@ Hypocritia
Der Vergleich mit dem Autounfall war irgendwie intuitiv, er hinkt an einigen Punkten.
Irgendwie arbeitet dieses Buch durch den Thread hier erneut wieder in mir. Obwohl es schon einige Zeit her ist, dass ich es gelesen habe, besitzen die Eindrücke noch immer sehr viel Kraft.
Wenn Lolita ein wertvolles Buch ist, das noch immer wert ist gelesen zu werden, dann weil es von sehr vielen Seiten betrachtet werden kann. Aber ich habe auch das Gefühl, das man es nie voll und ganz ergründen wird. Trotzdem gibt es wohl keinen Leser, der nach der Lektüre keine Meinung dazu hätte. Diese eigene Meinung ergründen zu wollen, die eigenen Reaktionen verstehen zu wollen, - damit führt Nabokov den Leser mehr zu sich selbst als in irgendeine andere Richtung. Was widert mich an? Was bringt mich zum Lachen? Was beschämt mich? Was macht mich wütend? Und warum? Ich merke zumindest, dass ich bei der Suche nach meiner Meinung viel mehr in mich selbst hineinschaue, als nach den Motiven von Humbert oder Nabokov selbst zu suchen.
Zitat von BuchkrümelPersönlich hatte ich ja noch gedacht, ich würde die Innensicht von Männern erklärt bekommen, die auf kleine Mädchen stehen - das hätte ich interessant gefunden - naiv gedacht - oder?
Naja, auch wenn das wahrscheinlich nicht Nabokovs hautsächliche Motivation war (was er soweit ich weiß auch selbst gesagt hat), ich finde Humberts Gedankengänge, seine Ausflüchte, seine Anbiederungen, sein Machtmissbrauch, seine Erpressungen und Bestechungen, seine wohldosierte Preisgabe von Informationen, das alles lässt doch schon sehr tief blicken. Nur weil der Autor keinen Stellung beziehen kann (weil Ich-Erzähler) heißt das ja nicht, dass der Leser keine Schlüsse ziehen bzw. sich kein Urteil bilden kann.
Nabokov lässt den Leser damit völlig allein und auf sich gestellt. Kein Wunder, dass er sich zu seiner Zeit alle möglichen Vorwürfe hat anhören müssen.
Was ist eigentlich mit dem Schluss? Ich kann mir erinnern, dass sich Humbert in seinen Aufzeichnungen gegen Ende hin bei Datumsangaben widerspricht, und damit die Schlussfolgerung nahe legt, dass ein großer Teil seiner letzten Handlungen (zB im Haus von Quilty) gar nicht wirklich passiert ist, sondern nur seinen immer abgedrehteren Phantasie entsprungen sein könnte. Seht ihr das auch so?
Ich meine mich zu erinnern, dass im Nachwort angedeutet wird, dass sich Nabokov selbst geirrt haben könnte. Seine Russische Übersetzung unterscheidet sich ja. Kann man das glauben? Oder war dieser Widerspruch nicht doch Absicht? Dieser Verfolgungswahn durch Quilty war doch schon sehr abgedreht.
Mich erinnert dieser unzuverlässige Erzähler, der den Leser manipuliert und beeinflusst, an „Der Meister des jüngsten Tage“ v. Leo Perutz. Der Erzählton beginnt nüchtern, fast trocken, wird gegen Ende hin aber immer ausufernder und endet in einer surrealen Wahnvorstellung.