Owen Sheers - I saw a man

  • Klappentext
    Die Last von Geheimnissen


    Es war an einem Samstagnachmittag im Juni, als sich ihrer aller Leben komplett veränderte: schlagartig, nur wenige Minuten, nachdem Michael Turner das Haus der Nelsons durch die Hintertür betreten hatte. In der Stille wirkte es, als wäre niemand daheim.


    Erster Satz
    Der Vorfall, der ihr aller Leben veränderte, ereignete sich an einem Samstagnachmittag im Juni, kurz nachdem Michael Turner - in der Annahme, es sei niemand da - das Haus der Nelsons durch die Hintertür betreten hatte.


    Meinung
    Nach dem Tod seiner Frau lebt Michael Turner recht zurückgezogen. Seine einzigen sozialen Kontakte sind seine Nachbarn, Joshua und Samantha Nelson plus Töchter. Schnell, fast schon zu schnell, wird Michael mehr oder weniger Mitglied dieser Familie. Zumindest scheint er es so zu sehen.
    Als er an einem Nachmittag zu ihnen geht um sich seinen Schraubenzieher zurück zu holen, den er Joshua geliehen hat, trifft er sie nicht an. Allerdings steht die Hintertür offen und so spaziert Michael nach ein paar mal rufen hinein und macht sich auf die Suche nach besagtem Gegenstand.


    Würde ich bei meinen Nachbarn ins Haus marschieren wenn sie nicht da sind?


    Nicht, wenn nicht tatsächlich ein Notfall vorliegen würde. Auf der anderen Seite würde ich nämlich auch nicht wollen, dass jemand in meiner Abwesenheit durch mein Haus wandert - egal wie gut ich ihn/sie kenne.


    Und während Michael so durch das Haus wandert, die ein oder anderen Gedanken spinnt und Flashbacks durchlebt, passiert etwas, dass alles verändert. Wirklich alles.


    Owen Sheers macht es genau richtig. Bis zur Mitte des Buches bleibt der Leser völlig im Unklaren, was sich überhaupt ereignen wird. Was ist wohl vorgefallen? Hat es etwas mit Michael zu tun? Liegt es an den Nelsons? Mit diesem Gedanken flog ich geradewegs durch die Seiten. Immer wieder angepeitscht von dem "Ja was denn jetzt?"-Gedanken. Somit bleibt die Spannung extrem lang erhalten.


    Zwischendrin erfährt man unglaublich viel über Michaels Leben vor den Nelsons. Wie seine Frau gestorben ist, warum er sich so zurückgezogen hat und wie das mit den Nelsons ist.


    Ich hatte mir etwas komplett anderes unter diesem Buch vorgestellt. Ich kann nicht mal sagen was genau - aber nicht das, was es im Endeffekt ist.
    Bei "I saw a man" handelt es sich um ein Buch, dass das Wort 'Wahrheit' ganz genau beleuchtet. Was passiert, wenn man die Wahrheit sagt? Und was, wenn nicht? Wie wirken sich Lügen und Geheimnisse auf einen selbst und auch das Leben anderer aus? Wollen wir wirklich immer die Wahrheit wissen oder gibt es Momente, in denen wir hinterher denken "Hätte ich das doch bloß nicht gewusst!" ?


    Fazit
    Ein Buch, das mal etwas ganz anderes ist. Kein kurzweiliger Roman, kein Thriller, kein Horror, keine Liebesschnulze. Ein Buch bei dem wir uns selbst fragen: Wie würde ich reagieren? Schützt eine Lüge vielleicht nicht nur mich, sondern auch jemand anderen? Und was passiert, wenn ich die Wahrheit sage?


    Eine Leseempfehlung geht an alle, die mal etwas völlig anderes lesen und in sich selbst hineinhorchen wollen.


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  • Verlagstext

    Nach dem tragischen Tod seiner Frau Caroline, die als Journalistin bei einem Auslandsdreh in Afghanistan ums Leben gekommen ist, erträgt Michael es nicht länger im gemeinsamen Heim in Wales. In dem Versuch, ein neues Leben zu beginnen, zieht er nach London, wo er auf die Nelsons trifft: Josh, Samantha und ihre zwei Töchter wohnen im Haus nebenan, und aus einer Zufallsbekanntschaft wird schnell – allzu schnell? – eine intensive Freundschaft. Michael geht bei den Nelsons wie selbstverständlich ein und aus, bis er eines Samstagnachmittags ihre Hintertür halb offen stehend vorfindet. In dem Gefühl, dass etwas nicht stimmt, betritt er das augenscheinlich leere Haus ... und setzt damit eine Folge von Ereignissen in Gang, die ihrer aller Leben schlagartig und auf immer verändern wird. - Ein tiefgreifender, packender Roman über Verlust, Schuld und die heimtückische Natur von Geheimnissen.


    Der Autor

    Owen Sheers, geboren 1974 in Fidschi, lebt nach einer Zeit in London heute wieder in Wales, wo er auch aufgewachsen ist. Vielseitig talentiert, lässt er sich nur schwer auf eine Form festlegen - zu seinen publizierten Werken zählen Dramen, Libretti, Gedichte und ein Sachbuch. Der Debütroman "Resistance" (2007) wurde in zehn Sprachen übersetzt und mit Michael Sheen in der Hauptrolle verfilmt. Sheers wurde u.a. mit dem Somerset Maugham Award, der Hay Festival Poetry Medal und dem Amnesty International Freedom of Expression Award ausgezeichnet. "I Saw a Man" ist sein zweiter Roman und für den französischen Prix Femina étranger nominiert.


    Inhalt

    Michael Turner wurde als Autor bekannt mit seinem Buch über zwei aus der Dominikanischen Republik eingewanderte Jungs und ihr Viertel Washington Heights/New York. Seine Frau Caroline ist Kriegsreporterin für einen Londoner Fernsehsender. Als „eingebettete“ Journalistin mit den Kriegsschauplätzen des 20. und 21. Jahrhundert vertraut, lebt Caroline für das Tagesgeschäft. Zwei Partner wie Feuer und Wasser ziehen gemeinsam in ein beschauliches Häuschen in Wales: Caroline, die ehrgeizige Reporterin, „wie ein Komet, der nur einmal eine Nacht erhellen würde“ (S. 16) und der ruhige Michael, der sorgfältig recherchiert und sich um professionelle Distanz bemüht.


    Michael findet an einem drückend heißen Londoner Sommertag die Hintertür des Nachbarhauses unverschlossen vor. Ist bei den Nelsons eingebrochen worden? Hat Michael etwa psychische Probleme? Seine Ehe mit Caroline und das Haus in Wales sind längst Vergangenheit. Caroline ist bei einer Reportage ums Leben gekommen und in Michaels Leben gibt es seitdem zu viele Bereiche, die er nicht mehr betritt, weil sie ihn zu stark an Caroline erinnern. „Er hatte nicht nur [Caroline] verloren, sondern auch den Mann, zu dem sie ihn gemacht hatte.“ (Seite 56) Zu gemeinsamen Freunden hält der Witwer Distanz, von Heilung kann für Michael noch lange keine Rede sein. Obwohl Michael von einer Trauerberaterin unterstützt wird, hat er Carolines Tod noch lange nicht verarbeitet. Es wäre nicht verwunderlich, wenn er therapeutische Hilfe bräuchte. Die Handlung der Gegenwart treibt vorwärts, die Rückblende bremst das Erzähltempo gleichzeitig aus. Wie in einem Krimi möchte man wissen, was bei den Nelsons passiert ist, benötigt dazu jedoch die Vorgeschichte. Je weiter man in die Beziehung des Paars und der befreundeten Nachbarn vordringt, umso unheimlicher und bedrohlicher wirkt die noch immer offen stehende Hintertür der Nelsons.


    Rückblenden entfalten akribisch die Vorgeschichte. Owen Sheers taucht tief in Michaels Selbstverständnis als Autor ein, dessen New Yorker Stadtviertel sich draußen gentrifiziert, noch während er drinnen als Chronist seine Reportage über die Einwanderer Nico und Raoul schreibt. Michaels Rückkehr nach London erfolgt auch aus seinem Eingeständnis, dass sich der Erfolg seines ersten Buches kaum wiederholen lassen wird. Caroline zieht nur formal nach England, als Zugeständnis für ihre Ehe, sie ist weiter in aller Welt unterwegs. Die gemeinsame Berufung zum Schreiben gleicht die gegensätzlichen Temperamente der Partner nicht aus, wie man vermuten könnte, sondern polarisiert die Beziehung.


    Seine Nachbarn lernt Michael kennen, weil Carolines Kollege ihm seine Londoner Wohnung in Hampstead Heath untervermietet. Es entsteht „die Illusion einer langjährigen Freundschaft" (S. 74) Michael wird zum brüderlichen Freund von Samantha und Josh, ihren Töchtern eine Art Patenonkel. Die Dreierbeziehung der Erwachsenen wirkt fragil; denn der Banker Josh trinkt zu viel und in die Ehe der Nelsons haben sich scharfe Töne eingeschlichen. Samantha und Michael verbindet unbewusst, dass beide auf der Flucht vor der Vergangenheit sind. Obwohl die Männer nicht sehr gut zusammenpassen, joggen sie von nun an gemeinsam und Michael hält sich immer öfter im Nachbarhaus auf. Mit der Entfaltung des Psychogramms wächst die Zahl möglicher Gründe, warum diese Dreierbeziehung in einer Katastrophe enden könnte.


    Fazit

    Die Ereignisse werden manchen Leser schockiert nach Luft schnappen lassen, mancher wird das Buch deshalb ablehnen. Doch die schockierende Vorgeschichte wird von Owen Sheers außerordentlich brillant beschrieben. Seine Beobachtungen des Beziehungsgeflechts bestehen aus Bild, Ton und Geruch, wenn er die befreundeten Männer z. B. in ihrer Körperlichkeit als Sportler beschreibt. Neben den politischen Ereignissen im Hintergrund ist das Hauptthema Trauer, in der besonderen Form, in der Männer trauern. Wie in einem komplizierten Uhrwerk greifen die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach dem Überleben Hinterbliebener nach einem Todesfall wie Rädchen ineinander.


    Wenn ich einen Literaturpreis zu vergeben hätte, stände Owen Sheers oben auf meiner Liste und auch auf die berühmte einsame Insel würde ich das Buch wegen seiner brillanten Beschreibungen mitnehmen. Lesern von literarisch anspruchsvollen Psychothrillern empfehle ich es mit Überzeugung.


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