Jetzt muss ich nochmal in meiner Erinnerung kramen, weil es schon wieder ein paar Monate her ist, dass ich das Buch gelesen bzw. gehört habe. Ich weiß noch, dass ich danach ein irgendwie unfertiges Gefühl hatte; ich dachte auch, ich sollte was darüber schreiben, hab es aber dann aus den Augen verloren.
Ich finde es sehr interessant, in welcher Situation ihr Tschernobyl erlebt habt. Ich war damals 18 und meine ein Jahr ältere Freundin lernte gerade intensiv fürs Abi, es war ein warmer April, sodass sie jede freie Stunde in der Sonne über den Unterlagen verbrachte. Und dann kam, ein paar Tage später erst, diese Meldung über die erhöhte Strahlung aus Skandinavien. Wir waren sehr entsetzt, vor allem, als sich dann nach und nach herausstellte, dass es sich wohl tatsächlich um einen GAU handelte, und dass niemand vor dem Fallout gewarnt worden war. Meine Freundin war darüber sehr verbittert. Im Physikkurs gingen wir in den Schulgarten und maßen Becquerel-Werte, man sollte dringlichst keine Milch und keinen Salat essen. Noch heute sind bei uns hier im Süden Pilze belastet und Wildschweine dürfen häufig nicht in den Verkauf, weil sie die Grenzwerte überschreiten.
Tja. Vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen, verbunden mit Fukushima natürlich, habe ich also das Buch gelesen. Ich musste an eine Sendung denken, in der Japaner von ihrer Heimat erzählen, die so schön war und in die sie nie zurückkehren können. Wo sie die Nachbarn verloren haben, ihre wunderschöne Natur und überhaupt das Zusammenleben und die Musik über ihre Heimat, die sie - im Nachhinein so schmerzlich bewusst geworden - glücklich gemacht hat. Das war schrecklich, diese verzweifelten Menschen zu sehen.
Und dann lese ich also über Baba Dunja, die in die Sperrzone um Tschernobyl zurückgekehrt ist. Klar, es ist bekannt, dass die Strahlenschäden bei älteren Personen nicht mehr so schnell voranschreiten. Und im Grunde hat sie ja - so gesehen - nichts zu verlieren. Alle gewinnen scheinbar ihr altes Leben zurück.
Ich kenne auch diese ländlichen Gegenden sehr gut, wo alles langsamer läuft. Ja, wenn man da ein paar Wochen ist, ist das sehr entspannend. Aufs Jahr gesehen nicht so, wenn man viel körperlich arbeiten muss und sich wenig leisten kann, vor allem keine freie Zeit, die man zum Beispiel auch fürs Lesen gern hätte - aber wegen der ständigen Arbeit eben nicht hat. Auch gesundheitlich sollte einem tunlichst nichts passieren und hoffentlich immer jemand da sein, der einem noch irgendwie helfen kann und nicht womöglich noch kränker ist als man selber.
Vor kurzem habe ich, wegen dem 30. Jahrestag von Tschernobyl, eine Sendung über Pripyat gesehen, die 1998, also nach 12 Jahren, gedreht wurde. Dort war so ein altes Paar, das in ein kleines Dorf zurückgegangen war und täglich langsam zum Fluss stiefelte, um Fische zu fangen. Sie hatten keinen Strom, kein fließendes Wasser, ihre Fensterscheiben waren zerbrochen von irgendwelchen Randalierern, die öfter mal über die ungesicherte Grenze kamen und sich einen Spaß aus dem Zerstören machten oder selbst nichts hatten und auf Diebestour gingen. Mich hätte sehr interessiert, was aus ihnen geworden ist. Gut ging es ihnen nicht, immerhin lebten sie in der Sperrzone und waren von den Behörden wohl so was wie geduldet, am besten, sie machten keine Probleme. Für die Umwelt ist es auch praktischer, verstrahlte Menschen bleiben, wo sie sind und gefährden nicht noch andere, noch gesunde Menschen. Wie auch im Buch über Baba Dunja.
Diese kann auch ihre Enkelin nicht sehen. Was eben so ist. Sie scheint recht pragmatisch damit umzugehen, dabei ist es aber eine so schlimme Vorstellung, dass man mit den eigenen Verwandten, wenn man doch so gern Kontakt hätte, ihn nicht unbeschwert und ohne Zeitbegrenzung und ohne Schutz haben kann - weil ein Kernkraftwerk doch nicht so sicher war. Das ganze Leben ist davon beeinflusst, und trifft es die Alten nicht so sehr, weil sie ihr Leben gelebt haben, so ist es doch für die Kinder und Enkel furchtbar, denn die haben tatsächlich wichtige Personen in ihrem Leben verloren. Und wenn man nun vielleicht noch damit leben könnte, dass die Zone um Tschernobyl und die um Fukushima nun verstrahlt und viele Jahre unbewohnbar sind, dann könnte aber auch jederzeit ein neuer Unfall oder neuerliche Erdbeben oder Tsunamis oder Terroranschläge oderoderoder zu weiteren GAUs führen und damit unsere unverstrahlten Gebiete stark reduzieren.
Fazit:
Ja, ich versuche irgendwie auf den Punkt zu kommen, warum ich Baba Dunjas Geschichte nicht entspannend finden kann.
Mir kommt es vor, als ob diese entschleunigte Situation eine recht instabile Ist-Situation darstellt. Jederzeit können welche von den Mitbewohnern noch kränker werden oder eben auch die Protagonistin selbst und dann ist es schnell vorbei mit dem (derzeit noch) guten Leben. Es gibt keine Hoffnung, keine Zukunft in dieser Gemeinschaft. Alles ist darauf ausgerichtet, dass man selbst eben dort stirbt und es ja sowieso egal ist. Aber die Menschen, die einem nahestehen, können dies nun nicht mehr. Weil sie sich selbst schützen müssen, um selbst noch ein bisschen mehr Zukunft zu haben.
Ich empfinde das als so todtraurig ...
Ja, all diese eigenen und fremden Erfahrungen, die ergeben eben ein sehr ungutes Gefühl bei mir. Ich kann es total gut verstehen, dass man gern in die Heimat zurück möchte. Und gleichzeitig ist da diese Notwendigkeit, so viel zu verdrängen, um nicht verrückt zu werden vor Schmerz über das Verlorene. Vieles davon ist auch im Buch rübergekommen. Vielleicht liegt es an der Sehnsucht nach dieser scheinbar heilen Welt, dass man das auch beim Lesen immer wieder stark wegschieben und ausblenden will. Vielleicht liegt es auch gerade am Jahrestag, dass es zu diesen Zeiten nicht so leicht geht und mir deshalb stärker aufgefallen ist. Jedenfalls danke für das Nachfragen, denn ich musste mich jetzt auch nochmal intensiv selbst befragen, welche Gefühle die Bezeichnung als Wohlfühlbuch warum bei mir ausgelöst hat.