Inhalt
Im 17. Jahrhundert entsteht, was wir heute als moderne Naturwissenschaft bezeichnen. Teleskop, Mikroskop und Vakuumpumpe machen räumliche Dimensionen sichtbar, die bis dahin verborgen geblieben waren, während die von Huygens 1657 erfundene Pendeluhr die Zeitrevolution in dieser Epoche markiert. Ohne die neuen Uhren des 17. Jahrhunderts, ohne geschickte Handwerker, die sie bauten, wäre Newtons revolutionäre Bewegungslehre und Theorie der Schwerkraft kaum möglich geworden, da sie zur experimentellen Bestätigung einer genauen Zeitmessung bedarf.
"Die Uhr und nicht die Dampfmaschine ist die Schlüsseltechnik des modernen Industriezeitalters", behauptete auch der Sozialhistoriker Lewis Mumford.
Als Repräsentanten dieses richtungsweisenden Jahrhunderts in die Moderne, stellt Thomas de Padova zwei geniale Denker in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz waren Zeitgenossen, erfanden unabhängig voneinander die Infinitesimalrechnung, und gerieten darüber in einen heftigen Prioritätsstreit. Genauso konträr wie ihre Karrieren und ihre Charaktere waren aber auch ihre Ansichten von der Definition der Zeit und ihre Vorstellungen vom göttlichen Wirken in der Welt.
Meine Gedanken und Eindrücke
Bereits der Titel des Buches hat mich kurz stutzen lassen, und die Frage nach sich gezogen, wie Thomas de Padova auf die Idee kommt, dass man Zeit erst habe erfinden müssen. Die ist ja ohnehin schon immer und ewig da, habe ich mir gedacht, und weiters überlegt, was Newton und Leibniz wohl miteinander zu tun gehabt haben könnten. Den englischen Mathematiker habe ich stets mit der Gravitation in Verbindung gebracht, Leibniz hingegen ist mir nur als Philosoph ein Begriff, der Gott zugesteht, "die beste aller möglichen Welten" erschaffen zu haben.
Wie passt denn das alles zusammen, habe ich mich beim Aufschlagen des Buches gefragt, und noch nicht ahnen können, welch neue Perspektiven sich mir während der Lektüre eröffnen würden.
Geschickt arbeitet der Autor die Unterschiede in der Biografie seiner Protagonisten heraus, wobei es Isaac Newton, Sohn eines Schafzüchters, vom Mathematikprofessor und Parlamentsabgeordneten bis zum Direktor der Königlichen Münzanstalt und Präsident der Royal Society brachte. Der Nachwelt hinterließ er mit seiner "Principia" ein Werk, das das Weltbild dauerhaft verändern sollte.
De Padova verschweigt aber auch nicht, welche Bedeutung die Ideen des Universalgelehrten Robert Hooke für Newton hatten, die ihn schließlich in einem einzigartigen Akt geistiger Kraftanstrengung zur mathematischen Formulierung seines Gravitationsgesetzes führten. Newton verweigerte sowohl Hooke als auch John Flamsteed, dem Leiter der Königlichen Sternwarte in Greenwich, der ihn mit wichtigen Messdaten versorgte, jegliche Anerkennung.
Wie man es von einem wissenschaftlich orientierten Autor erwarten darf, hält sich de Padova bei Aussagen über das Privatleben des öffentlichkeitsscheuen und publikationsfeindlichen Gelehrten streng an schriftliche Zeugnisse, während Spekulationen und Wertungen dem Leser überlassen bleiben.
Ganz anders ist die Karriere des zweiten Hauptakteurs verlaufen. Gottfried Wilhelm Leibniz ist der Sohn eines Juristen und Professors für Moralphilosophie. In diesem Buch lernen wir vor allem den jüngeren Leibniz kennen, der sich in seinen Pariser Jahren und der ersten Zeit in Hannover, wo er als Hofgelehrter in kurfürstlichen Diensten stand, vorwiegend mit Mathematik und Technik beschäftigte. Seine philosophischen, theologischen und historischen Werke entstanden erst in späterer Zeit. Die Infinitesimalrechnung hat nämlich auch Leibniz erfunden, aber erst nach Newton, doch wird er sie vor ihm publizieren, und damit den unrühmlichen Prioritätsstreit vom Zaun brechen.
Beigelegt konnte er zu Leibniz' Lebzeiten nicht werden, doch mündet er auf Vermittlung von Prinzessin Caroline, der Schwiegertochter des englischen Königs George I. aus dem Hause Hannover, in eine Raum-Zeit-Debatte mit dem Hofprediger Samuel Clarke. Newton, der jeden Briefkontakt mit Kollegen verabscheute, entzog sich auf diesem Wege der direkten Konfrontation.
Während sich der Engländer auf die Veröffentlichung zweier großer Werke konzentrierte, befasste sich der deutsche Gelehrte gleichzeitig mit so vielen Projekten, dass er nur wenige davon zum Abschluss brachte.
Viel Raum widmet der Autor aber auch seiner dritten Protagonistin, der Zeit. Aber was ist das, die Zeit? Das fragte sich schon der Kirchenvater Augustinus, und kam dabei genauso in Erklärungsnotstand wie die meisten von uns heutzutage.
Für Leibniz ist sie nichts Reales, sondern ein Bewusstseinsphänomen, ein "Gedankending", wie auch Augustinus meinte. Fortwährend erkennen wir kausale Beziehungen zwischen den Dingen und ihren wechselnden Zuständen und konstruieren erst aufgrund dieser eine zeitliche Ordnung. So können wir Geschehensabläufe in eine Folgeordnung bringen und unterteilen sie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Newton hingegen unterscheidet zwischen einer absoluten, wahren und mathematischen Zeit, die nie geändert werden kann und nur in den Gesetzen der Mathematik existiert, und einer relativen, scheinbaren und gewöhnlichen Zeit. Letztere ist ein wahrnehmbares und äußerliches Maß der Dauer, dessen man sich gewöhnlich anstelle der wahren Zeit bedient, wie etwa der Stunde oder des Jahres.
Auch Einstein schrieb Raum und Zeit außerhalb der Ordnung der Dinge und Ereignisse keine eigenständige Existenz zu, worüber ich direkt froh bin. (Denn wie hätte man sich denn diese dann wieder vorzustellen?) Raum und Zeit seien also nur Denkweisen, die wir benutzen.
Aber nicht nur über die Zeit lernen wir viel; Thomas de Padova bringt in seinem ausgezeichneten Buch grundlegende Beispiele aus der Physik, die unserem Verständnis bezüglich der Zeitmessung auf die Sprünge helfen sollen. Wir erfahren, wie verzweifelt man einen hochseetauglichen Zeitmesser zu bauen versuchte, um endlich eine exakte Längengradbestimmung durchführen und die Handels- und Kriegsschiffe sicherer und schneller an ihr Ziel bringen zu können.
Beeindruckend schildert der Autor aber auch die Welt, in der Leibniz und Newton lebten, die expandierenden Städte, deren Bewohner, im Gegensatz zur ländlichen Bevölkerung, immer schneller unter das Diktat von Minuten- und Sekundenzeiger gerieten. In den Metropolen wurden der Kutschenverkehr und die nächtliche Beleuchtung eingeführt; der Kaffeehausbesucher und Zeitungsleser tauchte als neuer Typus auf.
Im Hinblick auf unsere Zeitkultur hat das 17. Jahrhundert völlig neue Maßstäbe gesetzt, und kann als "früheste Periode der Geschichte, die uns, wie wir heute sind, wirklich schon enthält" (Elias Canetti) betrachtet werden.
Überrascht hat mich deshalb, dass sich Isaac Newton, der für mich immer der Inbegriff eines modernen Forschers an einer wichtigen Zeitenwende war, erst vom Glauben an die Existenz eines Äthers im Weltraum befreien musste. Ebenso wusste ich nicht, dass er sich mit Alchemie befasste, aufgrund seines Bibelstudiums annahm, dass die Welt erst einige Tausend Jahre alt sei, und ihr baldiges Ende mit dem Jüngsten Gericht bevorstehe.
Fasziniert bin ich den Ausführungen des Physikers Thomas de Padova gefolgt, habe bei weitem nicht alles verstanden, und doch ein Gefühl für die Zeit bekommen, in die er seine Leser entführt. Staunend habe ich zur Kenntnis genommen, dass es das Pendel war, mit dem unsere moderne Zeitmessung begann, und stand im Geiste wieder vor der alten Pendeluhr meiner Großeltern, beeindruckt von deren großer Vergangenheit.
Gut gefallen haben mir die gewählte Ausdrucksweise des Autors (der auch so schöne alte Wörter wie "antichambrieren" verwendet) und sein Sinn für Ästhetik. Indem er auf den Park von Versailles verweist, versucht er dem unbedarften Laien (wie mir) die Schönheit mathematischer Reihen doch noch zu erschließen. Beim Durchsehen meiner Notizen ist mir noch einmal aufgefallen wie viele Informationen aus den unterschiedlichsten Bereichen dieses hervorragende Sachbuch enthält. Ich kann es nur wärmstens weiterempfehlen, wünsche ihm viele, ebenso begeisterte Leser, und vergebe natürlich gerne die volle Punktezahl.