Der Autor:
Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redaktor. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und verfasste über 1000 TV-Shows und Drehbücher. Zu seinen Hauptwerken zählen die satirischen TV-Romane Mattscheibe (1991) und Schuster (1997), der Dorf- und Kriminalroman Johannistag (2000) sowie die zeitgeschichtliche Ereignisse aufarbeitenden Romane Melnitz (2006) und Gerron (2011). Kastelau steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2014. (Quelle: u.a. Verlag)
Inhalt:
Winter 1944. Die bayerischen Alpen sind trotz Krieg – noch – eine friedliche Gegend. Ein Filmteam der UFA setzt alles daran, sich dorthin abzusetzen. Unter einem Vorwand beschafft man sich den Auftrag für den vermeintlich kriegswichtigen Film "Lied der Freiheit". In dem bald vom Schnee eingeschlossenen Bergdorf Kastelau wird das Drehen einer erfundenen Geschichte immer mehr zur erfundenen Geschichte eines Drehs. Denn wichtig ist nur eines: Die Filmerei muss überzeugend aussehen. Aus immer neuen Lügen und Ausflüchten entspinnt sich ein Netz aus Intrigen, so dass bald niemand mehr zwischen Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden weiss. (Quelle: Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2014)
Das besondere an diesem Buch ist seine Struktur. Der Autor arbeitet wie ein Cutter beim Film: Ein amerikanischer Wissenschaftler, angehender Filmhistoriker, hat für seine Doktorarbeit über die letzten Filme des NZ-Regimes Material zusammengetragen. Es umfasst Interviewtranskripte einer ehemaligen Schauspielerin, Tagebucheinträge des Drehbuchautors, Ausschnitte von Filmdialogen, Fragebogenantworten von Überlebenden, Wikipedia-Einträge, der Briefwechsel der Beteiligten und – last but not least – den emotionsgeladenen Kommentar des Doktoranten. Doch diese Doktorarbeit wurde nie fertig geschrieben, nie publiziert.
Lewinsky ist auf den Nachlass des Amerikaners gestossen, und sein Buch stellt die farbige, skurrile, spannende Collage aus all diesen Materialien dar. Raum und Zeitperspektiven variieren, Stil und Erzähler ebenso. Wieso eine schlüssige wissenschaftliche Dokumentation als Roman bezeichnen? Einfach weil sie ein grandioses literarisches Lügengewebe ist. Alles in ihr ist erfunden, der Ort, die Protagonisten, die Filmografien im Anhang, etc.
Wie slapstickartig auch manche Szenen anmuten, es ist ein Roman in einer historischen Zeit. Der Hintergrund des Buches bleibt ernst. Kastelau erzählt eine tragikomische Geschichte von Eitelkeiten und Narzissmus, von Anpassung und Freiheit, von Ehrgeiz und Verrat, von Liebe zwischen Mann und Frau, zwischen Männern, zwischen Mutter und Sohn.
In einem Interview bemerkt Charles Lewinsky, dass ihm ein Tagebucheintrag von Erich Kästner den Anstoss zu seinem Roman Kastelau gab, eben über eine Filmcrew, der es gelang in den letzten Monaten des NS-Regimes das bombenverhagelte Berlin zu verlassen. Somit schliesst sich der Reigen von Geschichte und Fiktion.
Die Protagonisten des Romans erlauben Lewinsky viele schillernde Gestalten zu skizzieren. Dazu gehört ein Berliner Modearzt, der gewohnt an die Sorgen der Kriegsjahre in der umkämpften Hauptstadt den Verstand verliert:
„Sie sind nicht der Einzige, der aus Berlin wegwill. Es waren auch schon Kollegen von Ihnen bei mir. Aber es ist besser, wenn Sie hierbleiben. Wenn Sie alle hierbleiben. Weil sonst die Zahlen nicht stimmen. Es ist nämlich ein grosses Experiment, wissen Sie. Ein Feldversuch. Meine Kollegen machen die interessantesten Operationen
. …
Bleiben Sie in Berlin. Sie dürfen sich das jetzt nicht entgehen lassen. Vielleicht erleben Sie etwas, das sich für einen neuen Film verwenden lässt. Oder liegt das Thema nicht auf Ihrer künstlerischen Linie?“
Die Rolle des Mephisto, des Bösewichts in Menschengestalt, belegt ein bekannter NS-Filmschauspieler, der sich in seinen fingierten Memoiren zum Opponenten des Regimes weissschreibt, aber da ist er bereits ein gefeierter Hollywood-Schauspieler. Ähnlichkeiten mit dem realen Gustav Gründgens sind auffallend, aber mehr sollte man hier über diese Gestalt nicht verraten, denn sie spielt eine gewichtige Rolle im Roman.
Als Roman der Täuschung, des doppelten Spiels und des Opportunismus ist Kastelau durchweg gelungen. Nicht alles wird erklärt, nur Indizien und mögliche Motive ausgelegt, der Leser ist mündig und darf seinen eigenen Schluss daraus ziehen. Eine Leseempfehlung.