Edward Boyd & Roger Parkes - Der dunkle Engel / The Dark Number

  • Der Autor (nach Wikipedia und andernorts): Edward Boyd (geboren am 11. Mai 1916 in Stevenston‚ Ayrshire, gestorben am 17. Dezember 1989 in Glasgow) war ein schottischer Krimiautor, der fürs Theater, Radio und das Fernsehen schrieb. Er entwickelte und schrieb viele Serien für die BBC in Schottland und Granada Television, unter anderem die Polizeiserie „The Odd Man“ (1960 bis 1963), die kurzlebige, surreale Detektivserie „The Corridor People“ (1966) und die Krimiserie „The View from Daniel Pike“ (1971 bis 1973) mit einem Private Eye aus Glasgow als Hauptfigur. 1967 verfasste er das Drehbuch zu Peter Yates klassischem Caper-Movie „Robbery“ (dt. Millionen-Raub) mit Stanley Baker. Der Film im Gefolge des legendären englischen Postzugüberfalls hievte Regisseur Yates gewissermaßen auf den Regiestuhl beim Steve-McQueen-Klassiker „Bullitt“. Doch Boyds einflussreichstes Arbeitsgebiet, auf dem er allseits anerkannte Meisterschaft errang, waren Hörfunkserien, die „schlichtweg zu den Höhepunkten des gesamten Genres Kriminalliteratur zählen. Wie jedes gute Kunstwerk kann man sie wieder und wieder hören, wird in ihrer Dichte immer wieder etwas Neues finden.“ Was Chandler für den Kriminalroman, ist Boyd für das Kriminalhörspiel. (Martin Compart in seinem Wordpress-Blog und paraphrasiert nach dem Dumont-Reader „Noir 2000“). 1971 wurde Boyd mit dem Preis der "Writers' Guild" für die beste Radioserie ausgezeichnet. 1975 erhielt er für seinen Roman „The Dark Number“ den International Award des Grand Prix de Littérature Policière.


    In deutscher Hörfassung liegen diese Krimihörspiel-Dreiteiler vor: Fünf Finger machen eine Hand (1969, SWF, Regie: Heiner Schmidt), Die schwarze Kerze (1970, WDR, Regie: Gustav Burmester), Kein Mann steigt zweimal in denselben Fluss (1971, SWF/HR/SFB Regie: Heiner Schmidt), Schwarz wird stets gemalt der Teufel (1972, SWF, Regie: Heiner Schmidt), Dachse im Eulenlicht oder Die Suche des Peter Talion (1975, SWF, Regie: Heiner Schmidt), Bullivants Match oder Brachvogel im Herbst (1986, SWF, Regie: Peter Michel Ladiges), Spanische Schlösser (1989, SWF, Regie: Bernd Lau).


    1973 ließ Boyd sein Radio-Serial "The same river twice" (dt. „Kein Mann steigt zweimal in denselben Fluss) von Roger Parkes zum Roman umschreiben (es gibt übrigens auch eine TV-Fassung unter dem Titel "The Dark Number" von 1966 mit Patrick Allen). „The Dark Number“ (dt. Der dunkle Engel) ist leider Boyds einziger Roman. Allerdings liegt noch ein Tie-In zur Fernsehserie „The View from Daniel Pike“ vor, für das er zusammen mit dem schottischen Kriminalschriftsteller Bill Knox verantwortlich zeichnet.


    „The Dark Number“, 1973 im Original veröffentlicht, wurde in der deutschen Übersetzung von Tony Westermayr 1975 als roter Goldmann KRIMI Nr. 4430 unter dem Titel „Der dunkle Engel“ herausgegeben. Diese Ausgabe umfasst 156 Seiten.


    Inhalt (Klappentext): Vor fünf Jahren verließ der Schriftsteller Johnny Maxen seine Frau Julia und seine Heimatstadt Glasgow. Jetzt kehrt er zurück, um sich von Julia scheiden zu lassen. Doch in ihrer Wohnung findet er eine unbekannte Tote. Julia dagegen ist spurlos verschwunden …


    Man merkt diesem Klassebuch an, dass sein Autor ein erprobter Meister geschliffener Dialoge ist – und gewissermaßen auch, dass der Roman auf einem Hörspiel basiert: Es wimmelt vor lauter fiesen Schlagabtäuschen zwischen äußerst treffend charakterisierten Figuren. Dabei sind sämtliche Dialoge und Wendungen absolut stimmig. Kein einziges Mal schlägt sich der Leser vor die Stirn, weil die Figuren dämliche Dinge sagen oder tun, nur um einem lahmen Autor bestimmte Krimiklischees zu ermöglichen, etwa die unnötige Verstocktheit unschuldiger Personen bei Polizeiverhören, die die Gesetzeshüter nur immer stärker an die Schuld der Verdächtigen glauben lassen. Boyds authentische Dialoge sorgen für ein sehr überraschendes, lebendiges und frisches Buch, das gerade in vermeintlichen Klischeesituationen aufblüht und dem Leser eine lange Nase dreht. Alles,was passiert, ereignet sich ohne Umschweife. Alles ist durchdrungen von großer Düsternis und Hoffnungslosigkeit, fast schon von Weltekel. Jede schöne Fassade verbirgt ein marodes Innere. Eine triste Welt ohne wahre Fröhlichkeit, höchstens mit Betäubung zu ertragen. Ein Vorankommen ist kaum möglich. Entweder man schickt sich in die Umstände – oder entflieht.


    Die Suche nach verschwundenen Personen, die die Untiefen dysfunktionaler Familien bloßlegt, ist aber auch eine fast unzerstörbar gute Grundlage für hartgesottene Spannungsgeschichten alter Schule, die in „Der dunkle Engel“ durch die äußerst fragwürdige Hauptfigur richtiggehend vergoldet wird. Nach und nach schält sich heraus (keine Sorge, da verrate ich noch nicht zu viel), dass mit dem vermeintlichen Sympathieträger Johnny Maxen nicht alles stimmen kann. Da er lange Zeit die einzige Gewährsstimme für die Güte seines Charakters ist, ergibt sich der Leser zunächst nur zu gerne seiner Lesart seines Verhaltens in der Vergangenheit. Doch bald Misstöne nehmen überhand, während er immer mehr Figuren aus seiner Vergangenheit wiederbegegnet, die er mit seinem überstürzten Umzug nach Paris abgeschlossen wähnte. Ist er vielleicht gar nicht das Opfer der fiesen Machenschaften seiner unmöglichen Ehefrau und sein Verlassen von Frau und Tochter gar nicht der notwendige Befreiungsschlag, sondern eine gewissenlose Treulosigkeit, Ausdruck von unreifer Bindungsunfähigkeit, Arroganz und asozialem Egoismus?


    Das Verschwinden von Maxens Ehefrau scheint mit dem Tod der gemeinsamen Tochter zu tun zu haben, die bei einem feuchtfröhlichen Bootsausflug der Mutter, die sich gerne mit hedonistischen, jungen Leuten umgeben hat, ertrunken ist. Einige der Personen, die an diesem Tag mit im Boot waren, erleben jetzt schlimme Stunden oder beißen sogar ins Gras. Sollte die Mutter etwa ihre Hand beim Tod ihrer Tochter im Spiel gehabt haben? Ist sie jetzt auf der Flucht vor einem Unbekannten, der sie mit gezieltem Terror, der an ihre Schuldgefühle appelliert, in den Wahnsinn treiben will? Oder ist sie einfach schon seit Monaten tot? Maxen verspricht seiner Schwiegermutter, die, so sagt er, das Beste an seiner Ehe mit Julia gewesen ist, ihre Tochter zu finden, die seit dem 23. Oktober vermisst wird, einem Datum, das erstaunlich viele Personen im Mund führen, wenn sie von der Verschwundenen berichten. Was ist an diesem Tag geschehen – und was bei dem tödlichen Bootsausflug vor einigen Jahren?


    Der Roman ist hervorragend geplottet ist. Ohne unnötigen Ballast. Das Fallenlassen oder Vereindeutigen bestimmter Handlungsfäden im Fortgang der Ereignisse ist dabei kein Mangel oder Ausdruck schlechten narrativen Aufbaus der Geschichte, sondern gewissermaßen notwendig für die Zuspitzung auf das sehr fadenscheinige Happy End, auf das der Roman zusteuert. Zwar wird der Leser auf diese Weise bewusst enttäuscht, doch passiert das dadurch, dass ihm die Figuren um die Ohren gehauen werden. Und was kann mich sich als Leser im Grunde Schöneres wünschen, als das einem auch mal auf die Füße getreten wird! Während man sich gerade vergewissert, dass die geheimnisvollen Vorgänge dann doch tatsächlich nur so und nicht anders vonstatten gegangen sind, fällt einem auf, wie hundsgemein alles bei Licht besehen doch endet: Gesagtes lässt sich nicht mehr zurücknehmen, alle bösen Taten können nicht ungeschehen gemacht werden. Der Gerechtigkeit wird keineswegs Genüge getan, die Bösen bleiben böse, die Enttäuschten bleiben enttäuscht, die Guten in der Minderzahl. Insofern und bei allen Bauchschmerzen ein stimmiges Finale und logischer Höhepunkt der zynischen, nihilistischen Weltsicht, die das ganze Buch durchzieht.


    Das Siebzigerjahre-Glanzlicht "Der dunkle Engel" ist eine klare Krimi-Empfehlung voll Schuld und Sühne, Eifersucht und Verdrängung für Freunde noirer Hoffnungslosigkeit, kaputter Typen und zerstörter Familiengeschichten - je nach Laune zwischen 4 und 4,5 Sternen!

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Eine englische Ausgabe vom Verlag "Walker and Company".

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