Kapitel 2
Puuuhhhh, was für ein tolles 2. Kapitel!!! Welch emotionalen Wendungen und Verstrickungen! Ich bin begeistert.
Wir lernen eine der Hauptprotagonistinnen kennen, Anke Neuhaus. Zunächst erfahren wir, dass sie mit oder für den Herrn Wohlstedt arbeitet, den Yvonne in der Konfrontation in Kapitel 1 schon erwähnte. Die drei kennen sich also offensichtlich, und wie man im Verlauf des 2. Kapitels erfährt, tiefergehend als wünschenswert wäre... (oh, ein Wortspiel )
Ich habe den Vornamen Remigius vorher noch nie gehört und habe deshalb kurz dazu recherchiert. Remigius von Reims, der die Franken zum Christentum bekehrte. Warum wurde gerade dieser Name für diese Person ausgewählt frage ich mich? Der Klappentext verrät ja schon, dass Remigius Wohlstedt kein einfacher Charakter ist und bezogen auf Ankes belastete Beziehung mit ihm, habe ich eine schöne passende Bauernregel gefunden: "Regen an Sankt Remigius bringt den ganzen Monat Verdruss.“ Zumal es im Buch ja regnet, während er zum ersten Mal erscheint... Vielleicht ist ja der gewählte Name an sich schon ein Hinweis auf seine schwierige Rolle in Ankes Leben.
Aber zurück zum Buch: Schon auf der ersten Seite des 2. Kapitels wird erwähnt, dass es zwischen Yvonne und Anke vor 16 Jahren zu einem "Zerwürfnis wegen Niels" gekommen sei. Welche Art von Zerwürfnis? Betrug? Intrige? Und handelt es sich dabei um jenen Niels, der auch im Klappentext Erwähnung findet? Wird also eben jener Niels in der weiteren Geschichte eine tragende Rolle spielen?
Wir erfahren, dass Yvonne von Laatz durch den Sturz von der Brücke scheinbar wirklich starb bzw. ertrunken ist. Doch warum gibt sich Remigius Wohlstedt die Schuld an ihrem Tod? Und warum vermutet Anke direkt, dass Yvonnes Tod mit deren Beruf zusammenhängt und nicht ein simpler Raubüberfall stattgefunden hat? Fragen, die sich hoffentlich noch aufklären werden.
Im Verlauf der nächsten Seiten wird Ankes familiäre Situation beschrieben:
- Holger, ihr Exmann
- Gertrud, ihre Ex-Schwiegermutter
- Cora, ihre ältere Tochter im Teenager-Flegel-Alter
- Mara, 8 Jahre, die jüngere Tochter.
1. Zu ihrem untreuen Exmann scheint Anke ein relativ angespanntes Verhältnis zu haben. Für mich ist noch nicht verständlich, warum sie sich dermaßen darüber aufregt, dass Holger zu einem Meeting musste, denn die Kinder scheinen ja gut versorgt zu werden, wenn sie bei Oma Gertrud sind. Was mich allerdings stutzig macht, ist dass dieses Meeting an einem Wochenende stattfindet. Ist dies vielleicht nur eine vorgeschobene Erklärung für eine erneute Frauengeschichte?
2. Gertrud scheint das typische Klischee einer Schwiegermutter zu erfüllen: Übermutter für ihren eigenen Sohn, ein Engel für die Enkelkinder und nie um einen versteckten Vorwurf Richtung Ex-Schwiegertochter verlegen.
3. Cora, die schweigsame Teenager-Tochter, deren Wesenszüge bisher nur rudimentär erläutert werden. Dennoch habe ich Verständnis für ihre Reaktion am Ende des 2. Kapitels: eine Mutter, die die Nuss-Allergie des eigenen Kindes vergisst?! Autsch! Gerade im Teenageralter Wasser auf die Mühlen, der sich eh schon unverstanden fühlenden Generation.
4. Mara scheint ein fröhliches, unkompliziertes Wesen zu haben. Dass sie mit acht Jahren noch nicht weiß, was ein "Mietding" ist, geschenkt. Dass sie allerdings noch "anderufen" sagt, hat auch mich etwas zum Stolpern gebracht.
Was mich jedoch wirklich wundert, ist, warum Gertrud Anke mit deren eigenem Wagen abholt? Hätte Anke ihn dann nicht einfach während ihrer Abwesenheit am Flughafen stehen lassen können und sich diesen ganzen Abholungszauber ersparen können? Eine völlige Nebensächlichkeit, ich weiß, aber dennoch frage ich mich, ob hier ein logischer Fehler vorliegt.
Nun aber ans Eingemachte dieses Kapitels, die Erinnerung an das Telefonat zwischen Anke und Yvonne. Auch wenn es vor ein paar Tagen stattfand, wechselt Arne Boehler hierbei erzählerisch in die Gegenwart, Präsens, was mich als Leserin noch dichter ans Geschehen bringt, mich Ankes Gefühle noch intensiver erleben lässt. Großartig!
Die Information, dass Yvonne Anke vor 16 Jahren mit einem Messer schwer verletzt hat, trifft mich völlig unvorbereitet und ich muss erstmal tief durchatmen. Scheinbar haben die beiden Frauen eine langwierige Beziehung zueinander, die vor dem noch nicht aufgeklärten Vorfall mit Niels sehr intensiv gewesen sein muss, was der Spitzname "Ännchen" erahnen lässt. Und auch die Formulierung, dass Anke "Yvonne zu hassen gelernt hat", lässt für mich diesen Schluss zu.
Ich stelle mir vor wie schwierig es für Anke gewesen sein muss, dieser Frau, wenn auch nur "alle Jubeljahre", in Remigius Kunstgalerie über den Weg zu laufen. Ich kann mir kaum vorstellen wie emotional aufwühlend diese Begegnung jedes Mal gewesen ist, welch tiefe Wunden dadurch jedes Mal aufgerissen wurden. Umso ratloser lässt mich folgende Formulierung zurück: "Freude und Hass liefern sich einen kurzen, erbitterten Zweikampf in ihr." (Seite 18) Warum Freude? Waren diese beiden scheinbar sehr unterschiedlichen Frauen einmal so eng miteinander verbunden oder befreundet, dass Anke ihre Angreiferin nach allem, was sie ihr körperlich durch das Messer und eventuell emotional durch Niels angetan hat, noch immer in einem Teil ihres Seins vermisst? Was hat die Situation nur damals so zum Eskalieren gebracht?
Yvonnes verwendeter Euphemismus "dass einiges schiefgelaufen ist zwischen uns" (S.18) bereitet schon den Boden vor, für den nächsten Schlag, den sie kurz danach austeilt: das Geständnis, dass sie mehrmals mit Ankes Mann Holger geschlafen hat, unter anderem während Anke mit der älteren Tochter Cora schwanger war. Diese Aussage überrascht mich erneut zutiefst, macht mich wütend, aber lässt mich auch fragen, warum diese scheinbar todkranke Frau dieses Geständnis macht. Wem nützt es? Was bezweckt sie damit? Ist es purer Eigennutz und Egoismus, sich vor dem Sterben zu entlasten oder möchte sie Anke auf eine perfide Art noch einmal verletzen? Und hätte sie es ihr auch gestanden, wenn sie nicht von der Trennung von Anke und Holger erfahren hätte? Und warum in Gottes Namen will sie sich dann noch mit Anke treffen? Ich hoffe das all diese Fragen im Laufe des Buches noch geklärt werden.
Natürlich verfestigen all diese Geständnisse meine erste Einschätzung über Yvonnes Person. Zu erfahren, dass sie nur noch wenige Monate zu leben hat, löst in mir entgegen meiner Art nur wenig Mitleid aus. Und nun ist sie schneller und auf andere Art und Weise gestorben als sie es selbst wohl vermutet hat. Doch ist das Wissen um ihren baldigen Tod vielleicht eine Erklärung, warum sie dem Angreifer in Kapitel 1 so emotions- und furchtlos gegenüber tritt? Sie weiß, dass sie sowieso in Kürze sterben wird, ein paar Wochen früher machen für sie vielleicht keinen großen Unterschied. Andererseits verteidigt sie sich und versucht zu fliehen... hmmmm...
Bevor ich nun Kapitel 3 lese, muss ich noch erwähnen, dass ich die Beschreibung auf Seite 17 "Beobachtete die Regentropfen, die an der Seitenscheibe in fingerdicken Rinnsalen nach unten strebten wie die Tränen auf der Wange eines weinenden Kindes" gerade im Zusammenhang mit dem Titel des Buches unglaublich gelungen finde.