Robert Menasse - Die Vertreibung aus der Hölle

  • "Die Hölle erkennen wir immer erst rückblickend. Nach der Vertreibung. Solange wir in ihr schmoren, reden wir von Heimat."


    Portugal, Anfang 17. Jahrhundert, Zeit der Inquisition. „Schweinejagd“ heißt die Verfolgung von getauften Juden, die insgeheim ihren Glauben leben. Der kleine Mané weiß nichts von seiner eigenen Herkunft und schließt sich den „Schweinejägern“ enthusiastisch an. Bis eines Tages sein Vater abgeholt wird …. Der Familie gelingt die Flucht nach Holland, wo sie im Stadtteil „Neu-Jerusalem“ neue Wurzeln schlagen kann.


    Wien, 15. Mai 1955, Österreich feiert den Staatsvertrag. Viktor wird geboren. Auch er weiß von seinen Wurzeln nichts und schließt sich während seiner Schulzeit jener Gruppe an, die ein Judenkind hänseln und quälen.


    Ein dritter Handlungsstrang, der den Rahmen dieser Erzählung bildet, zeigt den erwachsenen Viktor. Anlässlich eines Klassentreffens kommt es zum Eklat, Viktor beschuldigt die anwesenden Lehrer, Mitglied der NSDAP gewesen zu sein. Gemeinsam mit einer Mitschülerin, Hildegund, die er während seiner gesamten Schulzeit heimlich anbetete, hatte, reflexiert er über seine Jugend- und Studentenzeit in linken Gruppierungen, fragwürdigen WGs und die Spießigkeit seines Eltern- und Großelternhauses.


    Wahllos springt Menasse zwischen den Schauplätzen in Portugal und Wien, zwischen den Jahrhunderten hin und her. Viele Details, viele geschilderte Begebenheit lassen darauf schließen, dass Menasse sehr intensiv für dieses Buch, das zugleich historischer Roman, Entwicklungs- und zeit-/gesellschaftskritischer Roman ist, recherchiert hat. Eklatante Gemeinsamkeiten – die mir oftmals ein wenig zu gewollt, ein wenig zu konstruiert und bemüht erscheinen - eröffnen sich zwischen dem Jungen des 17. Jahrhunderts und dem kleinen Viktor in Wien. Beiläufig erwähnte Motive finden sich 3 Jahrhunderte später in fast gleicher Form wieder und am Ende bleibt der etwas bedenkliche Nachgeschmack, dass sich sehr wohl die Zeiten ändern, offensichtlich nicht aber die Menschen.


    Robert Menasse:


    1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina. Er war sechs Jahre als Gastodzent an der Universität in São Paulo. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als freier Schriftsteller, kulturkritischer Essayist und Übersetzer in Wien und Amsterdam.


    Seine Romane:
    Sinnliche Gewissheit, 1988
    Selige Zeiten, brüchige Welt, 1991
    Schubumkehr, 1995
    Die Vertreibung aus der Hölle, 2001
    Don Juan de la Mancha, 2007

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Das Buch klingt sehr nach meinem Geschmack. :thumleft:
    Nicht klar ersichtlich ist es hier, wie dir, liebe Rosalita, das Buch gefallen hat?
    Dein Eindruck würde mich sehr interessieren. ;)

    Jede Minute, die man lacht, verlängert das Leben um eine Stunde. (Chinesisches Sprichwort)

    Wer Bücher kauft, kauft Wertpapiere. (Erich Kästner)

  • Das ist sehr schwierig zu sagen, Christinale!
    Den "Plot" fand ich sehr gut, auch die Idee, die 3 Ebenen zu verknüpfen. Die Atmosphäre des 17. Jahrhunderts kam sehr gut rüber, ebenfalls das Zeitgefühl der 70-er Jahre in Wien (soweit ich das beurteilen kann)
    Die Übergänge waren mir aber zu "platt", die Parallelen zu sehr künstlich und konstruiert, und das Lesen dementsprechend anspruchsvoll und fast schon ein wenig mühsam. Ich hatte das Gefühl, Menasse wollte dieses Buch "unbedingt schreiben" (und ich wollte es "unbedingt lesen").
    Aber insgesamt habe ich doch 4 Sterne vergeben.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Danke Rosalita! Ich habe das Buch einmal auf meinem Wunschzettel notiert.

    Jede Minute, die man lacht, verlängert das Leben um eine Stunde. (Chinesisches Sprichwort)

    Wer Bücher kauft, kauft Wertpapiere. (Erich Kästner)

  • Buchinhalt:
    Ausgangspunkt des Romans ist die Frage „Wer waren unsere Lehrer?“. Mit dieser Frage und der Konfrontation mit ihrer NS-Vergangenheit sprengt der Protagonist Viktor 25 Jahre nach dem Abitur die Klassenfeier. An diesen Ausgangspunkt knüpft Robert Menasse zwei rückblickende Handlungsstränge: zum einen die Geschichte Viktor Abravanels, eines Historikers jüdischer Herkunft, aufgewachsen in der Nachkriegszeit Österreichs und auf dem Weg zu einem Kongreß, auf dem er über die Frage referieren soll „Wer war Spinozas Lehrer?“. Der zweite Handlungsstrang ist die Geschichte des Rabbiners Samuel Manasseh ben Israel, geboren 1604 in Lissabon, der mit seiner Familie vor der Inquisition nach Amsterdam floh und dort später u.a. zum Lehrer des Philosophen Baruch Spinoza wurde. Die reale Biographie Manassehs bildet die historische Parallele zu Viktors Leben, geprägt durch die Enge der Nachkriegszeit, die Flucht des Vaters vor der Nazis, die Zeit im Internat, die Universität, das Engagement bei den Trotzkisten..... Die beiden Biographien sowie die Erzählung der Klassenfeier und was danach passiert in der Gegenwart laufen parallel, Menasse springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her bis zum überraschenden Ende nach der aufgelösten Wiedersehensfeier.


    Meine Meinung:
    Insgesamt finde ich den Roman recht spannend und ansprechend. Aber die historische Figur Samuel Manasseh ist für mich eindeutig die lebendigere der beiden. Die Situation in Lissabon, die Flucht, das Leben in der kleinen jüdischen Gemeinde in Amsterdam, das Leben als Gelehrter und Diplomat treten viel lebendiger und atmospärischer hervor als das Leben Viktor Abravanels im Wien nach 1955. Liegt es am reellen Leben des Philosophen? Liegt es am Stil des Autors? Oder liegt es darin begründet, dass ich über die Nachkriegszeit Österreichs eigentlich gar nichts weiß und mich deswegen nicht einfühlen kann? Auf jeden Fall konnte mir Menasse kein Gefühl für diese Zeit übermitteln obwohl er wohl einige autobiographische Erfahrungen in die Vita Abravanels hat einfließen lassen. Dadurch fehlt mir in einigen Teilen die Dichte, die Menasse in den historischen Parts hat auferstehen lassen können.
    Leider gliedert Robert Menasse die fast 500 Seiten seines Romanes überhaupt nicht. Weder gibt es abgegrenzte Kapitel, noch werden die Sprünge über die 3 Erzählebenen in irgendeiner Weise voneinander abgegrenzt, wodurch das Lesen stellenweise anstrengend wurde, da die Sprünge mir willkürlich erschienen und ich mich von jetzt auf gleich immer wieder umstellen und neu orientieren mußte.


    Mein Fazit:
    Trotz der oben genannten Schwächen halte ich das Buch für empfehlenswert. Die Grundidee „wer waren unsere Lehrer“, also Menschen, die uns ja durchaus prägen fürs Leben (gleich in welche Richtung), finde ich überaus spannend. Leider habe ich mir als Jugendlicher diese Frage nicht selbst gestellt und heute wenig Möglichkeiten, sie noch reell zu beantworten oder gar selbst mit meinen Lehrern noch darüber zu reden. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier