Was wird in 50 Jahren von der Literatur unserer Zeit übriggeblieben sein ? Welche Bücher werden dann in ein kollektives Gedächtnis eingegangen sein und einen ähnlichen Stellenwert haben, wie für uns heute „Hundert Jahre Einsamkeit“, „Die Blechtrommel“ oder vielleicht auch „Der Name der Rose“ ? Schwierig, dies vorherzusagen. Vielleicht wird Uwe Tellkamps „Der Turm“ in diesen Kanon hineingehören, vielleicht auch Jonathan Littell´s „Die Wohlgesinnten“, wahrscheinlich auch Cormac McCarthy´s „Die Straße“.
Ein wichtiger Aspirant ist nun hinzugekommen: „Bonita Avenue“ des Belgiers Peter Buwalda ist ein Roman, wie es ihn vielleicht nur alle 10 Jahre einmal gibt, einzigartig in seiner Komposition, Sprachmächtigkeit, in der Wucht seiner Handlung, seiner Spannung und vor allem in der Fähigkeit, eine Epoche abzubilden und ihr eine bleibende Erinnerung zu verschaffen: es geht um die Jahre kurz vor und nach der Jahrtausendwende, die Jahre des Internetzeitalters, der Internetpornografie, der zusammengestückelten Familienbanden und des Diktates der rücksichtslosen Verwirklichung der eigenen Individualität.
Hauptfigur des Romans ist Simon Sigerius, seines Zeichens Rektor einer kleinen, aber feinen Universität in der holländischen Provinzstadt Enschede, außerdem früherer Judo-Kämpfer, Mathematik-Genie und Stiefvater zweier erwachsener Töchter, Joni und Janis, benannt nach den Hippie-Musikerinnen der späten 1960´er Jahre. Sigerius ist das vor Erfolg und Selbstsicherheit strotzende Alpha-Tier der Familie, der Silberrücken seiner Universität ebenso wie seines privaten Umfeldes. Doch Sigerius hat auch eine unbequeme, dunkle Seite aus seiner frühen Vergangenheit.
Aus dieser vorakademischen Zeit als Kämpfer, als Emporkömmling aus einfachsten und ärmlichen Verhältnissen, stammen Sigerius` in zahlreichen Judokämpfen verformte Blumenkohlohren und seine Tätowierungen, in dieser Zeit nämlich war Sigerius schon einmal verheiratet und aus dieser Ehe stammt Wilbert, der später verleugnete und abgeschobene, erst straffällig und zum Totschläger gewordene, dann weggesperrte Sohn mit charakterlichem Defekt, sexueller Boshaftigkeit und krimineller Energie.
Das Jahr 2000 besiegelt das Schicksal von Sigerius´ Patchwork-Familie: Als zahlender Nutzer einer Internet-Porno-Seite stößt er in den Weiten des virtuellen Raumes auf vulgäre und zugleich erregende Fotos einer jungen Frau, welche seiner Stieftochter Joni zum Verwechseln ähnlich sieht. Sigerius zweifelt zunächst, ob es wirklich Joni ist, deren Körperöffnungen ihn vom Bildschirm seines Laptops anspringen: eine andere Haarfarbe, Bildkulissen, die eine Entstehung im Ausland suggerieren, und eine Wollust im Gesichtsausdruck der jungen Frau, den Sigerius so gar nicht mit Joni in Verbindung bringen kann. Doch tief in seinem Innern ahnt er bereits, was er noch nicht wahrhaben will: es ist tatsächlich Joni, die gemeinsam mit Aaron, ihrem langjährigen Freund, den Sigerius bereits wie einen Sohn ins Herz geschlossen hat, eine Porno-Homepage betreibt und mit den Einnahmen ihrer zahlenden Kundschaft ein gigantisches Vermögen zusammenträgt.
Gleichzeitig wird Wilbert, Sigerius Sohn aus erster Ehe, aus dem Knast entlassen und fordert Wiedergutmachung für ein völlig mißlungenes Leben, welches begann, als sein Vater ihn und seine alkoholkranke erste Frau ablegte wie ein stinkendes Paar Socken, sich eine neue Familie suchte und fortan Joni und Janis zu seinen Lieblingskindern machte.
Die Ereignisse spitzen sich dramatisch zu, als Sigerius Gewissheit über die Machenschaften seiner Stieftochter und seines Schwiegersohnes in spe erlangen will und sich Zugang in dessen Haus und das darin versteckte Fotostudio verschafft. In einer aberwitzigen Szene kommt es zur Konfrontation von Sigerius mit seiner Stieftochter, die daraufhin ihrem labilen Freund Aaron den Laufpass gibt, ein Bündnis mit Wilbert eingeht, der sich wiederum mit erpresserischen Absichten an seinen leiblichen Vater wendet. Am Ende gibt es einen Toten, eine Leiche in einer Bandsäge, einen Selbstmord, eine Einweisung in die Psychiatrie und eine Familie, deren Existenz wie durch einen kosmischen Hammerschlag pulverisiert wird.
Wie ein Berserker wütet Buwalda in den vorbelasteten Banden seiner zusammengewürfelten Familie und läßt dabei keinen Stein auf dem anderen. Daß bei aller Ereignisfülle, den sich überschlagenden Ereignissen und familiären Zuspitzungen, bei denen es schließlich um Leben und Tod geht, der Plot immer glaubwürdig bleibt, mag nicht zuletzt darin liegen, daß Buwalda seiner Dramatik um die Explosion seiner literarischen Familie einen historischen Überbau gibt, der die reale Entsprechung zur Handlung des Romans darstellt: am 13. Mai 2000 flog in Enschede eine Feuerwerksfabrik in die Luft, es gab 23 Tote und ein ganzer Stadtteil wurde seinerzeit in Schutt und Asche gelegt. Indem Buwalda seine fiktive Handlung um die Familie Sigerius mit den historischen Geschehnissen dieses Tages und der nachfolgenden Wochen verknüpft, verschafft er seinen Figuren und seiner Handlung eine großartige Präsenz und Realitätsnähe.
Und noch etwas sollte nicht unerwähnt bleiben: Buwalda läßt seine Geschichte von verschiedenen Erzählern vortragen, läßt dabei innerhalb eines Erzählstranges in langen Rückblenden Vergangenes wieder präsent werden und springt auch in der Chronologie der Ereignisse vielfach vor und zurück. Daß ihm dabei der rote Faden nicht verloren geht und auch der Leser zu keinem Zeitpunkt darüber ins Schleudern kommt, an welcher Stelle der Ereignisse er sich gerade befindet, ist so gekonnt, überlegt und souverän gemacht, daß wir uns als Leser verwundert die Augen reiben müssen, daß es sich bei „Bonita Avenue“ um Buwaldas Erstling handelt. Es kann ( hoffentlich ) kein Zweifel bestehen: Wer ein solches Debut hinlegt, von dem wird noch viel zu hören und zu lesen sein.
Mein Fazit: ein unglaublich gutes Buch und eine unglaublich gute Darstellung und Analyse unserer aktuellen gesellschaftlichen Epoche. In Falle dieses Romans üben große Literatur und große Unterhaltung einen Schulterschluß, wie er eben nur bei den wirklich bedeutenden und überdauernden Werken einer Literaturepoche festgestellt werden kann. Ich habe in den vergangenen Monaten keinen besseren Roman gelesen.