGras bewachsen war, breiteten Finja und Lian die Decke aus und deckten dennicht vorhandenen Tisch. Die Stelle war gut gewählt, man hatte einen schönenBlick ins Tal, war aber weit genug weg von anderen Ausflüglern, die ebenfallspicknicken wollten und teils sogar Grills mitgebracht hatten.

    ***


    Die Überraschung war gelungen. Finjas Mutter fiel genausoaus allen Wolken wie Lians, als sie Finja und Lian sah. Die beiden Elternpaarewaren sich schon unterwegs begegnet, aber das hatten die Mütter für reinenZufall gehalten. Geplant gewesen war die vorzeitige Begegnung ja tatsächlichnicht, aber natürlich hatte man damit rechnen müssen. Weil man sich kannte undschätzte, und weil man offensichtlich das gleiche Ziel hatte, war man ebenzusammen weitergegangen, und die beiden Väter hatten sich wahrscheinlich nurmit viel Mühe ein breites Grinsen verkneifen können.
    Finja und Lian hatten die Eltern umgekehrt schon frühergesehen und Zeit genug gehabt, den Kuchen auszupacken. Jetzt stand er da inseiner ganzen Pracht, am Vorabend von Finja und Lian noch mit einem aus Beerengelegten Herz verziert, und wartete darauf, verspeist zu werden.
    Finja verteilte den Kuchen, nachdem Lian ihnangeschnitten hatte, nahm den ersten Bissen und fand, dass der Kuchen richtiggut geworden war. Dass es auch den Eltern schmeckte, und dass es ihnen gefiel,auf der Wiese vor der Burgruine zu sitzen, Kuchen zu essen und sich dieFrühlingsluft um die Nase wehen zu lassen, war nicht zu übersehen, da brauchtees gar nicht die lobenden Worte, mit denen die Kinder bedacht wurden. Finjawechselte einen Blick mit Lian, der lächelte und ihr leicht zunickte. Ja,zusammen hatten sie die schönste Muttertagsüberraschung hinbekommen, die sieihren Müttern jemals gemacht hatten.