Beiträge von tsaueressig

    Was wird in 50 Jahren von der Literatur unserer Zeit übriggeblieben sein ? Welche Bücher werden dann in ein kollektives Gedächtnis eingegangen sein und einen ähnlichen Stellenwert haben, wie für uns heute „Hundert Jahre Einsamkeit“, „Die Blechtrommel“ oder vielleicht auch „Der Name der Rose“ ? Schwierig, dies vorherzusagen. Vielleicht wird Uwe Tellkamps „Der Turm“ in diesen Kanon hineingehören, vielleicht auch Jonathan Littell´s „Die Wohlgesinnten“, wahrscheinlich auch Cormac McCarthy´s „Die Straße“.


    Ein wichtiger Aspirant ist nun hinzugekommen: „Bonita Avenue“ des Belgiers Peter Buwalda ist ein Roman, wie es ihn vielleicht nur alle 10 Jahre einmal gibt, einzigartig in seiner Komposition, Sprachmächtigkeit, in der Wucht seiner Handlung, seiner Spannung und vor allem in der Fähigkeit, eine Epoche abzubilden und ihr eine bleibende Erinnerung zu verschaffen: es geht um die Jahre kurz vor und nach der Jahrtausendwende, die Jahre des Internetzeitalters, der Internetpornografie, der zusammengestückelten Familienbanden und des Diktates der rücksichtslosen Verwirklichung der eigenen Individualität.


    Hauptfigur des Romans ist Simon Sigerius, seines Zeichens Rektor einer kleinen, aber feinen Universität in der holländischen Provinzstadt Enschede, außerdem früherer Judo-Kämpfer, Mathematik-Genie und Stiefvater zweier erwachsener Töchter, Joni und Janis, benannt nach den Hippie-Musikerinnen der späten 1960´er Jahre. Sigerius ist das vor Erfolg und Selbstsicherheit strotzende Alpha-Tier der Familie, der Silberrücken seiner Universität ebenso wie seines privaten Umfeldes. Doch Sigerius hat auch eine unbequeme, dunkle Seite aus seiner frühen Vergangenheit.


    Aus dieser vorakademischen Zeit als Kämpfer, als Emporkömmling aus einfachsten und ärmlichen Verhältnissen, stammen Sigerius` in zahlreichen Judokämpfen verformte Blumenkohlohren und seine Tätowierungen, in dieser Zeit nämlich war Sigerius schon einmal verheiratet und aus dieser Ehe stammt Wilbert, der später verleugnete und abgeschobene, erst straffällig und zum Totschläger gewordene, dann weggesperrte Sohn mit charakterlichem Defekt, sexueller Boshaftigkeit und krimineller Energie.


    Das Jahr 2000 besiegelt das Schicksal von Sigerius´ Patchwork-Familie: Als zahlender Nutzer einer Internet-Porno-Seite stößt er in den Weiten des virtuellen Raumes auf vulgäre und zugleich erregende Fotos einer jungen Frau, welche seiner Stieftochter Joni zum Verwechseln ähnlich sieht. Sigerius zweifelt zunächst, ob es wirklich Joni ist, deren Körperöffnungen ihn vom Bildschirm seines Laptops anspringen: eine andere Haarfarbe, Bildkulissen, die eine Entstehung im Ausland suggerieren, und eine Wollust im Gesichtsausdruck der jungen Frau, den Sigerius so gar nicht mit Joni in Verbindung bringen kann. Doch tief in seinem Innern ahnt er bereits, was er noch nicht wahrhaben will: es ist tatsächlich Joni, die gemeinsam mit Aaron, ihrem langjährigen Freund, den Sigerius bereits wie einen Sohn ins Herz geschlossen hat, eine Porno-Homepage betreibt und mit den Einnahmen ihrer zahlenden Kundschaft ein gigantisches Vermögen zusammenträgt.


    Gleichzeitig wird Wilbert, Sigerius Sohn aus erster Ehe, aus dem Knast entlassen und fordert Wiedergutmachung für ein völlig mißlungenes Leben, welches begann, als sein Vater ihn und seine alkoholkranke erste Frau ablegte wie ein stinkendes Paar Socken, sich eine neue Familie suchte und fortan Joni und Janis zu seinen Lieblingskindern machte.


    Die Ereignisse spitzen sich dramatisch zu, als Sigerius Gewissheit über die Machenschaften seiner Stieftochter und seines Schwiegersohnes in spe erlangen will und sich Zugang in dessen Haus und das darin versteckte Fotostudio verschafft. In einer aberwitzigen Szene kommt es zur Konfrontation von Sigerius mit seiner Stieftochter, die daraufhin ihrem labilen Freund Aaron den Laufpass gibt, ein Bündnis mit Wilbert eingeht, der sich wiederum mit erpresserischen Absichten an seinen leiblichen Vater wendet. Am Ende gibt es einen Toten, eine Leiche in einer Bandsäge, einen Selbstmord, eine Einweisung in die Psychiatrie und eine Familie, deren Existenz wie durch einen kosmischen Hammerschlag pulverisiert wird.


    Wie ein Berserker wütet Buwalda in den vorbelasteten Banden seiner zusammengewürfelten Familie und läßt dabei keinen Stein auf dem anderen. Daß bei aller Ereignisfülle, den sich überschlagenden Ereignissen und familiären Zuspitzungen, bei denen es schließlich um Leben und Tod geht, der Plot immer glaubwürdig bleibt, mag nicht zuletzt darin liegen, daß Buwalda seiner Dramatik um die Explosion seiner literarischen Familie einen historischen Überbau gibt, der die reale Entsprechung zur Handlung des Romans darstellt: am 13. Mai 2000 flog in Enschede eine Feuerwerksfabrik in die Luft, es gab 23 Tote und ein ganzer Stadtteil wurde seinerzeit in Schutt und Asche gelegt. Indem Buwalda seine fiktive Handlung um die Familie Sigerius mit den historischen Geschehnissen dieses Tages und der nachfolgenden Wochen verknüpft, verschafft er seinen Figuren und seiner Handlung eine großartige Präsenz und Realitätsnähe.


    Und noch etwas sollte nicht unerwähnt bleiben: Buwalda läßt seine Geschichte von verschiedenen Erzählern vortragen, läßt dabei innerhalb eines Erzählstranges in langen Rückblenden Vergangenes wieder präsent werden und springt auch in der Chronologie der Ereignisse vielfach vor und zurück. Daß ihm dabei der rote Faden nicht verloren geht und auch der Leser zu keinem Zeitpunkt darüber ins Schleudern kommt, an welcher Stelle der Ereignisse er sich gerade befindet, ist so gekonnt, überlegt und souverän gemacht, daß wir uns als Leser verwundert die Augen reiben müssen, daß es sich bei „Bonita Avenue“ um Buwaldas Erstling handelt. Es kann ( hoffentlich ) kein Zweifel bestehen: Wer ein solches Debut hinlegt, von dem wird noch viel zu hören und zu lesen sein.


    Mein Fazit: ein unglaublich gutes Buch und eine unglaublich gute Darstellung und Analyse unserer aktuellen gesellschaftlichen Epoche. In Falle dieses Romans üben große Literatur und große Unterhaltung einen Schulterschluß, wie er eben nur bei den wirklich bedeutenden und überdauernden Werken einer Literaturepoche festgestellt werden kann. Ich habe in den vergangenen Monaten keinen besseren Roman gelesen.

    Milan Kundera ist sicher einer der wichtigsten europäischen Autoren des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Als kommerziell und literarisch erfolgreichster Roman ist „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ von 1984 zu nennen, auch „Die Unwissenheit“ aus dem Jahr 2000 hat mir sehr gefallen. Mein Liebling unter seinen vielen Romanen aber ist „Der Scherz“ von 1965, Kunderas große Abrechnung mit der stalinistischen Diktatur in seiner tschechischen Heimat. Überhaupt ist auffällig, daß sich die wichtigen Bücher des seit 1975 in Frankreich lebenden Schriftstellers mit seiner tschechischen Heimat, den Folgen des Kommunismus und der Immigration seiner Landsleute beschäftigen, während die späteren, in Frankreich geschriebenen Romane mit „außer-tschechischen“ Themen in ihrer Qualität doch sehr abfallen, als sei Kundera der ihm eigene Stoff abhanden gekommen.


    „Das Leben ist anderswo“ stammt von 1971 und ist, wenn man Wikipedia vertrauen darf, der letzte von Kundera in der Tschechoslowakei geschriebene, dort aber bis 1989 nicht veröffentlichte Roman gewesen. Entstanden zu einer Zeit also, als nach der Niederschlagung des Prager Frühlings die politische Eiszeit Einzug gehalten hatte und Kundera bereits zur Unperson erklärt worden war. Ein Buch also, welches unabhängig von Selbstzensur und politischer Rücksichtnahme entstehen konnte und deshalb kein Blatt vor den Mund nimmt.


    Erzählt wird die Geschichte Jaromils, der einzigen namentlich genannten Figur in der Geschichte. Jaromil ist vieles zugleich: er ist ein Dichter, er ist ein politischer Aktivist unter der roten Fahne der kommunistischen Umformung der Gesellschaft und er ist ein sensibler und liebender junger Mann. In erster Linie aber ist Jaromil ein Muttersöhnchen, ein unselbständiges Bürschlein voller Selbstzweifel, ein Mitläufer und Opportunist, ein infantiler und zutiefst verängstigter junger Mann und am Ende auch ein Verräter und Denunziant.


    Kundera spannt den zeitlichen Bogen seiner Geschichte über mehrere Jahrzehnte und streift so gleich mehrere Epochen der wechselvollen tschechischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: die Phase der politischen Unabhängigkeit zwischen den Kriegen, die deutsche Besatzung durch Hitlers Wehrmacht, die Befreiung durch die Rote Armee und schließlich, nach 1948, der gesellschaftliche Umbau hin zum Sozialismus stalinistischer Prägung.
    Von Beginn an ist es Jaromils Mutter, die der Entwicklung ihres Sohnes den von ihr gewünschten Stempel aufdrückt. Unbeeinflusst durch einen ( im Krieg gefallenen ) Ehemann, hält sie ihren Sohn klein, erzieht ihn zu emotionaler Abhängigkeit und redet ihm ein, er sei mit einem außerordentlichen dichterischen Talent und einer empfindsamen Künstler-Seele ausgestattet und zu Höherem berufen: welche Mutter wünschte sich nicht für ihren Sohn eine besondere Fähigkeit, eine höhere Gabe ?! Tatsächlich jedoch ist Jaromil nicht mehr als ein durchschnittlicher Knabe mit durchschnittlichen Fähigkeiten, seine ersten Gedichte nicht mehr als das Aneinanderreihen von poetischen Versatzstücken und Stilblüten, welche er sich bei anderen Dichtern abgeschaut hat. Tief in seinem Innern ahnt und befürchtet Jaromil, daß an ihm weit weniger Besonderes ist, als ihm die Mutter einzureden versucht, doch in seinem Drang nach Anerkennung und Bewunderung durch Andere entwickelt er skurrile Strategien, um von sich das gewünschte Bildnis des intellektuellen Dichters zu erzeugen. So sammelt er in einem Büchlein Zitate, Sinnsprüche und Redewendungen, um diese bei Bedarf abrufen zu können und sich in Gesprächen interessanter zu machen, seine Unsicherheit und seinen Mangel an individueller Persönlichkeit überspielt er, indem er von ihm bewunderte Menschen in Sprache und Ausdruck kopiert.


    Unter normalen gesellschaftlichen Umständen wäre Jaromil wohl das geblieben, was er tatsächlich ist, ein unsicherer und unbeholfener Junger Mann auf der Suche nach seinem eigenen Ich. Irgendwann hätte sich wohl seine Entwicklung normalisiert, er hätte herausgefunden, wie und wer er sein will, einen Beruf ergriffen, geheiratet…… Doch an dieser Stelle kommt der Kommunismus ins Spiel: In einer Phase größter Unsicherheit und Verbitterung erfährt Jaromil Halt in einer übergeordneten politischen Aufgabe, Anerkennung im gemeinsamen Streben nach dem gesellschaftlichen Umbruch, eine Ernsthaftigkeit und einen Absolutheitsanspruch, der Jaromils Streben und seinem Wunsch nach einer harten Männlichkeit entgegenkommt, in der Politik wie in der Liebe: Entweder die Zukunft wird neu sein, oder sie wird nicht sein ! Entweder die Liebe wird ausschließlich sein, oder sie wird nicht sein !!
    Und so kommt es, daß Jaromil nun opportunistische Gedichte über Traktorfahrer schreibt, über Soldaten und über Werktätige, die ihr Plansoll erfüllen; daß er nun verächtlich und, von seiner eigenen Wichtigkeit beseelt, mit geschwellter Brust auf Diejenigen herabsieht kann, zu deren Intellekt er einst bewundernd und unsicher aufschaute; und daß er aus Rache und Eifersucht den Bruder seiner Freundin an die Geheimpolizei denunziert, weil dieser das Land verlassen will und sich die Schwester an diesem letzten Abend lieber von ihrem Bruder verabschieden möchte, als die Zeit mit Jaromil zu verbringen, kurz: der Kommunismus bringt die schlimmsten Wesenszüge in Jaromil hervor, befördert diese und läßt sie ungeheuerliche Konsequenzen nach sich ziehen.


    Wie in allen Kundera-Romanen ist nicht der Kommunismus selbst das Hauptthema der Geschichte, er ist nur die Hintergrundfolie, vor der sich Beziehungen und Menschen entwickeln, einander in Liebe und Erotik begegnen, sich schließlich mißverstehen, einander verraten und am Ende vereinsamt und tief enttäuscht auseinandergehen. Allerdings verhehlt Kundera niemals, daß es der Kommunismus ist, der es den Menschen leicht macht, sich so und nicht anders zu verhalten, der den Verrat, die Denunziation und das Zerstören jeglichen Vertrauens begünstigt und fördert, in dem er die Menschen korrumpiert, verführt und aus politischen Erwägungen über Leichen geht. Zurück bleiben Menschen mit tiefen seelischen Verletzungen und gebrochenen Biographien, als verratene Opfer, aber auch als Täter und gescheiterte Menschen.


    Kunderas Figuren ist gemeinsam, daß sie ihrem Umfeld und ihrer Zeit hilflos gegenüberstehen, denn egal, ob Opfer oder Täter; egal, wie sie sich verhalten, werden beide am Ende doch betrogen und drängt sich ihnen das Gefühl auf, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. „Das Leben ist anderswo“, jene Worte, den die Pariser Studenten laut Kunderas Nachwort 1968 in ihrem Protest an die Mauern der Sorbonne schrieben, trifft deswegen auch auf Jaromil und alle anderen ihn umgebenden Figuren zu. Aus ihnen spricht eine tiefe Trauer und Resignation. Und die Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben.

    Was ich an Toibin´s Geschichten wohl am meisten schätze, ist die Tatsache, daß er über ganz normale Menschen und die kleinen Leute schreibt, über Hausfrauen, Angestellte, Arbeiter, Mütter und Töchter. Selbst wenn er, wie in seinem Henry James – Roman „Porträt des Meisters in mittleren Jahren“, über einen der ganz Großen der Literaturgeschichte schreibt, gerät ihm sein persönlicher Henry James ganz menschlich und zerbrechlich, mit allen Stärken und Schwächen, die ein Jeder von uns in sich vereint. Hierzu dient ihm eine sehr einfache und anschauliche Sprache, eine Erzählweise, die ohne wesentliche Höhepunkte auskommt, streng chronologisch voranschreitet und in einem ruhigen, langsamen Erzählfluß ihre Handlung vor uns ausbreitet.


    Toibin erscheint in seiner Art zu erzählen wie ein angelsächsischer Siegfried Lenz, doch fehlt den Toibin´schen Figuren die Unbedarftheit, leicht dümmliche Naivität und Beschränktheit, die viele der Lenz´schen Figuren ausmachen und deshalb ein wenig wie aus der Zeit gefallen anmuten lassen. Gerade bei Eilis, der Hauptfigur in „Brooklyn“, wird dies deutlich. Eilis ist einfach gestrickt, aber nicht dumm; sie ist unerfahren, aber nicht naiv und aus dem ängstlichen, verschüchterten irischen Mädchen wird eine selbstbewußte, junge amerikanische Frau, welche ihre großen Lebensentscheidungen zuletzt selbstbestimmt trifft, auch wenn diese mit emotionalen Härten verbunden sind. Im Vergleich zu Lenz sind die Figuren Toibins vielschichtiger, entwicklungsfähiger und lebensnäher.


    Toibin läßt den Leser das Schicksal der irischen Emigrantin schmerzlich und im Detail nachempfinden: Die Heimat mit ihren Lieben hat Eilis verlassen, in Brooklyn ist sie gut angekommen und hat sich hier auch bereits eingelebt, doch der Ort, an dem ihr Herz hängt, dem sie sich zugehörig fühlt, den hat sie in Irland gelassen. Die anfängliche Begeisterung über das Neue, die große Stadt, die vielen Menschen und die ständig wechselnden Eindrücke ist schnell verflogen: Da sind keine Straßenzüge, Plätze oder Orte, denen sich Eilis aufgrund einer alten Erinnerung zugehörig fühlt, keine Menschen, mit denen Eilis eine gemeinsame Geschichte teilt. Ohne Bezug zu ihrem Umfeld, als Niemand unter Vielen, bringt Eilis einen Tag nach dem Anderen hinter sich und mit der Zeit wird aus dem schmerzlichen Gefühl für die alte Heimat eine bloße Erinnerung, aus dem anfänglich noch herzzerreißenden Heimweh nicht mehr als eine emotionale Irritation, die Eilis schließlich zu beherrschen weiß. Mit der Zeit gewinnt sie Freunde, arbeitet an ihrem beruflichen Aufstieg und lernt sogar einen jungen Mann kennen, Toni, den sie liebgewinnt und mit dem sie sich schließlich auch verlobt.


    Doch wie zerbrechlich und flüchtig diese Seßhaftigkeit und diese Eingewöhnung in ihr neues Umfeld ist, muß Eilis erfahren, als sie nach einem tragischen Ereignis zurück in die alte Heimat Irland gerufen wird, um ihrer Mutter beizustehen. Eilis ist es, als sei sie hier in Irland aus einem langen, lähmenden Traum erwacht, denn alles fühlt sich plötzlich lebendiger und richtiger an: es ist der Ort, zu dem sie gehört und an dem sie plötzlich wieder unbeschwert lachen kann. Und wie von selbst verkehren sich all diejenigen widrigen Umstände, welche sie einst aus Irland fortgeführt hatten, in ihr Gegenteil und bieten ihr plötzlich die Möglichkeit, hier, in ihrer alten Heimat, ein neues Leben zu beginnen: ihr wird eine Arbeit angeboten, es finden sich gute ( alte ) Freunde und auch ein respektabler Verehrer bemüht sich um Eilis´ Gunst. Merkwürdigerweise scheint es Eilis bereits nach wenigen Wochen so, als seien ihre Jahre und Monate in Brooklyn, ihre Arbeit dort, ihr Zimmer, ihre Freunde und ihr Verlobter Tony nichts weiter als eine ferne, verschleierte Erinnerung, wie ein Film, den man einmal gesehen, oder ein Buch, welches man einmal gelesen habe: Sie hat die Bilder ihres Lebens in Brooklyn deutlich vor Augen, doch es fehlt ihr jegliches Gefühl für dieses Dasein.


    Für welches Leben also wird sich Eilis entscheiden ? Wird sie den vermeintlich einfacheren Weg wählen und in Irland bleiben, wo sie sich zugehörig fühlt ? Oder wird sie sich an ihr Versprechen, welches sie Tony gegeben hat, erinnern, erneut Familie und Freunde verlassen, nach Brooklyn zurückkehren und dort ihr Ersatzleben, in welchem sie nicht zuhause ist, fortsetzen, in der Hoffnung, daß sie sich mit dem Vergehen der Jahre in dieses Leben einfindet und mit ihm aussöhnt ?


    Vilhelm Moberg, einer der größten schwedischen Dichter des 20. Jahrhunderts, hat mit seinem vierbändigen Epos „Die Auswanderer“ wohl eine der eindrücklichsten literarischen Verarbeitungen des Themas Emigration geschaffen. Hier ist es Kristina Nilsson, welche mit ihrem Mann Karl-Oskar um 1850 die schwedische Heimat und ihre Eltern verläßt und sich in Minnesota in den USA niederläßt: damals eine Reise ohne Wiederkehr, ein Abschied für immer. Trotz des wirtschaftlichen Erfolges, gesellschaftlicher Anerkennung und der Gründung einer großen Familie in Amerika kann Kristina den Verlust der Heimat zeit ihres Lebens nicht überwinden, mit ihren Kindern wird es erst der nächsten Generation vorbehalten sein, unbelastet durch die emotionale Bindung an die alte Heimat, sich mit ihrem neuen Leben zu identifizieren und sich in diesem Leben heimisch zu fühlen.


    Ähnliches dürfen wir auch für Eilis vermuten: aus ihr ist zwar eine lebenstüchtige, junge Frau geworden, die sich die Entscheidungen für ihr Leben nicht mehr aus der Hand nehmen läßt, doch deutet nichts darauf hin, daß es ihr schließlich gelingen wird, ihre Zerrissenheit zu überwinden und an einem der beiden Enden der Welt glücklich und versöhnt anzukommen.


    Mein Fazit: ein sehr stiller Roman, der mich deshalb aber umso mehr berührt hat, weil er eine detaillierte Seelenschau betreibt und mich als Leser tief in Eilis´ Gefühlswelten hat blicken lassen. Ich kann „Brooklyn“ deshalb von ganzem Herzen empfehlen.

    Zumindest eines kann man Martin Suter nicht vorwerfen: Daß es seinen Romanen an Unterhaltsamkeit mangelt. Sie sind flott geschrieben, die Dialoge sind schmissig und die Geschichten mit Witz und Rafinesse erzählt. Alles in Allem garantiert ein Suter-Roman einen kurzweiligen Sonntag-Nachmittag auf dem Sofa oder zwei, drei Lese-Abende im Bett vor dem Einschlafen. Den meisten Suter-Romanen ist gemein, daß ihre Helden aus alltäglichen Lebensumständen in schräge, skurrile Situationen geworfen werden: Es geht um Persönlichkeitsveränderung und –verlust, der Suche nach Identität und Selbstfindung, oft unter abenteuerlichen und irrwitzigen Umständen, doch stets auf der Basis realitätsnaher Erfahrungswerte von Protagonisten und Lesern.


    Der Bär, den uns Suter mit seinem Roman „Die Zeit, die Zeit“ aufbinden will, ist dann aber doch etwas zu groß, als daß wir ihm diesen ohne Weiteres abnehmen könnten. Die Idee der beiden Protagonisten und Witwer, mit der exakten Rekonstruktion einer Umgebung, wie sie vor einer Zeitspanne X, an einem bestimmten Tag, bestanden hat, diese Zeit ungeschehen zu machen und damit die Toten wieder herbeizuzaubern, ist so hanebüchen und abwegig, daß hinter dieser Geschichte eigentlich keine tiefere oder ernstzunehmende Absicht des Autors erkannt werden kann.


    Nein, nachdenklich macht die Geschichte um Peter Taler, Herrn Knupp und ihren Modellbau im Maßstab 1:1 zu keiner Sekunde. Ebensowenig, wie der Gebrauch des Zaubertranks in den Asterix und Obelix-Comics den Leser ernsthaft über Drogenmißbrauch reflektieren läßt, oder das Hören einer 3-Fragezeichen-Cassette den Hörer über die Schlechtigkeit der Welt grübeln läßt, vermag das bei Suter dargestellte Szenario wirkliche Denkanstöße hinsichtlich der Definition und den Bedingungen von Zeit zu vermitteln, zu blödsinnig ist die Idee einer Aufhebung der Zeitabläufe.


    Auch geraten Suter die sich hinziehenden Schilderungen der zu rekonstruierenden Bestandteile der längst vergangenen Umgebung des einen Tages um Vieles zu lang: Dort der Baum, hier der Busch, ein Terrassenbelag, eine Hausfassade, drei Autos, ein Sandkasten und noch ein Apfelbäumchen. Fensterläden, Inneneinrichtungen, eine Bild-Zeitung und ein Zaun: Im Detail wird geschildert, wie welcher Gegenstand, welches Gehölz unter welchen Bedingungen und Schwierigkeiten rekonstruiert wird, über Seiten und Seiten und Seiten.


    Zugegeben, der Schluß des Buches ist originell. Aber nur als überraschendes Ende einer kurzweilig zu lesenden Geschichte, keinesfalls jedoch als denkwürdiges Finale eines ernstzunehmenden literarischen Textes. „Die Zeit, die Zeit“ ist ein Unterhaltungsroman im besten Sinne. Ihn als Literatur zu bezeichnen, geht womöglich etwas zu weit und wird den früheren Romanen Suters nicht gerecht.

    Alles in Ordnung im Hause der Familie Torres-Thompson, zumindest hat es den Anschein: ein riesiges Haus in einem bewachten Wohnviertel, der Ausblick auf den Pazifik, zwei bildhübsche Jungen auf einer Privatschule und eine Mutter, die sich mit Inbrunst um die intellektuelle Stimulierung ihres Nachwuchses sorgen kann, ohne sich um den Broterwerb kümmern zu müssen. Schließlich stellt der Vater, leitender Manager in einem IT-Unternehmen für Sicherheits-Software, mit seinem abnormen Gehalt die finanzielle Unabhängigkeit seiner Familie sicher.


    Mit Maureen und Scott Torres-Thompson präsentiert uns Hector Tobar das Vorzeigepaar des amerikanischen Traums im Süden Kaliforniens: Jung, reich, gebildet und elitär. Bewußt schotten sich Maureen und Scott vom Pöbel der Außenwelt ab, denn längst stellen die lateinamerikanischen Einwanderer die Mehrheit der Bevölkerung dar, machen Kriminalität und Drogenhandel manche Stadtteile unpassierbar und die meisten Schulen für die eigenen Kinder nicht mehr annehmbar. Allein die mexikanischen Hausangestellten, zuständig für Garten, Haushalt und Kinderbetreuung, stellen eine Verbindung zum Leben außerhalb der terrakottafarbenen Fassaden her. Beide Eltern geben sich ihren Angestellten gegenüber aufgeschlossen, tolerant und freundlich, aber auch das ist nur Fassade: weder bezahlen sie sie anständig, noch interessieren sie sich wirklich für ihre Hintergründe und Lebensgeschichten, nicht einmal ihre Nachnamen sind Scott und Maureen geläufig.


    Doch neuerdings läuft es nicht mehr rund: Scott hat sich mit Aktiengeschäften verspekuliert, das angelegte Geld ist dahin, sparen ist angesagt. So werden Gärtner und Kindermädchen kurzerhand entlassen, allein die Hauswirtschafterin Araceli Sanchez darf bleiben, um Haus und Küche in Ordnung zu halten. Schnell wird augenfällig, daß das Gärtnern nicht Scotts Sache ist und auch Maureen zeigt sich mit der Bespaßung ihrer beiden Zöglinge nebst ihren alltäglichen Pflichten und Aufgaben etwas überfordert. Auch die Einschränkungen bei der Ausgabe des nicht mehr so üppig sprudelnden Geldes fallen Maureen schwer, schließlich will sie um buchstäblich jeden Preis vermeiden, daß die Nachbarn und Bekannten Wind von ihren finanziellen Engpässen bekommen. Kurzentschlossen läßt sie für einen stolzen 4-stelligen Betrag den von Scott vernachlässigten tropischen Garten in eine pflegeleichte Wüstenlandschaft umgestalten.


    Weil bekanntlich bei Geld die Freundschaft aufhört, geraten Scott und Maureen über die überflüssigerweise getätigte Ausgabe in einen handfesten und handgreiflichen Ehestreit. Und weil nach einer getrennt verbrachten Nacht beide Ehepartner spontan und jeder für sich beschließen, sich selbst eine kurze Auszeit zu gönnen, erwacht am nächsten Morgen die mexikanische Haushälterin Araceli mit den beiden Torres-Thompson-Söhnen Keenan und Brandon in einem leeren Haus, ohne irgendeine Ahnung zu haben, wohin und für wie lange sich Hausherr und Hausherrin abgesetzt haben.


    Was also tun ? Scott und Maureen sind telefonisch nicht erreichbar, also macht Araceli zunächst weiter wie bisher: sie putzt, räumt auf, bereitet die Mahlzeiten, kümmert sich um die Wäsche und versorgt die beiden zurückgebliebenen Kinder. Doch nach vier Tagen werden die Vorräte knapp und nach wie vor weiß Araceli nicht, wann Vater und Mutter sich bequemen, wieder nach Hause zu kommen. Und da sie für das Kinderhüten auch gar nicht bezahlt wird, entschließt sie sich kurzerhand, die Jungen nach Los Angeles, zum Großvater zu bringen, damit dieser sich der beiden annimmt. Von diesem hat Araceli allerdings nicht viel mehr als eine alte Schwarzweiß-Fotografie und eine alte, womöglich längst nicht mehr aktuelle Adresse.


    So beginnt für Keenan und Brandon in Aracelis Obhut eine Odyssee durch die unappetitliche Realität des wahren Lebens. Zum ersten Mal in ihrem behüteten Leben fahren sie Bus und Zug, sie durchqueren die finsteren Vororte und Industriegebiete der Stadt, sehen Obdachlose, kommen in Kontakt mit anderen mexikanischen Immigranten, mit ärmeren und einfacheren Bevölkerungsschichten, welche ihnen in ihrem bisherigen Leben schamvoll vorenthalten wurden. Ihnen ist diese US-amerikanische Realität derart fremd, daß sie die gesehenen Bilder eher mit den Geschichten aus den von ihnen gelesenen Fantasyromanen in Einklang bringen können als mit der Wirklichkeit.


    Was für die beiden Torres-Thompson-Söhne daher wie ein großes Abenteuer wirkt, ist für die Eltern Maureen und Scott nichts Anderes als eine Kindesentführung, als beide nach ihrer Rückkehr das Haus leer vorfinden und entsetzt feststellen müssen, daß die Kinder sich nicht, wie angenommen, beim jeweils anderen Elternteil befinden. Mit der Einschaltung der Polizei beginnt nun erst der eigentliche Alptraum. Die Eltern geraten in das Visier der Ermittler und des Jugendamtes, begierig stürzen sich Presse und Medien auf die Story von den beiden blonden Knaben, entführt und womöglich über die Grenze verschleppt von der mexikanischen Haushälterin. Das Haus der Torre-Thompsons wird von Fernsehteams belagert, Hubschreiber kreisen über der Gegend und der Nachrichtenticker verbreitet die aktuellsten Entwicklungen im vermeintlichen Entführungsfall. Ob gefragt oder ungefragt: Nachbarn, Bekannte und gänzlich fremde Menschen sind schnell mit einem unerschütterlichen Urteil zugunsten oder zuungunsten der einen oder anderen Seite zur Stelle.


    Auch als das Mißverständnis aufgeklärt ist, Araceli sich schließlich meldet, nachdem sie ihr Fahndungsfoto im Fernsehen gesehen hat, die Kinder der Polizei übergibt und verhaftet wird, legt sich die öffentliche Aufregung nicht, fordern die Einen eine harte Bestrafung der Mexikanerin, die Anderen eine Anklageerhebung gegen die schlechten Eltern: Die sachliche Diskussion um den eigentlich harmlosen Hergang der Geschichte ist längst abgelöst worden durch das öffentliche Austragen von teils rassistischen, teils gesellschaftsspezifischen Vorurteilen, Ressentiments und politischen Interessenvertretungen.


    Am Beispiel der kleinen mexikanischen Haushälterin verdeutlicht Tobar auf eindrucksvolle Weise, wie tief gespalten eine US-amerikanische Gesellschaft ist, in der sich amerikanische und spanische, arme und reiche, gebildete und ungebildete Teile einer Gesellschaft gegenüberstehen und voneinander separieren, ohne auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, sich einander anzunähern, Kompromisse oder Verständigung zu suchen. Stattdessen sind Neid, Mißgunst, Rechthaberei und Verurteilung anderer Menschen die Triebfedern der handelnden Personen, geschürt durch die verinnerlichte Notwendigkeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolges und Aufstiegs auf der einen, und die Angst vor Versagen, gesellschaftlichem Abstieg und finanziellem Ruin auf der anderen Seite.


    Daß diese Sicht der Dinge aus den unterschiedlichen Perspektiven mehrerer beteiligter Personen absolut glaubwürdig abgehandelt wird, ist sicherlich einer der Stärken des Romans, verkehrt sich im letzten Drittel allerdings in das genaue Gegenteil: Tobar zerrt zu viele Meinungen in den Fokus, führt immer neue Figuren von untergeordneter Wichtigkeit ein und läßt sich diese lang und breit über Einwanderungspolitik, Rassismus und Vorurteile ausbreiten. Daß er dabei über einen allwissenden Erzähler die Gefühle und Gedanken sämtlicher Personen nachvollziehen kann, wirkt zunächst etwas anachronistisch und altbacken, gegen Ende aber zunehmend störender und weniger glaubhaft.


    Mein Fazit: „In den Häusern der Barbaren“ ist ein überaus interessanter Roman, weil er uns einen tiefen Einblick in eine zerrissene und von Angst und Mißtrauen geprägte amerikanische Gesellschaft bietet, der uns über andere Medien ansonsten nur oberflächlich wiedergegeben wird. Eine Straffung der Geschichte und eine Konzentration auf die wichtigeren Figuren hätte dem Roman im Endspurt allerdings gutgetan. Es bleibt daher wohl abzuwarten, ob Hector Tobar seine literarischen Mittel in einem nächsten Roman besser und gezielter einzusetzen weiß.

    Im deutschen Sprachraum ist Milan Kundera derjenige unter den tschechischen Schriftsteller, den wir mit seinen Romanen „Der Scherz“ oder „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ als den Chronisten seiner tschechischen Heimat unter stalinistischer und kommunistischer Diktatur kennen. Milan Kundera ging 1975 in das französische Exil und konnte sich ab diesem Zeitpunkt ohne Rücksicht auf Zensur oder Verfolgung in das Bewußtsein der europäischen Literatur schreiben. Ein anderer, nicht minder begabter Schriftsteller gleichen Alters hingegen blieb in seiner tschechischen Heimat, erduldete 20 Jahre Publikationsverbot, Parteiausschluss, gesellschaftliche Ächtung und eine Veröffentlichung allenfalls in Übersetzungen außerhalb der Tschechoslowakei. Als dort 1989 mit der samtenen Revolution der Kommunismus endete, war Ivan Klíma schon ein älterer Herr, seine Romane und Erzählungen weitgehend unbekannt. Bis heute hat sich an diesem Umstand wenig geändert, obgleich aus seiner Feder mit dem Roman „Warten auf Dunkelheit, warten auf Licht“ ein tief beeindruckender Roman über Gewinner und Verlierer der politischen Zeitenwende von 1989 stammt.


    Der Held dieses Romans ist Pavel Fuka, Mitte Vierzig und Kameramann beim Tschechischen Staatsfernsehen. In seiner Jugend unternahm er gemeinsam mit seinem Freund und Kommilitonen Petr einen Fluchtversuch in den Westen, wurde erwischt, exmatrikuliert und verbüßte anschließend eine 5-jährige Lagerhaft, ehe er 1968 in Zeiten des politischen Tauwetters, welches wir als „Prager Frühling“ kennen, schließlich begnadigt wurde und per Fernstudium seine Ausbildung zum Filmschaffenden nachholen konnte. Während sein Freund Petr anschließend in das innere Exil ging und sich auf dem Land als Kastellan, als staatlich bestellter Hausherr, Hausmeister und Aufpasser in einem Schloß, niederließ, ohne sich dem System je andienen zu müssen, begann Pavel seine Arbeit beim Fernsehen.


    20 Jahre später, im Herbst 1989, steht die tschechische Gesellschaft kurz vor der samtenen Revolution. Pavel Fuka ist als Kameramann bei den ersten großen Demonstrationen in Prag dabei und hält fest, wie Polizei und Staatsmacht brutal und rücksichtslos gegen junge Menschen vorgeht, wohlwissend, daß der Größte Teil der Aufnahmen der Zensur zum Opfer fallen oder dem Geheimdienst als Beweismaterial für die Verfolgung von „Rädelsführern“ und „Störenfrieden“ dienen wird. Im Gegensatz zu Petr hat sich Pavel längst mit der Staatsmacht arrangiert: er filmt, wenn bei Partei- und Betriebsversammlungen Beschlüsse gefasst oder Personen gewählt werden, die von vornherein feststehen, wenn der greise Staatspräsident eine seiner nichtssagenden und aus Versatzstücken bestehenden Reden hält, seinen Geburtstag feiert oder andere Staatsoberhäupter empfängt - Pavel ist damit zum kleinen aber nützlichen Rädchen im großen kommunistischen Staatsgetriebe geworden, demselben Staat, dem er einst als junger Mensch entfliehen wollte. Seine Hoffnung auf ein besseres, selbstbestimmtes Leben hat Pavel längst begraben, zu groß ist seine Furcht vor einer erneuten Konfrontation mit der Stärke der Staatsmacht. So kommt es, daß Pavel ziellos durch sein Leben streunt, freudlos, müde, ohne feste Bindungen, Freunde oder eine höhere Aufgabe. Seine Beziehung zu Eva ist oberflächlich, zu groß ist seine Scheu vor ihrer Nähe, ihrem Wunsch nach Heirat und Kindern.


    Auch die sich abzeichnende politische Wende mit ihren am Horizont erkennbar werdenden Chancen und Möglichkeiten versetzt Pavel Fuka in Angst. Zu welcher Seite wird man ihn zählen ? Wird er von den Gewinnern der Revolution als Mitläufer, als Opportunist verurteilt und zur Rechenschaft gezogen werden ? Oder wird er nun seine schon vor vielen Jahren abgelegten Träume nach einer Arbeit ohne Zensur oder Einschränkung verwirklichen und endlich sein seit vielen Jahren vorbereitetes Drehbuch verfilmen können ?


    Als nach dem Machtwechsel nicht nur Präsidenten und Politiker ausgetauscht werden, sondern auch in der Fernsehredaktion die leitenden Posten neu besetzt werden ( ausgerechnet Petr, Pavels Jugendfreund und ehemaliger Fluchtgefährte, wird mit der Leitung des Fernsehsenders betraut ), nimmt Pavel von sich aus seinen Hut, um einem Rausschmiß zuvorzukommen. Doch statt nun endlich frei zu arbeiten und seinen lange erträumten, eigenen Film zu drehen, geht Pavel in die neu entstehende Werbebranche, läßt sich sogar dazu herab, billige Erotik-Videos zu drehen, und verschiebt sein Film-Projekt, und damit auch den späten Beginn seines neuen, eigenen Lebens, einmal mehr nach hinten, in eine unbestimmte Zukunft. Pavel Fuka bleibt sich selbst ein Fremder, nur daß er jetzt nicht mehr die politischen Verhältnisse für sein Zaudern verantwortlich machen kann.


    Menschen, denen über Jahrzehnte jeder Antrieb und jede Lust am Gestalten ihres eigenen Daseins systematisch ausgetrieben wurde, ändern ihr Wesen nicht, nur weil das politische System plötzlich ein anderes ist. Am Beispiel Pavel Fukas verdeutlicht Ivan Klima, daß der friedliche politische Neuanfang von 1989 nicht nur Gewinner, sondern vor allem viele, viele Verlierer hervorgebracht hat. Diesen hängen die bleiernen Fußfesseln der staatlichen Kleinmachung auch nach der Wende immer noch an den Knöcheln. Und auch die zwischenmenschliche Entfremdung läßt sich nicht von einem Tag auf den Anderen ablegen, zu groß sind die Gräben, welche die Mitläufer von den Regimekritikern einst trennten. Zurück bleiben sich fremde, vereinsamte Menschen mit gebrochenen Biographien und ohne jede Hoffnung auf eine nachträgliche Aussöhnung und einen zwischenmenschlichen Neuanfang. Allein der jungen, unvorbelasteten Generation spricht Ivan Klima die Fähigkeit zu, tatsächlich eine versöhnliche und selbstbestimmte Zukunft gestalten zu können


    Den Leser hinterläßt die Lektüre von „Warten auf Dunkelheit, warten auf Licht“ mit einer tiefen Traurigkeit über das Schicksal des Pavel Fuka, aber mit einem guten Verständnis dafür, welche Verheerungen die Jahrzehnte der Diktatur in den Seelen der Menschen hinterlassen haben. Selten hat mich ein Roman auf ähnliche Weise berührt.

    Sollte einer der beiden Liebenden vor dem anderen sterben, so werde er dereinst am Ufer jenes dunklen, kalten Sees warten, bis auch der Andere gestorben sei, um dann gemeinsam die letzte Reise hinüber zur Toteninsel anzutreten. Dort werde man zusammen ein zweites Mal sterben, diesmal jedoch für alle Ewigkeiten und im Tode vereint.


    So versprechen es sich die Sinologie-Studenten Hinrich und Doro am Anfang ihrer Liebe und im Angesicht des Gemäldes „Die Toteninsel“ des Malers Arnold Böcklin. 25 Jahre später jedoch ist das Ende dieser Liebe ein gänzlich anderes: Doro ist tot, über der Korrektur eines aus Jugendtagen stammenden Romanfragmentes von Hinrich, einem mittlerweile anerkannten Experten und Uni-Professor, durch Herzschlag gestorben und über dem Schreibtisch zusammengesackt. Und was ihm Doro in ihren Korrekturen und Kommentaren, sozusagen als eine letzte Botschaft, hinterlassen hat, ist nicht von schlechten Eltern: Es ist eine haßerfüllte Abrechnung mit Hinrich, seiner Kleinkariertheit, seiner Verklemmtheit, seinem Chauvinismus, seinem Geltungsbedürfnis und seiner späten Umtriebigkeit in Bezug auf eine andere Frau.


    Denn Hinrich, den größten Teil seines Lebens stark kurzsichtig und ohne Brille blind wie ein Fisch, ließ sich mit 60 Jahren noch einmal die Augen lasern. Aus einer kleinen, durch seine Kurzsichtigkeit begrenzten Welt wurde plötzlich ein grenzenloses Universum voller optischer Verheißungen und Verlockungen und aus dem teetrinkenden Akademiker Hinrich Schepp ein ältlicher Draufgänger und Schürzenjäger am Thresen einer Kneipe: Es ist Dana, die Thekenfrau mit der Tätowierung eines chinesischen Schriftzeichens am Hals, welche es Schepp angetan und ihm den Kopf verdreht hat.


    Schade nur, daß auch Doro mitbekommen hat, wem das neuerlich geweckte Interesse ihres Ehegatten gilt, und so kommt es, daß sie ihm nach einem Vierteljahrhundert die Gefolgschaft aufkündigt – im Leben, und unglücklicherweise auch im Jenseits: keinesfalls wolle sie nun noch am Ufer jenes Sees auf ihn warten, schließlich habe sie 25 Jahre an seiner Seite verbracht, den Rest der Ewigkeit wolle sie bitteschön von ihm verschont bleiben. Und es kommt noch besser: posthum berichtet sie ihrerseits ihrem Ehegatten von einem Liebesverhältnis mit Dana, der tätowierten Thekenfrau.


    Für Schepp bricht eine Welt zusammen, schließlich hielt er seine Beziehung und Liebe zu Doro trotz seiner kurzen Anbändelung mit Dana ( welche übrigens mit einer satten Ohrfeige ihr unrühmliches Ende fand, ohne daß es auch nur zu einer kleinsten Liebestat gekommen wäre ) für intakt, Doro und sich selbst für ein glücklich alterndes Paar. Nun wird ihm durch die Abrechnung Doros seine Lebensillusion jäh zerstört, und was noch viel schlimmer ist: durch ihren Tod wird ihm für alle Zeiten die Möglichkeit genommen, sich zu rechtfertigen, Mißverständnisse gerade zu rücken und eine Aussöhnung zu versuchen.


    Matthias Politycki hat mit seiner 2010 erschienenen, knapp 130 Seiten langen Erzählung die Themen Liebe, Partnerschaft, Selbsttäuschung, Unaufrichtigkeit und verpasste Gelegenheiten zu einem Handlungsstrang verdichtet, der von seiner Grundidee zehrt: Was passiert in uns, wenn wir unser Leben und unsere Beziehungen im Rückblick als verfehlt anerkennen müssen und nicht die kleinste Chance verbleibt, es nachträglich zu korrigieren, es besser zu machen ?


    Dies ist im Prinzip ein guter Plot und ein gutes literarisches Motiv, auch ist die Erzählung durchaus gut geschrieben. Trotzdem fühlt sich der Leser bei aller handwerklichen Rafinesse und literarischer Könnerschaft des Autors unwohl bei der Lektüre. Und dieses Unwohlsein hat mehrere Gründe: Zu aufgesetzt und konstruiert wirken die beiden parallelen Erzählstränge – die Rückschau des Hinrich Schepp auf sein Leben zum Einen, das Romanfragment um Marek den Säufer zum Anderen, denn das hier beschriebene Leben der Romanfigur ist nicht mehr als eine 1:1 Kopie der Schepp´schen Biografie, lediglich die Namen der Personen sind andere. Mußte diese Verschränkung der realen mit der fiktiven Biografie des Hinrich Schepp wirklich sein ? Oder diente sie nur als mühsames literarisches Konstrukt für die Absicht des Autors, die tote Doro lediglich über ihre Korrekturen und Anmerkungen im Schepp´schen Text sprechen zu lassen ??


    Desweiteren finden sich im Text etliche inhaltliche Merkwürdigkeiten: Warum ruft Schepp nicht den Arzt oder die Polizei, nachdem er seine tote Frau findet, sondern läßt ihren Leichnam noch einen ganzen Tag in der Wohnung bereits stinkend herumsitzen, während er hin und her läuft, liest, nachdenkt, grübelt, sinniert und sich an sein zurückliegendes Leben erinnert ? Und wie kann es innerhalb von nur einer Nacht zu einem derartigen Gefühlsstau kommen, daß Doro auf derart haßerfüllte Weise schriftlich ( ?? ) mit ihrem Ehegatten bricht, wo doch zwischen Schepp und der Thekenfrau Dana strenggenommen nichts weiter passiert ist, als daß Schepp im Suff Stielaugen bekommen und Dana ein paar Vulgaritäten ins Ohr gesäuselt hat ? Wäre dies nicht in einem kräftigen ( und natürlich mündlich vorgetragenen ) Streit klarzustellen gewesen statt in dem Verfassen einer Kritik an einem literarischen Jugendwerk des Lebenspartners ?


    All dies sind Fragen, die aus dem Text heraus nicht beantwortet werden können, die aber das mühsam konstruierte Gerüst der Erzählung herausstellen. Schlußendlich kommt die merkwürdig aufgesetzt wirkende Sprache hinzu. Welchen Sinn macht es, die deutsche Rechtschreibung zu ignorieren und Hilfsverben fehlen zu lassen. Ein Beispiel von Seite 11: „Schepp starrte auf die hellen Druckflächen, die er Doro trotz aller Vorsicht zugefügt.“, oder von Seite 82: „Er versicherte sich, daß ihre Hände noch da lagen, wie er sie gefaltet.“ Erst nach dem dritten unvollständigen Satzende wurde mir klar, daß es sich keinesfalls um Druckfehler handelte, sondern um eine beabsichtigte Beugung der Rechtsschreibung durch den Autor. Und mit zunehmender Dauer der Lektüre empfand ich die Unterschlagung der Hilfsverben als Ärgernis.


    Mein Fazit: Die „Jenseitsnovelle“ taugt für einen kurzweiligen Lesenachmittag auf dem Sofa, einen bleibenden Eindruck vermag sie allerdings nicht zu hinterlassen.

    Es ist ungefähr 15 Jahre her, daß ich „Der Idiot“ von Dostojewskij das erste Mal gelesen habe. Undeutlich erinnerte ich mich daran, daß ich seinerzeit mit den langen russischen Namen ( die für mich alle irgendwie ähnlich klangen ), ihren unterschiedlichen Kurz- und Koseformen ein wenig durcheinandergekommen bin, daß ich deshalb die Beziehungen der Personen untereinander nur in Teilen verstanden, größere Abschnitte nur überflogen und letztlich nicht wirklich verstanden habe, worum es in dem Roman geht, was es mit Fürst Lew Myschkin, dem titelgebenden Idioten auf sich hat. Nun, viele Jahre später, und nachdem ich zwischenzeitlich mein lesendes Herz an Tolstoi verloren habe, wollte ich einen Neuanlauf wagen und sehen, was mir der zweite der beiden großen russischen Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert an Leseerlebnissen geben könne und wie das Buch heute auf mich wirke.


    Zunächst: Das Dilemma mit den russischen Namen ist das alte geblieben. Ob Semjon Parfjonowitsch, Nikolai Andrejewitsch, Nastassja Filippowna oder Nina Alexandrowna - nach Einführung der 20. Person fiel es mir zunehmend schwerer, die Übersicht nicht zu verlieren, zu ähnlich klingen diese russischen Buchstaben-Aneinanderreihungen für meine mitteleuropäischen Ohren. Allerdings ist meiner Ausgabe ein erschöpfendes Namensregister angehängt und nach fleißigem und wiederholt vollzogenem Vorblättern zu diesem Register saßen die Namen und die familiären Zugehörigkeiten der Personen irgendwann. Vor allem gelang es mir, diesen Namen dann die von Dostojewskij zugeordneten Charaktaristika der jeweiligen Personen intuitiv zuzuordnen und in meinem Kopf ein Bild zu formen, sie vor mir zu sehen.


    Hat man diese Hürde überwunden, erschließt sich dem Leser ein Breitwandporträt der adeligen russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts: Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin kehrt nach einem mehrjährigen Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium, in dem er wegen seiner Epilepsie behandelt wurde, zurück nach St. Petersburg. Dort angekommen, wird Myschkin von der Familie Jepantschin, mit deren Hausherrin ihn eine entfernte Verwandtschaft verbindet, aufgenommen und umgehend in die Gesellschaft eingeführt. Innerhalb weniger Tage trifft er auf Aglaja Jepantschina, die schöne und vor allem unverheiratete Tochter des alten Generals Jepantschin, auf Rogoschin, einen zwielichtigen, zu Trunksucht und Gewalt neigenden jungen Mann; und er trifft auf Nastassja Filippowna, jene Femme Fatale der St. Petersburger Gesellschaft, die einerseits aufgrund ihrer Schönheit, ihres Vermögens und ihrer Bildung gerühmt und bewundert wird, die andererseits aber aufgrund ihrer Unabhängigkeit, ihres exzentrischen und eigenwilligen Wesens und ihrer selbstzerstörerischen Neigung, gesellschaftliche Konventionen mit Füßen zu treten, gefürchtet und verachtet wird.


    Myschkin ist die Verkörperung aller wahrhaft menschlichen Tugenden in reinster Form: ihn leiten weder Eitelkeit noch Geltungsbedürfnis, sein Handeln und Tun ist weder Berechnung noch Verstellung, im Gegenteil: Sein Wesen ist von Ehrlichkeit, Gutmütigkeit und Emphatie geprägt und seinen Mitmenschen begegnet er mit Sanftheit, Offenheit und Liebe. Fast erscheint er deshalb wie ein Heiliger, wie ein Christus des 19. Jahrhunderts. Im Kontrast hierzu steht die geschilderte Gesellschaft, in welche Myschkin eintritt. Die in ihr handelnden Personen sind gekennzeichnet durch Verstellung, Intrigen, das Hervorheben und Zurschaustellen falscher Äußerlichkeiten und ein schier grenzenloses Streben nach Profilierung und gesellschaftlicher Geltung.


    Ein um das andere Mal gerät Myschkin im Wirrwarr dieser Fallstricke ins Straucheln: Er verplaudert sich, plappert ihm anvertraute Geheimnisse aus, befremdet Andere mit der Offenheit seiner Sprache, der entblößenden Darlegung seiner Gefühle, sagt wahrheitsgemäß seine Meinung bei Gelegenheiten, zu denen er besser geschwiegen hätte und ergreift vehement Partei für Menschen, über die das gesellschaftliche Todesurteil längst gefällt wurde. So verkehren sich seine eigentlich besten Charaktereigenschaften aus dem Blickwinkel einer auf Täuschung und Schauspiel ausgerichteten Gesellschaft in etwas Negatives: Aus Offenheit und Zutrauen werden Leichtgläubigkeit, aus Freundlichkeit wird Naivität, aus dem Guten Menschen Myschkin wird der titelgebende Idiot.


    Myschkin zeigt sich den Intrigen und Beeinflussungen seiner Mitmenschen nicht gewachsen. Er wird, je nach Interessenlage und Nutzen, mal vor diesen, mal vor jenen Karren gespannt. Zwar erkennt und bewundert ein Jeder seine reine Seele, seine Unfähigkeit zur Verstellung und seine kindliche Unschuld, dennoch weiß niemand sich an ihm ein Beispiel zu nehmen und sich im entscheidenden Moment moralisch und ehrenwert zu verhalten und damit aus dem gesellschaftlichen Diktat der Zurschaustellung auszubrechen.


    Aus Mitleid entwickelt Fürst Myschkin leidenschaftliche Gefühle für Nastassja Filippowna, jene „gefallene Frau“, in der er eine Seelenverwandte entdeckt zu haben glaubt. Doch diese, unschlüssig in ihrer Zuneigung, standfest allein in ihrem Bestreben, sämtliche Konventionen und gesellschaftlichen Rituale verächtlich zu negieren, gibt dem Fürsten in letzter Minute einen Korb und flieht vor dem Traualtar, Hand in Hand mit Rogoschin, jenem dunklen, fast diabolischen Gegenspieler Myschkins. Auch mit Aglaja Jepantschina, zu der Myschkin von Außenstehenden aus gesellschaftlichem Kalkül solange eine Liebesbeziehung eingeredet wird, bis dieser selbst daran glaubt, verscherzt er es sich, als er sich, hin- und hergerissen zwischen den beiden Frauen, weder für die eine, noch für die andere entscheiden kann.


    Es kommt, wie es kommen muß: Myschkin scheitert am Ende an seinem untadeligen Charakter, welcher es ihm unmöglich macht, die Verstellungen und Verrenkungen einer pervertierten Gesellschaft mitzumachen und wird deshalb, nach einem weiteren epileptischen Anfall, auch physisch erneut zum Idioten.


    Dostojewskij schildert dies vor dem Hintergrund einer sich verändernden russischen Gesellschaft. Der alten Klassenstände überdrüssig, entledigt sich das russische Volk seiner traditionellen Vorbilder und überkommenen Werte. Gläubigkeit, Obrigkeitshörigkeit, Gehorsam und Gefügigkeit geraten in den Hintergrund, ohne daß neue Wertmaßstäbe sie gleichwertig ersetzen könnten. Nihilistische, anarchistische und beginnende sozialistische Denkweisen treten, vor allem bei jüngeren Menschen, an deren Stelle. Doch ist dies, bei allem Respekt vor der Leistung der bildlichen und umfassenden Darstellung eines gesellschaftlichen Umbruchs, für den heutigen Leser eher nebensächlich.
    Erstaunen muß vielmehr, wie Dostojeswkij seine Figuren entwickelt und ihnen ein psychologisches Tiefenprofil gibt, welches nur bewundert werden kann. Bis ins Detail ist jede Verstimmung, jede Verzweiflung, jedes Aufbegehren und jede Euphorie im Handeln eines Myschkin, eines Rogoschin oder einer Nastassja Filippowna nachzuvollziehen, so unterschiedlich die individuellen Beweggründe auch sein mögen. Daß dabei auch Längen entstehen, wenn Dostojewskij auf vielen, vielen Seiten eine entscheidende Szene oder eine emotionale Entwicklung in einer der Personen vorbereitet, schmälert das Lesevergnügen zwar manchmal ein wenig, aber nicht erheblich.


    Mein Fazit: Im direkten Vergleich zu Tolstoi fällt „Der Idiot“ ein wenig ab, denn er ist etwas handlungsärmer und in einigen Passagen etwas zu langatmig. Dennoch gibt es immer wieder Szenen oder Handlungsstränge, in denen das ganze Genie dieses Schriftstellers aufblitzt und demonstriert wird, was große Literatur darzustellen imstande ist. Mit Sicherheit wird dies nicht mein letzter Dostojewskij gewesen sein, im Gegenteil: mit „Böse Geister“ steht der nächste schon im Buchregal.

    Der Oktober ist Buchmessen-Zeit, jedes Jahr gibt es ein anderes Gastland und jedes Jahr werden in Vorbereitung auf die Buchmesse neue, lang vergessene oder bisher unbekannte Autoren des jeweiligen Gastlandes ausgegraben, wiederentdeckt, neuübersetzt und deren Bücher auf den deutschen Markt geworfen. Den Überblick kann man bei der Flut der jeweils erscheinenden Werke leicht verlieren, doch immer sind auch einige literarische Perlen dabei, die Einen jedes Jahr auf´s Neue der Buchmesse voller Spannung entgegenfiebern lassen.


    2011 war Island das Gastland der Frankfurter Buchmesse und eines der außergewöhnlichsten Bücher aus der Menge der Neuerscheinungen war „Schwarze Vögel“ des 1975 verstorbenen isländischen Dichters Gunnar Gunnarson. Wie wir aus dem Nachwort erfahren, stammt der Roman selbst aus dem Jahre 1930 und wurde unter dem Titel „Schwarze Schwingen“ schon einmal ins Deutsche übersetzt. Aufgrund einer in das schriftstellerische Werk des Isländers Gunnarson hineininterpretierten Sympathie mit dem Nazi-Regime in Deutschland einerseits und einer Vereinnahmung Gunnarsons als „nordischer Erzähler“ durch die Nazis andererseits unterblieben nach 1945 bisher weitere Übertragungen oder Neuübersetzungen ins Deutsche.


    Gottlob wurde zwischenzeitlich erkannt, daß die lange postulierte Sympathie Gunnarsons zum deutschen Faschismus jeder Grundlage entbehrt und auch die Literatur im Allgemeinen sich des Lobes von falscher Seite nicht immer erwehren kann. So dürfen wir heute diesen ungemein spannenden und beklemmenden Roman neu entdecken und hoffen, daß künftig weitere Bücher aus dem umfangreichen Werk Gunnarsons den Weg in den deutschsprachigen Raum finden.


    Der Erzähler der 1804 an Islands rauher Westküste spielenden Handlung ist Eiúlfur Kolbeinsson, der junge Kaplan einer nur wenige Seelen zählenden Gemeinde am Fuße einer steilen Felswand. Das Leben an diesem Ende der Welt ist hart, denn die Winter sind lang und streng, die Sommer kurz und eine gute Ernte ungewiss. Die Menschen leben in Häusern aus Grassoden, sie sind arbeitssam, wortkarg und gottesfürchtig, denn Krankheiten und frühe Tode sind allgegenwärtig. Da kommt eines Tages der Bauer Bjarni von seinen abgeschieden liegenden Hof Sjöundá angeritten, in einem merkwürdig breiten und kurzen Sarg die Leichname seiner beiden Söhne und „Jungbauern“ und der Bitte, diese auf dem Gemeindefriedhof zu beerdigen. Für Eiúlfur ist dies ein Vorgeschmack auf die Menschenverluste, die noch kommen sollen und schon hier und jetzt beschleichen ihn böse Vorahnungen hinsichtlich der schicksalhaften Verstrickungen, mit denen er es noch zu tun bekommen wird.


    Bjarni ist verheiratet mit Gudrun, einer hustenden, schwächlichen und ewig nörgelnden Frau, und nach dem Tode seiner Söhne sieht sich Bjarni gezwungen, eine Hälfte seines Anwesens zu verpachten. So kommen der griesgrämige Jón, seine Frau Steinúnn und deren Kinder auf den Hof und beide Bauernpaare richten sich gemeinsam in der Einöde ein. Doch schon bald darauf ist Jón verschwunden, angeblich von den Raudúskridur, einer Reihe von Steilklippen, ins Meer gestürzt. Als dann wenig später auch Gudrun, die Frau von Bjarni, an ihrem alten Hustenleiden verstirbt, beginnt im Dorf das Getuschel und Gerede über Bjarni und Steinúnn, die nun allein und in „wilder Ehe“ mit der Schar ihrer beider Kinder auf Sjöunda in Sünde leben. Haben die beiden gemeinsam ihre unliebsamen Ehepartner umgebracht, um sich einander annähern zu können?


    Der Verdacht wird zur Vorverurteilung, als im Frühjahr der halb verweste Leichnam von Jón an das Ufer gespült und zur provisorischen Aufbewahrung in die Kirche gebracht wird. Natürlich ist kein Arzt oder Kriminalbeamter zugegen, denn die Passhöhen sind noch verschneit und der nächste Ort damit unerreichbar: So finden sich deshalb der Kaplan Eiúlfur Kolbeinsson und einige Bauern zu einer improvisierten und makabren Leichenschau in der eiskalten Kirche zusammen. Müßte Jon nicht sämtliche Knochen im Leib gebrochen haben nach seinem Sturz von den Klippen? Was bedeuten die Druckstellen und Verfärbungen am Brustkorb? Und ist das Loch im Hals, deren Tiefe die Anwesenden durch das Stochern mit einem Stock zu ermitteln suchen, die Folge eines Messerstiches? Obwohl niemand zu deuten vermag, was der Leichnam über die Todesursache auszusagen vermag, ist das Urteil über Bjarni und Steinúnn gefällt: sie werden gefangen genommen und der Gerichtsbarkeit des Landrichters Scheving überstellt.


    In Scheving begegnen wir der stärksten Figur des Romans. Auch für ihn steht fest, daß Bjarni und Steinúnn schuldig sind, wenn vielleicht auch nicht am Ableben ihrer ehemaligen Ehepartner, so doch auf jeden Fall durch ihr unmoralisches Verhalten, denn beide gestehen schließlich, über lange Zeit ein Verhältnis miteinander gehabt zu haben. In dem sich anschließenden Prozess, dem Kaplan Eiúlfur als Protokollant beiwohnt, tut denn Scheving alles, um Bjarni und Steinúnn dem Scharfrichter zuzuführen und aus den Angeklagten ein Mordgeständnis herauszupressen: er setzt Zeugen unter Druck, manipuliert Verteidigung und Anklage, poltert und tobt in seinem Gerichtssaal. Doch trotz Einschüchterung, Beschimpfungen und Erniedrigungen ist weder Bjarni noch Steinúnn ein Geständnis zu entlocken. Auch finden sich Entlastungszeugen, die für die beiden sprechen. Doch ein Beweis für ihre Unschuld kann von niemandem erbracht werden.


    Und Kaplan Eiúlfur Kolbeinsson ? Einerseits möchte dieser Partei ergreifen für seine beiden sündigen Schafe, deren Liebe füreinander niemals eine Chance gehabt hat und denen von Beginn des Prozesses an klar vor Augen steht, daß ihnen ihr Schicksal keinen anderen Ausweg als denjenigen auf den Richtblock weisen wird. Andererseits möchte er einstimmen in die Verdammung der beiden Angeklagten, in die Verurteilung ihres unmoralischen und schändlichen Tuns, auch für den Fall, daß ihnen der Mord an Gudrun und Jón nicht wird nachgewiesen werden können. So kommt es, daß sein Verhalten Bjarni gegenüber zwar durch Zuneigung, Fürsorge und ein starkes Mitgefühl geprägt wird, dessen einziges Ziel es jedoch ist, Bjarni durch das Ablegen des Mordgeständnisses dazu zu bringen, seine eigenen moralischen Grundvorstellungen wieder zurechtgerückt zu sehen und ihn durch seine Reue aus der ewigen Verdammnis zu erretten. Doch der Fall nimmt eine dramatische Wendung und Eiúlfur muß erkennen, daß seine einfache Sicht der Dinge nicht ausreicht, die Welt nach seinen moralischen Maßstäben zu bewerten.


    „Schwarze Vögel“ ist ein Buch über eine unerfüllbare Liebe, über den schmalen Grat zwischen Schuld oder Unschuld und über eine verhängnisvolle Vorverurteilung von Menschen. Gunnar Gunnarsson hat den geschilderten Fall anhand von historischen Prozessakten aus dem Jahre 1802 in Kopenhagen recherchiert und damit den ersten Island-Krimi geschaffen. Dieser steht seinen modernen Nachfolgern in Sachen Spannung in nichts nach, im Gegenteil: die Figuren in ihrer ganzen Zerrissenheit und Schicksalsergebenheit sind ungleich interessanter und vielschichtiger, die Geschichte und Handlung aufgrund ihrer unklaren Täter-Opfer-Zuweisung um Einiges ambitionierter und literarisch hochwertiger als die Kriminalromane neueren Datums. Mein Fazit: großartig, deshalb unbedingt lesen !!

    Wer als Leser die 1975 erschienene Erzählung „Montauk“ des Schweizers Max Frisch zur Hand nimmt, sollte in der Biographie des Schriftstellers schon ein wenig bewandert sein, will er verstehen, um wen oder was es hier geht. Soweit ich das bislang beurteilen kann, haben alle Werke Frischs zu großen Teilen einen autobiografischen Bezug, doch in keinem seiner Texte geht der Autor in der Verarbeitung seiner eigenen Biografie weiter, denn sowohl der Erzähler als auch die Hauptperson in „Montauk“ ist niemand anders als Frisch selbst.


    Frisch ist zur Zeit der Entstehung von „Montauk“ 63 Jahre alt, hat zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere gescheiterte Beziehungen und Ehen hinter sich, darunter eine komplizierte Liaison zu seiner Schriftstellerkollegin Ingeborg Bachmann. Bereits im Jahr zuvor hatte Frisch auf einer Lesereise in den USA eine 30 Jahre jüngere Verlagsangestellte kennengelernt, mit ihr ein kurzes Liebesverhältnis begonnen und ein gemeinsames Wochenende in Montauk, einem Bade- und Erholungsort an der Ostspitze von Long Island verbracht, ehe er in der darauffolgenden Woche den Rückflug in die Schweiz anzutreten hatte. In dem Bewußtsein, daß dieses Liebesverhältnis wohl sein letztes sein würde, beschloss Frisch, dieses Wochenende rückblickend ohne fiktionale Zutaten zu beschreiben. Das Resultat ist eine schonungslos selbstentblößende und selbstbezichtigende, vielfach reumütige und autobiografisch unverhüllte Rückschau des alternden Schriftstellers auf sein bisheriges Leben.


    Ausgehend von den Erlebnissen, Gesprächen und Empfindungen jenes Wochenendes im Mai 1974, an der Seite seiner Geliebten, welche im Buch den Namen Lynn trägt, beschreibt Frisch in assoziativen Rückblenden und Erinnerungen in vielen kurzen, aber auch einigen längeren Passagen seinen Anteil am Scheitern seiner ersten Ehe, seine starke emotionale Abhängigkeit und Eifersucht in Bezug auf Ingeborg Bachmann sowie seine Unfähigkeit, seiner Noch-Ehefrau trotz aller Zuneigung ein treuer, unterstützender Partner sein zu können. Frisch gesteht, seine jeweiligen Partnerinnen zu Schwangerschaftsabbrüchen gedrängt zu haben, ihnen untreu und insgesamt eine Zumutung gewesen zu sein.


    Gerade die sich auf seine ehemaligen Partnerinnen beziehenden Passagen sind von einer fast intimen Offenheit und berühren den Leser auf eine beinahe peinliche Art. Wollen wir wirklich wissen, daß es bei Frisch bereits im Alter von 35 Jahren zu ersten Fällen von Impotenz gekommen ist ? Daß er aus Eifersucht heimlich die Briefe seiner Geliebten Ingeborg Bachmann gelesen hat ? Die Neugier und den Voyeurismus des Lesers, den der berühmte Max Frisch hier allzu großzügig bedient – will der Leser all dies wirklich im Detail lesen und entspricht die Schilderung all dessen wirklich dem Bedürfnis seines Urhebers, Bilanz zu ziehen über sein bisheriges Leben ? Oder ist es doch ein allzu eitles und auch ein wenig weinerliches Spiel mit der eigenen Biografie ?


    Ebenfalls von biographischem Interesse, jedoch auf eine weit weniger kompromittierende Weise, sind diejenigen Textpassagen, in welchen Frisch von den Anfängen seiner Schriftstellerei berichtet, welche zeitlich zusammenfallen mit seiner Tätigkeit als freischaffender Architekt. Frisch erinnert sich an den Spagat zwischen der Arbeit im Architekturbüro und den Theaterproben in den Mittagspausen, den Manuskripten unter dem Zeichentisch. Und er erinnert sich an seine Kindheit, seinen Vater, seine Mutter, deren Todesstunde er trinkend mit einem Schriftstellerkollegen verbracht hat: Auch dies das Eingeständnis einer Schuld, eines nicht wieder gut zu machenden Versäumnisses.


    Doch den weitaus größten Teil des Textes nehmen die Schilderungen des gemeinsam mit Lynn verbrachten Wochenendes ein, und gerade diese Passagen sind es, welche die ganze Wehmut, Traurigkeit und Zukunftsangst ihres Verfassers atmen und gerade deshalb die Größe dieses Textes ausmachen. Denn Frisch weiß, daß die neuentfachte Liebe und Zuneigung zu Lynn keine Zukunft haben kann, zu groß sind die Unterschiede in Bezug auf das Alter, die Lebenserfahrung, den Intellekt. Hinzu kommen die sprachlichen Barrieren. Nein, von vornherein ist beiden klar, daß die gemeinsame Zeit und damit ihr Liebesverhältnis auf dieses eine Wochenende beschränkt bleiben wird. Und Frisch, gezeichnet durch die Kämpfe, Irritationen und Auseinandersetzungen zurückliegender Beziehungen, begnügt sich darin, den Augenblick in sich aufzunehmen, sich Bilder einzuprägen, zu beobachten: das leuchtende Rot ihrer Haare, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre Fröhlichkeit, ihre Spontaneität, ihre Unbekümmertheit. Es wird seine letzte Liebe sein, und Frisch weiß es: „Eine wird die letzte Frau sein, und ich wünsche, es sei Lynn, wir werden einen leichten und guten Abschied haben.“


    Es ist dieses Bewußtsein über die Endlichkeit dieser einen, letzten Liebe im Angesicht des heraufkommenden Alters und des von Ferne drohenden Todes, welches „Montauk“ diese eigentümliche Stimmung aus Melancholie, Traurigkeit und Angst verleiht. Zugleich ist „Montauk“ aber auch eine der schönsten und zartesten Schilderungen einer Liebesbeziehung überhaupt.


    Bemerkenswert auch der Aufbau des Buches: Der Text ist wie eine Collage aus einzelnen Passagen zusammengesetzt, manchmal durch eine stichwortgebende Überschrift eingeleitet, oft auch durch Fragmente eines Dialoges. Frisch springt dabei zwischen den Erlebnissen auf Long Island und seinen Erinnerungen hin und her, letztere oft assoziativ ausgelöst durch eine Äußerung, einen Gegenstand, eine Beobachtung, allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge. Die Erzählperspektive wechselt von einem Ich-Erzähler in der Rückschau auf Vergangenes hin in die 3. Person bei der Schilderung des Wochenendes in Montauk, oft in ein und demselben Satz. Dies, und die Tatsache, daß insbesondere die Partnerinnen und Ehefrauen, auf welche sich die rückblickenden Passagen beziehen, nicht namentlich genannt sind, macht die Lektüre bisweilen etwas mühsam, doch hat man sich schnell eingelesen und eine Übersicht über Frischs Biografie ist außerordentlich hilfreich bei der Entschlüsselung der Personen und ihrer Einordnung in einen chronologischen Zusammenhang.


    Mein Fazit: Insgesamt ein wunderschönes, auch wohl sehr traurig und wehmütig stimmendes Buch über die Liebe, das Alter und den Tod. In Frischs Spätwerk ist dies der thematische Dreiklang und Montauk ist das entsprechende Hauptwerk dazu. Allerdings machen uns einige der ausgeplauderten Intimitäten noch immer betroffen und berühren auf unangenehme Weise, auch wenn viele der beschriebenen Personen schon längst nicht mehr am Leben sind. Es scheint, daß Frisch mit seiner literarischen Ambition einer größtmöglichen Offenheit doch an vielen Stellen zu weit gegangen ist und insbesondere seine Partnerinnen und Lebensgefährtinnen über Gebühr kompromittiert hat.

    Herman Melville, Robert Louis Stevenson, James Fenimore Cooper: drei englischsprachige Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, denen eines gemein ist: Ihre bekanntesten Geschichten ( Moby Dick, Die Schatzinsel, Der letzte Mohikaner ) gehören auch in Deutschland zwar zur kulturellen Allgemeinbildung, doch weniger als Werke ernstzunehmender Literatur, sondern vielmehr als gekürzte, zusammengeraffte, abgeänderte, vielfach mit mehr oder weniger Erfolg verfilmte oder zu einem Jugendbuch verschnittene und auf den Markt geworfene Produkte der Unterhaltungsindustrie. Allen drei Romanen ist aber auch beschieden, daß durch jüngst erfolgte Neuübersetzungen ihr hoher literarischer Wert für den deutschsprachigen Raum nun neu entdeckt werden darf: Dem Hanser Verlag ist für diese Leistung gar nicht genug Anerkennung zu zollen und wir dürfen hoffen und gespannt sein, welche vergessenen und verkannten Werke der Weltliteratur noch ihrer Auferstehung und Wiedererweckung harren.


    Die Handlung von „Der letzte Mohikaner“ steht wohl Jedem, der sich an die stimmige Verfilmung aus dem Jahr 1992 mit Daniel Day-Lewis, Madeleine Stowe und Wes Studi erinnert, noch bildlich vor Augen. Bei der Lektüre des nun nach über 100 Jahren ( !! ) neu übersetzten Buches muß allerdings mit Erstaunen festgestellt werden, wie sehr der Film doch von seiner literarischen Vorlage abweicht und durch Änderungen in der Handlung und im Personal actionreicher, gewalttätiger und damit kinokompatibler gemacht wurde.


    Es ist das Jahr 1757, in den Kolonialkriegen kämpfen englische und französische Truppen um die Vorherrschaft auf dem nordamerikanischen Kontinent. Dieser ist zu jener Zeit in großen Teilen noch eine echte Wildnis, von weißen Siedlern unangetastet und noch weit davon entfernt, in Felder und Parzellen aufgeteilt einer gottgefälligen Nutzung zugeführt zu werden. Stattdessen besiedeln unterschiedlichste Volksgruppen von Indianern die unendlichen Weiten des nordöstlichen Waldlandes. Es gibt den stolzen Stamm der Delawaren, die in einem Volksbund vereinten Stämme der Irokesen und die grausamen Huronen, die Einen auf Seiten der Engländer kämpfend, die Anderen mit den französischen Truppen verbündet. Und es gibt Chingachgook und seinen Sohn Uncas, die beiden Letzten der Mohikaner. Gemeinsam mit ihrem weißen Adoptivsohn und -bruder Lederstrumpf, der bei den Huronen als „La Longue Carabine“ bekannt und gefürchtet ist, bewegen sich diese drei zwischen allen Kriegsparteien und -zugehörigkeiten.


    Alle „Wilden“ eint ein großer Stolz und ein unerschütterlicher Mut, aber auch eine schier grenzenlose Kriegslust sowie eine unfassbare Grausamkeit und Unnachgiebigkeit gegenüber ihrem Feind und Gegner, kurz: wir lernen ein Volk kennen, welches zu dieser Zeit erst beginnt, sich von ihren weißen Unterdrückern abhängig machen zu lassen, ihren Stolz und ihre Traditionen aber noch nicht verloren hat.


    In der Begleitung eines englischen Majors und unter der Führung des Huronen Magua reisen die Generalstöchter Alice und Cora Munro durch Kriegswirren und Wildnis nach Fort William Henry am Ufer des Lake George, wo ihr Vater mit der ihm zugeteilten Kompanie die Stellung gegen die anrückenden Franzosen des Generals Montcalm hält. In einem Akt des Verrats beabsichtigt Magua, die beiden Munro-Töchter zu entführen und damit Rache zu üben an seinem einstigen Gegner und Feind, dem britischen General Munro. Der zufällig hinzukommenden Gruppe aus Mohikanern und dem als „Kundschafter“ bezeichneten Lederstrumpf gelingt es zwar, das Vorhaben des Huronen zu vereiteln, die Huronen in die Flucht zu schlagen und der Gruppe aus Generalstöchtern und deren Begleitern ihr Geleit anzudienen, doch in den folgenden Tagen kommt es zu einer kompromisslos geführten Verfolgung der Flüchtenden durch die Gruppe aus Huronen-Kriegern, angeführt durch den von seinen Rachegelüsten zerfressenen Magua. Nach einem Scharmützel auf einer Flussinsel geraten die Munro-Töchter erneut in die Hände der Huronen und werden nun ihrerseits durch Chingachgook‚ Uncas und den Kundschafter verfolgt.


    Es sind gerade diese Verfolgungsszenen durch die Weiten eines unberührten, menschenleeren und mit Wäldern überzogenen Landes, welche auf den heutigen Leser eine immense Faszination ausüben. Cooper selbst kannte das Grenzland, die Wildnis und die hier lebenden Volksstämme nur noch vom Hörensagen, doch läßt er in seinem Roman dieses Land und seine Menschen in all seiner Wildheit und Schönheit, aber auch in seiner ganzen Grausamkeit und Gefährlichkeit wieder auferstehen. Voller Wehmut ist Coopers Blick zurück auf jene Zeit des bereits im Vergehen begriffenen Urzustandes eines ganzen Kontinents und auf die blutige und hart umkämpfte Entstehung einer Nation.


    In einem gewaltigen Showdown kommt es schließlich zur finalen Auseinandersetzung zwischen Magua und den Huronen auf der einen, unseren Helden und den befreundeten Delawaren auf der anderen Seite. Es ist ein schreckliches Blutvergießen, welches uns dort geschildert wird: Im Dickicht des Waldes wird erschossen, erstochen und erschlagen, den Toten beider Seiten werden die Skalps als Jagdtrophäe abgezogen, Gefangene zu Tode gemartert. Und auch die uns über 500 Seiten so ans Herz gewachsenen Helden haben in ihren Reihen Verluste zu beklagen, denn, wie schon der Titel sagt: Es kann nur einer der beiden Mohikaner überleben.


    Mit der Neuübersetzung aus dem Original erhält auf diese Weise der Roman sein wahres Gesicht zurück: indem mit einer ungezügelten Erzählfreude, einer archaischen Wucht und einer für die Entstehungszeit des Romans erstaunenswerten Unvoreingenommenheit gegenüber den indianischen Völkern ein Land in einem Zustand geschildert wird, der längst vergangen und zu einer fernen Legende geworden ist. Und der Zauber dieser Legende wirkt noch immer, gleichgültig ob als zusammengestutztes Jugendbuch für den 12-jährigen oder als ausgewachsenes Epos für den erwachsenen Leser.


    Mein Fazit: Eine wundervolle und ergreifende Lektüre für all diejenigen, welche in sich noch immer einen Rest jener Faszinationen tragen, welche die Abenteuergeschichten der Kindheit und Jugendzeit einst auf sie ausgeübt haben. Für alle anderen die lebendige Wiederauferstehung der längst vergangenen Epoche der amerikanischen Landnahme und Eroberung, erzählt in einer überbordenden Detailfreude und von enormer erzählerischer Mächtigkeit. Alles in allem ein phantastisches Leseerlebnis !!

    2005 fand sich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises der kurze Debutroman des noch unbekannten Hamburger Arztes und Schriftstellers Jens Petersen mit dem Titel „Die Haushälterin“, im gleichen Jahr erhielt das Buch den Aspekte-Literaturpreis für das beste deutsche Prosa-Debut. Als der Autor dann 2009 auch noch den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gewann, lag wohl die Vermutung nahe, mit Jens Petersen habe ein neuer und Großes versprechender Schriftsteller die literarische Bühne betreten. Doch „Die Haushälterin“ von 2005 ist bislang die letzte Veröffentlichung von Jens Petersen und auch das Feuilleton schweigt sich seit 2009 beharrlich über den Autor und dessen Schaffen aus. Es drängen sich die Fragen auf, ob es sich bei Jens Petersen vielleicht nur um eine literarische Eintagsfliege gehandelt hat und ob der genannte Roman wirklich die vielen Lorbeeren wert gewesen ist.


    Schauplatz der Geschichte ist ein gutbürgerliches Viertel in Hamburg, eine mit Antiquitäten angefüllte Villa: ererbter Familienbesitz in 3. Generation. Hier wohnen der sechzehnjährige Philipp und sein Vater, beide sind noch nicht über den Tod der Ehefrau und Mutter hinweggekommen. Während Philipp, erstaunlich erwachsen und verantwortungsbewußt für sein Alter, Schule und Haushalt schmeißt, versinkt der Vater in seiner Trauer und einem kontinuierlich antrainierten Alkoholismus, nur hin und wieder durch eher trostlose erotische Techtelmechtel mit Kolleginnen und Zufallsbekanntschaften aufgelockert.


    Doch als wäre das nicht Unglück genug, verliert Philipps Vater auch noch seinen Job bei den Hamburger Elektrizitätswerken, stürzt im Suff die Kellertreppe hinunter und zieht sich eine komplizierte Beinfraktur zu, die im Krankenhaus geschient werden muß. Philipp fühlt sich mit der neuen Situation überfordert, nun zusätzlich zu Haushalt und Schule auch noch seinen in Kürze aus dem Krankenhaus heimkehrenden Vater versorgen zu müssen. So beschließt er: eine Haushälterin muß her, schaltet eine Zeitungsannonce, führt die Bewerbungsgespräche und schnell ist Ada gefunden, eine polnische Studentin aus Lublin und mit ihren 23 Jahren nur ein wenig älter als Philipp.


    Vom ersten Treffen an ist Philipp in Ada verschossen, bemüht sich um sie, macht ihr Geschenke, bedenkt sie mit kleinen Aufmerksamkeiten. Ada putzt, kocht, räumt auf und bringt das Haus auf Vordermann. Und sie weckt in Philipp spätpubertäre Hoffnungen auf mehr, als sie ihm das Du anbietet, ihn mitnimmt auf eine Party, mit ihm zum Schwimmen zu einer einsam gelegenen Kiesgrube fährt. Wohl küsst sie ihn auch ein wenig, doch Philipp bekommt heraus: Daheim, in Lublin, gibt es einen festen Freund. Und so stürzt Philipp, der in Liebesdingen so gänzlich unerfahren und hilflos ist, in ein Gefühlschaos aus Hoffnung, Eifersucht und Verwirrung, denn er weiß Adas Absichten, ihre Gesten, Blicke und Handlungen nicht zu deuten, den Code der Verliebten nicht zu entziffern. Kurz: Er hat keine Ahnung, ob Ada tatsächlich etwas von ihm will, und wie er dies erkennen könnte, falls es so wäre.


    Vollständig undurchsichtig wird Philipp das Ganze, als der Vater aus dem Krankenhaus heimkommt und Philipp mit Entsetzen feststellen muß, daß dieser ebenfalls ein gesteigertes Interesse an Ada bekundet. Gegen die großspurige Art des Vaters hat Philipp keine Chance: weder hat er die finanziellen Mittel, Ada mit Geschenken zu überhäufen, noch besitzt er die Unverfrorenheit und Dreistigkeit des Vaters, ihr in spielerischer Leichtigkeit mit mal freundschaftlichen, mal mit leicht vulgären Worten und Zoten ein Lachen oder einen verschwörerisch einvernehmlichen Blick zu entlocken. Am meisten aber verwirrt und beunruhigt ihn, daß Ada so leichtfertig und willig auf die Avancen des Vaters eingeht, ihn mit sich spielen läßt und Philipp so scheinbar ohne Bedauern oder einen weiteren Gedanken aus ihrer Aufmerksamkeit entläßt. In seiner Verzweiflung faßt Philipp schließlich den Entschluß, Ada loszuwerden: Wenn sie für ihn also unerreichbar ist, dann soll es auch dem Vater fortan unmöglich sein, sein Werben um die Gunst der Haushälterin fortzusetzen.


    Jens Petersen greift mit seinem Romandebut ein altes, wohl schon oft repetiertes literarisches Motiv wieder auf und überträgt es in die Neuzeit: Der junge Liebende, die Angehimmelte und der konkurrierende Vater finden sich bereits in Turgenjews „Erste Liebe“ von 1860. Ein Copyright auf eine solche Figurenkonstellation besteht allerdings nicht, und so kommt Jens Petersens Debut als eine erstaunlich frische, kurz und knackig geschriebene Erzählung über die Schwierigkeiten und Hindernisse der Erwachsenwerdung daher. Petersen gelingt es, in ganz knappen, mit nur wenigen Worten umrissenen Sätzen seine Hauptpersonen plastisch wirken zu lassen und seinem Text Leben und Tempo einzuhauchen. Die Lektüre gerät dadurch zu einer kurzweiligen und vergnüglichen Angelegenheit, doch lassen handwerkliche und inhaltliche Missverhältnisse die Unerfahrenheit des debutierenden Autors deutlich erkennbar werden.


    Gerade die Figur des Protagonisten Philipp erscheint merkwürdig unrund und widersprüchlich: Einerseits sehen wir in ihm den verantwortungsbewußten, bereits sehr selbständig, erwachsen und abgeklärt wirkenden 16-jährigen porträtiert, der verdächtigerweise durch keinerlei rebellische, aufbegehrende oder eigensinnige Handlungen oder Gedankengänge hervorsticht, wie es für sein Alter vielleicht zu erwarten wäre. Andererseits fällt es schwer, ihm seine emotionale Verwirrung und beinahe kindliche Verunsicherung und Bedürfnisbefriedigung wirklich abzunehmen, wenn er sich mit Adas Zahnbürste die Zähne putzt, an ihrer getragenen Unterwäsche herumriecht oder auf ihrem in der Haarbürste hängengebliebenen Haar kaut. Weder kann ich mich an ähnliche Charakterzüge oder Verhaltensmuster aus meiner eigenen, noch nicht so sehr lange zurückliegenden Jugend, erinnern, noch treffe ich heute auf entsprechend hilflos sich in Liebesdingen tummelnde Bekannte und Freunde meiner eigenen Kinder in dem entsprechenden Alter. Auch die Figur der Vaters bleibt seltsam eindimensional und flüchtig skizziert.


    Und schließlich muß die Frage erlaubt sein, worauf Jens Petersen mit seiner Erzählung eigentlich hinaus will, denn das Ende der Geschichte findet gar nicht statt. Sie wirkt merkwürdig unfertig, fast so, als sei dem Verfasser kurz vor dem Ende die Idee abhanden gekommen, denn weder der Vater noch sein Sohn erfahren am Ende eine Entwicklung oder einen Sinneswandel, noch löst sich der Konflikt in irgendeiner Weise auch nur andeutungsweise auf. Sie erinnert darin an ein Fußballspiel, dessen Übertragung 5 Minuten nach Beginn der 2. Halbzeit beim Spielstand von 0:0 abgebrochen wird und es schlechthin unmöglich ist zu sagen, welche der beiden Mannschaften als Sieger vom Platz gehen wird.


    Alles in allem also ein solider Debutroman mit guten Passagen und handwerklichem Geschick, allerdings mit unverkennbaren Schwächen in der Figurenzeichnung und mit einem unmotivierten Abschluß.

    Es ist eine leise, sentimentale und tieftraurige Geschichte über zwischenmenschliche Zerwürfnisse, verpasste Gelegenheiten, späte Reue und den Tod, welche uns der Ire Colm Toibin mit seinem 2001 auf Deutsch erschienenen Roman „Das Feuerschiff von Blackwater“ vorlegt. Einmal mehr wird in diesem Buch deutlich, wie feinfühlig und behutsam es Toibin gelingt, sich in seine Figuren hineinzuversetzen und sie aus ihrem Innern heraus lebendig werden zu lassen, bewundernswert umso mehr, als es in diesem Buch fast ausschließlich Frauen sind, welche die Handlung tragen.


    Hauptfigur ist Helen, eine junge Mutter, wohl Anfang oder Mitte 30, welche mit Mann und zwei Kindern ganz kleinbürgerlich in einem Einfamilienhaus am Stadtrand von Dublin lebt. Gerade hat sie ihre kleine Familie in die Ferien verabschiedet – sie will erst in ein paar Tagen anreisen, denn sie hat noch einigen beruflichen Verpflichtungen nachzukommen – da klingelt es plötzlich an der Tür und ein ihr wildfremder Mann bittet sie, ihn zu ihrem todkranken Bruder Declan ins Krankenhaus zu begleiten. Declan ist an AIDS erkrankt und wird in Kürze sterben: wie ein Schlag trifft Helen diese Nachricht, die seit Jahren jeglichen Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen hat und somit unvermittelt aus ihrem Alltag hinein in lange verdrängte Beziehungskonflikte zu ihrem Bruder, ihrer Mutter und ihrer Großmutter hineingerissen wird, denn Declan wünscht nichts mehr, als noch einige wenige Tage im Beisein von Familie und Freunden im Landhaus seiner Großmutter an der irischen Küste verbringen zu dürfen.


    So finden sich dort, in einer ehemaligen, einsam gelegenen Pension hart an der Steilküste, diejenigen Personen zusammen, mit denen Helen eigentlich abgeschlossen hatte und denen sie in den zurückliegenden Jahren geflissentlich aus dem Wege gegangen war: die eigensinnige und sture Großmutter, die egozentrische Mutter Lily und der schwule Bruder, außerdem dessen Freunde Larry und Paul. Schnell wird klar: Declan hat nicht mehr viel Zeit und der Aufenthalt im Hause der Großmutter wird die letzte Gelegenheit sein, außerhalb des Krankenhauses mit ihm zusammenzusein.


    In Rückblenden erfahren wir, wie es zu der Entfremdung zwischen den Familienangehörigen gekommen ist: Auslöser war der plötzliche Krebstod des Vaters von Declan und Helen. Überstürzt mußte seinerzeit Lily ihren Mann in eine Spezialklinik begleiten und die halbwüchsigen Kinder Declan und Helen bei ihrer Großmutter in ihrem unheimlichen Haus auf der Klippe zurücklassen. Abgeschoben und vergessen, von der Großmutter durch die Mitarbeit in der Pension in die Pflicht genommen, verpassten die Kinder dort den schnellen Tod ihres geliebten Vaters, ohne sich jemals von ihm verabschieden zu können. Vorwürfe an die Adresse der Mutter, deren Trauer und Unfähigkeit, auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen zu können, ein gehöriges Maß an irischer Sturheit und die Weigerung eines Jeden, mit dem Anderen zu reden, führten dann in den Folgejahren dazu, daß sich die Kinder von ihrer Mutter lossagten.


    So kommt es, daß Lily weder die Kinder noch den Ehemann ihrer Tochter kennt, auch über Declans Homosexualität nicht im Bilde ist und andererseits auch Helen nicht gerade viel über die letzten Jahre ihrer Mutter mitbekommen hat, die es zwischenzeitlich als selbständige Geschäftsfrau zu einigem Wohlstand gebracht hat. Im Angesicht von Declans fortschreitendem Verfall, immer wiederkehrenden Schüben von furchtbaren Magenkrämpfen, Erbrechen und Schwächeanfällen verrinnt den drei Frauen die Zeit in ihrer Zwangsgemeinschaft, ihre über viele Jahre aufgebauten und auf Mißverständnissen, emotionalen Verletzungen und Schuldzuweisungen beruhende Aversionen und gegenseitige Hassgefühle aufzubrechen und sich einander anzunähern. Doch ausgerechnet Declans Freunde Paul und Larry schaffen es aus ihrer unvoreingenommenen und neutralen Position heraus Helen und Lily dazu zu bringen, sich über ihre allzu verhärteten Gefühle füreinander auszutauschen und einen Neuanfang zu wagen. Als sich schließlich nach wenigen Tagen Declans Zustand soweit verschlechtert, daß er zurück in das Krankenhaus nach Dublin und in ärztliche Obhut gebracht werden muß, zerfällt zwar einerseits die wohl letzte Zusammenkunft der Familie in dieser Personenkonstellation, gleichzeitig scheint aber für Helen und ihre Mutter die Chance auf eine Wiederannäherung in greifbare Nähe gerückt.


    Die nur wenige Tage umfassende Geschichte kommt ohne wesentliche Höhepunkte aus, es wird viel miteinander gesprochen, spazieren gegangen, erinnert und in Rückblenden erzählt. Toibins Erzählstil ist, wie in seinen übrigen Romanen und Kurzgeschichten auch, wie ein ruhig dahinfließender Strom, ohne rasante Stromschnellen oder Verengungen im Flußbett, in einem ansprechenden und dem Leser entgegenkommenden Rhythmus der Sprache. Trotz der unspektakulären Erzählweise werden dennoch die erlittenen Verletzungen und gekränkten Gefühle der Personen, aber auch ihre Unfähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen und über den eigenen Schatten zu springen, in jedem Dialog sehr präsent und überdeutlich wahrnehmbar. Trotz der großen Themen um Reue, Vergebung und das Sterben gleitet der Autor an keiner Stelle ins Prätentiöse, Schwülstige oder Dramatische ab, sondern bleibt konsequent seinem sehr realistischen und seinen Personen sehr nahegehenden Erzählstil treu. Weder finden wir, daß Toibin eine seiner Figuren verurteilt, noch daß er eine andere bemitleidet. An jeder Stelle der Geschichte spüren wir das Verständnis und den ungeteilten Respekt des Erzählers für jede einzelne seiner Personen, mag das Handeln dieser Person auch noch so fragwürdig erscheinen.


    Toibin beschreibt eine irische Gesellschaft im Wandel: nicht die gut katholische, in sich gefestigte Familie mit dem whiskeytrinkenden und hart arbeitenden Patriarchen als Oberhaupt dient ihm als Anschauungspersonal für seine Gesellschaftsschau, sondern eine verstreute, zerstrittene und sich in Auflösung befindliche Familie mit dem homosexuellen Sohn und Bruder als Fix- und Angelpunkt einer nur unter tragischen Umständen möglichen Familienzusammenführung und –aussöhnung. Wie realitätsfern erscheint im direkten Vergleich das rein folkloristische Bemühen von Helens Ehemann Hugh, die irischen Traditionen mit Dudelsackmusik, Guinessausschank und gälischer Mundart im Stil von „Heimatabenden“ am Leben zu erhalten.


    Toibins Botschaft ist eine andere: Irland ist überall und überall ist Irland. In Details mögen sich menschliche Verhaltensmuster länderspezifisch unterscheiden, doch die Grundprinzipien familiärer Bindung, Freundschaft, das Bemühen um Verständnis und Vergebung sind immer und überall gleich. Und auch im Angesicht des Todes gibt es immer noch die Hoffnung auf bereits verloren geglaubte Möglichkeiten und Chancen.


    Mich selbst hat „Das Feuerschiff von Blackwater“ trotz seiner unspektakulären Handlung sehr tief beeindruckt, und wie bei bislang allen Büchern von Colm Toibin gibt es auch für dieses Buch eine ganz dicke Leseempfehlung.

    Marie hat in jeder Hinsicht recht: Der Oberst ist ein Kotzbrocken ( man möge mir meine Wortwahl entschuldigen ) und allein darauf aus, sich und seine persönliche, eher unrühmliche Vergangenheit als Angehöriger der deutschen Wehrmacht im Afrikafeldzug nachträglich zu rechtfertigen und von seiner Tochter Absolution zu erpressen. Weder hören wir aus seinem Munde ein Schuldeingeständnis noch ein einziges Wort der Reue oder des Bedauerns über das seinerzeitige Geschehen um Mackenbrandt, ihn selbst und seine feige Flucht in den Kleidern des Kameraden, ohne zu wissen, ob dieser noch lebend in die Hand des Feindes fällt. Stattdessen sind es die alten Mittel, mit denen der Oberst seine Mitmenschen, wie einst seine Gegner im Kampf, in Schach hält und drangsaliert: Befehlston, Erpressung, Belehrung, Verlogenheit.


    Ich kann gut nachvollziehen, wie Siegfried Lenz in „Duell mit dem Schatten“ eine in den 1950´er Jahren weit verbreitete gesellschaftliche Bemühung verurteilt, die damals gerade einmal 10 Jahre zurückliegenden verbrecherischen Verstrickungen der Deutschen im 2. Weltkrieg vergessen zu wollen und individuelle Schuld zu ignorieren oder zu verharmlosen. Ähnlich wie der Oberst im Roman mögen seinerzeit viele alte Kämpfer, Obersten und Majore beharrlich ihr strenges und selbstherrliches Regiment über Mitmenschen oder Familie beibehalten haben, ohne sich je ihrem persönlichen Anteil an Weltkrieg und Kriegsverbrechen mehr als vordergründig gestellt zu haben. Diesem unerträglichen Umstand mußte Lenz wohl eine Gegendarstellung entgegensetzen, eine Verurteilung und einen Weckruf.


    Doch für Lenz waren die Obersten des 3. Reiches bereits damals ein Auslaufmodell, eine vom Lauf der Geschichte überholte Gattung Mensch. Ganz deutlich wird dies, wenn der Oberst als körperliches Wrack am Ende seiner Kräfte geschildert wird, der bald mit den Toten verwechselt und auf eine Ladefläche mit den aufgesammelten Skeletten von im Krieg Gefallenen geworfen wird, bald in einer Lehmhütte auf einem Berg von Lumpen liegt und von Insekten und Ungeziefer befallen wird. In immer neuen Bildern des Verfalls und des Niedergangs beschreibt uns Lenz seinen Oberst auch als körperliches Wrack am Ende seiner Kräfte und seines Lebens.


    Wie anders dagegen seine Tochter Biggi und die beiden englischen Soldaten, die zwar als Veteranen des Weltkrieges ebenfalls die alten Kampfstätten aufsuchen, doch um Generationen jünger und lebendiger wirken als der Oberst. Lenz stattet sie mit den gegenteiligen Eigenschaften aus: Verständnis und Nachsicht im Umgang miteinander, Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenüber dem einstigen Kriegsgegner, Hilfsbereitschaft und eine schier unglaubliche Bereitschaft, dem Oberst auch die widerwärtigsten Winkelzüge und Schmähreden zu vergeben. In der Person des Oberst spricht Lenz der Generation der Kriegstäter diese Fähigkeiten ab und der Tochter bleibt als logische Konsequenz nichts weiter übrig, als schlußendlich die Abhängigkeit von ihrem Vater abzuschütteln und ihn in seinem selbstgewählten Untergang zurückzulassen.


    Soweit zur Handlung. Was durch eine interessante Thematik eigentlich zu einem guten Roman getaugt hätte, wirkt bei diesem frühen Lenz jedoch merkwürdig unbeholfen. Sowohl die Figurenkonstellationen als auch die Handlung erscheinen sehr bemüht und wenig realitätsnah. Unwahrscheinliche Zufälle und Begegnungen von Personen ergeben sich weniger wie selbstverständlich aus der Handlung als aus der Notwendigkeit heraus, daß der Autor sie benötigt, um seine Intention darzustellen. So gleicht der ganze Plot einem rein konstruktiven Bauplan, in dem Lenz ein Geschehnis an das nächste, eine Begegnung an die andere reiht, allein mit dem Ziel, eine Aussage und ein Statement abzugeben.


    Auch der Großteil der Dialoge darf getrost als mißlungen bezeichnet werden. Hölzern und steif mühen sich die sprechenden Personen aneinander ab und dem Ganzen setzt der Oberst selbst die Krone auf: bedeutungsschwangere, vordergründig tiefgründige, eigentlich aber komplett hirnverbrannte Sätze sprudeln dem sonst schon halbtoten Oberst wie selbstverständlich aus dem ausgedörrten Mund. Eine Kostprobe:


    Nach langem Fußweg durch die Wüste bricht der Oberst erschöpft zusammen, seine Tochter kniet neben ihm nieder und birgt seinen Kopf in ihrem Schoß. Aus dem allerletzten Loch pfeifend, sagt der Oberst dies:


    „Das läßt mich verzweifeln, mein Kind. Erinnere mich doch nicht immer daran, wie groß meine Knechtschaft ist. Ich halte es nicht mehr aus. Leg meinen Kopf auf die Steine und berühre mich nicht. Ein Erwachen in deinem Schoß ist schon von Samaritertum getrübt. Ich will frei sein, du, ich will auch im Untergang selbständig bleiben, aber du, du drückst mich immer wieder in die Sklaverei des Dankes. Streichle mich nicht, das verfehlt jede Wirkung.“


    In ihrer Schwülstigkeit und Aufgesetztheit kaum zu überbieten, lassen sich Dutzende solcher Sätze finden, die dem Oberst in den unpassendsten Momenten in den Mund gelegt werden. Die Diskrepanzen zwischen gesprochenem Wort und jeweiliger Situation innerhalb der Handlung sind derartig groß, daß es einen graust und das vorherrschende Bedürfnis darin besteht, dem Fremdschämen eine Ende zu setzen und den Buchdeckel zuzuklappen.


    Mein Fazit: Eine im Ansatz gute Idee wird durch einen handwerklich mißlungenen Plot und unsagbar schlechte Dialoge völlig zunichte gemacht. Wer sich also mit Lenz beschäftigen möchte: von diesen Buch die Finger lassen …..

    Was bleibt, wenn eine Liebe oder eine langjährige Beziehung in die Brüche geht ? Wie können beide Partner plötzlich allein, ohne den jeweils anderen weiterleben und welchen Stellenwert nehmen die zurückliegenden, gemeinsam verbrachten Jahre mit all ihren Erinnerungen und Erfahrungen im Bewußtsein dieser Personen ein, wie sollen sie sich zu ihnen verhalten?


    Diesen Fragen geht der argentinische Schriftsteller Alan Pauls, von dem der große Roberto Bolano sagte, er sei „einer der größten lebenden Autoren Lateinamerikas“, in seinem 2003 in Argentinien erschienenen und 2009 ins Deutsche übersetzten Roman „Die Vergangenheit“ nach: Der Eine, der die zurückliegende Zeit vergessen und gefühlsmäßig abhaken möchte, um leichter über den Schmerz der Trennung hinwegzukommen, verwirft damit einen Teil seines Lebens, erklärt ihn für einen Irrtum, die gescheiterte Liebe für ein Mißverständnis. Der Andere, der in quälenden Erinnerungen schwelgt, ständig der verlorenen Liebe nachtrauert, läuft womöglich Gefahr, nicht loszukommen vom Anderen, das Gewesene in der Rückschau zu verklären und unglücklich in der Vergangenheit zu leben. So scheint weder das eine noch das andere Verhalten allein tauglich zu sein, das Leben fortzusetzen, einen Frieden zu finden und aus dem Rückblick auf das Vergangene die Voraussicht und die Kraft für das Kommende zu schöpfen.


    In Alan Pauls Roman sind es Sofia und Rimini, deren gemeinsames Leben nach zwölf Jahren plötzlich zerbricht. Für die Freunde und Bekannten der beiden, allesamt junge, lebenshungrige und promiskuitive Großstädter, ist dies ein Schock, galten sie ihnen doch als ein Weltwunder, als ruhender Pol im hektischen Beziehungswirrwarr ihrer eigenen Suche nach Nähe und Partnerschaft. Warum sich Rimini und Sofia trennen, wird nicht erklärt, es ist für die Geschichte auch nicht von Belang. Fest steht, die Trennung ist eine Entscheidung aus Vernunftgründen, nicht aus Erwägungen des Herzens heraus, denn eigentlich lieben sich Rimini und Sofia noch immer. So trennt man sich im Guten: wie es sich für erwachsene Menschen gehört, werden ohne Zank und Streitereien die Möbel aufgeteilt, Sofia hilft Rimini sogar noch bei der Suche nach einer neuen Wohnung. Beide versprechen, sich weiterhin zu treffen, den Kontakt nicht abreißen zu lassen.


    Soweit der Vorsatz, doch zu groß ist der Schmerz und die Enttäuschung angesichts des Scheiterns ihrer Liebe, denn Rimini tut in den folgenden Monaten und Jahren nichts Anderes, als Sofia aus dem Weg zu gehen, Erinnerungen an die zurückliegende Zeit zu verdrängen und das Gewesene zu vergessen. Auch die Fotos, 1.500 Stück aus 12 gemeinsamen Jahren, an deren Aufteilung und Durchsicht Sofia mehr als alle Andere gelegen ist, will Rimini nicht sehen, zu sehr fürchtet er die Konfrontation mit den bildgewordenen Beweisen der verlorenen Lebenszeit. Stattdessen flüchtet sich Rimini in seine Arbeit als Übersetzer, schlittert in eine Kokain-Abhängigkeit und stürzt sich in wechselnde Beziehungen zu Frauen.


    Zu Vera, einer wunderschönen, gebildeten Frau, und um einige Jahre jünger als Rimini, pflegt dieser eine lockere Beziehung, getrennte Wohnungen, sporadische Besuche, Sex. Doch Vera ist mit einer krankhaften Eifersucht ausgestattet, kein noch so kleines Überbleibsel aus Riminis früherem Leben darf vor ihr bestehen. Dann löst Rimini Vera ab durch Carmen, eine sanfte, liebenswerte Übersetzer-Kollegin. Die beiden heiraten, bekommen ein Kind und Rimini gelingt es, seine Drogen-Abhängigkeit zu überwinden. Fast scheint es, als habe Rimini die Kurve noch einmal bekommen und seinem Leben eine neue Richtung und Vorausschau auf die Zukunft gegeben.


    Doch immer dann, wenn Rimini glaubt, er sitze wieder fest im Sattel, habe sein Leben mit und seine Abhängigkeit von Sofia hinter sich gelassen und sei gegen die Prüfungen durch die ihn einholende Vergangenheit gewappnet, taucht Sofia wieder auf, mal als Zufallsbegegnung auf der Straße oder im Krankenhaus bei der Geburt von Riminis Sohn, mal in voller Absicht in Gestalt einen Briefes oder eines Anrufs. So stellt Sofia einerseits sicher, daß sie nicht in Vergessenheit gerät und Rimini sich immer wieder auf´s Neue seinen Gefühlen zu ihr stellen muß; andererseits muß Rimini bei diesen Gelegenheiten schmerzlich erfahren, daß seine so mühsam aufgebaute Selbstverteidigung aus Vergessen, Verdrängen und Ignorieren wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt, sobald er Sofia in die Augen blickt und die alten Gefühle für sie ihn überwältigen: er stammelt, ist verwirrt, weint und weiß nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten soll.


    So bleiben die beiden neuen Partnerinnen in Riminis Leben blass: beliebig austauschbare Lückenfüller für die große Leerstelle in seinem Leben, ohne jede Chance, diese Leerstelle jemals adäquat ausfüllen zu können. Gleich zweimal spitzen sich diese Begegnungen mit Sofia zu einem Ausgang zu, wie er katastrophaler nicht sein könnte: Die eine bezahlt Vera mit ihrem Leben, als Folge der anderen verliert Rimini Carmen, seinen Sohn, den Rest seiner bürgerlichen Existenz und versinkt vollends im Jammertal seines Unglücklichseins und seines Selbstmitleids.


    Daß Rimini beide schicksalhaften Einstürze seiner so mühsam aufgebauten Existenz allein Sofia zu verdanken hat, die diese in der vollen Absicht, Rimini trotz all seiner Bemühungen um ein neues Leben endgültig an sich zu binden, herbeigeführt hat, läßt ihn an seinen Gefühlen für sie nicht zweifeln und alles deutet darauf hin, daß sich Rimini am Ende in sein Schicksal fügt und seine Abhängigkeit zu Sofia anerkennen muß.


    Alan Pauls lotet die Gefühlsverwirrungen und Seelennöte seines Protagonisten Rimini bis in das kleinste Detail aus. Dieses tut er mit einer Schärfe im Ausdruck und einer Genauigkeit der Sprache, die ihresgleichen sucht und in seltener Klarheit und Durchsichtigkeit die Beweggründe für Riminis Lebens- und Leidensweg erkennbar werden läßt. Bisweilen leidet der Roman jedoch an der weit ausholenden und verzweigten Erzählweise des Autors: Nebensätze schieben sich in Nebensätze in Nebensätze in Hauptsätze, reihen sich aneinander und verschachteln sich untereinander, so daß am Ende seitenlange, kunstvoll auf- und ineinandergetürmte Satzbau-Ungetüme herauskommen und man auch als geübter Leser oft in der Mitte des Satzes den Faden verliert und zurückbättern muß, um Sinn und Form des Geschriebenen zu begreifen oder man in Versuchung gerät, Stift und Papier zu ergreifen, um mittels einer Skizze die zusammengehörigen Satzbausteine grafisch sortieren zu wollen.


    Was bei Thomas Mann als kunstvolle Perfektion der Sprache ohne größere Schwierigkeiten bei der Lektüre zu genießen ist, wird bei Alan Pauls noch einmal ins Übertriebene gesteigert, jedoch allenfalls in der Quantität der Satzlänge, nicht aber in der Qualität des Geschriebenen. So läßt mich der Roman mit ambivalenten Gefühlen zurück: Einerseits mit Bewunderung für die Thematik, Dramatik und die Darstellung kompliziertester Gefühlslandschaften, andererseits mit leichten Verärgerungen über die handwerkliche Umsetzung in Bandwurmsätzen und überkomplizierten Satzstrukturen.

    In zahlreichen deutschen Verlagen erfolgten in den vergangenen Jahren Neu- oder Wiederveröffentlichungen von Büchern des schottischen, mit nur 44 Jahren an Tuberkulose verstorbenen Schriftstellers Robert Louis Stevenson, der im Allgemeinen mit den Abenteuer- und Schauerromanen „Die Schatzinsel“ oder „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ in Verbindung gebracht wird. Daß vor allem das erstere Buch, oft genug als gekürzte Fassung der Rubrik Jugendbuch zugeschlagen, nur einen Bruchteil eines viel umfangreicheren Werkes aus Romanen, Essays, Reiseliteratur und Kurzgeschichten ausmacht, dürfen wir nun dankenswerterweise anhand der bereits zahlreich erschienenen und noch erscheinenden Neu- oder Erstübersetzungen neu erfahren. Vor allem der Hanser Verlag macht sich einmal mehr mit der Erstveröffentlichung von „St. Ives“ sowie mit der in Kürze erscheinenden Neuübersetzung von „Die Schatzinsel“ um die Wiederentdeckung dieses lange verkannten, falsch einsortierten und schließlich fast vergessenen Schriftstellers verdient.


    Um es vorwegzunehmen: „St. Ives“, Stevensons letzter und unvollendet gebliebener Roman von 1898, ist ein Meisterwerk, weniger im Sinne einer komplexen Thematik oder in der Darstellung einer zeitgenössischen und gesellschaftlich relevanten Problematik als vielmehr in der Ausformulierung einer handwerklich und sprachlich ungemein geschliffenen, darüber hinaus spannenden und überaus humorvollen Abenteuergeschichte, kurz: Es handelt sich um 115 Jahre alte Unterhaltungsliteratur der allerersten Liga.


    Der Held der Geschichte ist der Vicomte Anne Keroual de St. Ives, ein französischer Adeliger, den es als Soldat in Napoleons Armee nach England verschlagen hat, wo er prompt in Kriegsgefangenschaft geriet und nun in der Festung von Edinburgh einsitzt. St. Ives ist ein gebildeter Kopf, gewitzt, charmant, manchmal etwas vorlaut und die eigenen Fähigkeiten leicht überschätzend, doch die Sympathien des Lesers erobert er mit dieser Mischung aus gesundem Selbstbewußtsein, Charme und gleichzeitiger Unbedarftheit und Frechheit im Sturm.


    In diesen Wochen der Kriegsgefangenschaft geschehen mehrere entscheidende Dinge: St. Ives verliebt sich in Flora, eine junge Dame, die oft mit ihrer Tante den einsitzenden Gefangenen auf dem Gefängnishof einen Besuch abstattet und ihnen kleine, selbstgefertigte handwerkliche Erzeugnisse abkauft. Als einer der Mitgefangenen, ein grobschlächtiger, brutaler und etwas dümmlicher Soldat, eine abfällige Bemerkung über dieses Techtelmechtel im Allgemeinen und die junge Dame im Besonderen fallen läßt, fühlt sich St. Ives dazu berufen, den Grobian zu einem Duell herauszufordern. Dieses wird, in Ermangelung geeigneter Waffen, mit den halben Blättern einer Schere ausgefochten: am Ende ist der Soldat tot, St. Ives ein Mörder, doch bleibt der Ehrenhändel dank der freundlichen Gesinnung eines der englischen Offiziere, wie St. Ives ein Gentleman, zunächst ohne Folgen.


    Doch damit nicht genug: wenig später erhält St. Ives erneut Besuch in seiner Zelle, diesmal von einem Rechtsanwalt, welcher ihm eröffnet, daß sein reicher, bereits vor Jahrzehnten nach Südengland übergesiedelter Onkel im Sterben liege und eine immense Erbschaft nur darauf warte, von St. Ives abgeholt zu werden, es sei denn, er komme seinem intriganten und mit allen Wasser gewaschenen Vetter Alain zuvor, der sich ebenfalls von Frankreich aus auf den Weg zum Onkel mache.


    Da passt es gut, daß nur wenig später die Häftlinge ihren Plan für einen Gefängnisausbruch in die Tat umsetzen und des Nachts über ein langes Seil die auf einem hohen Bergsporn thronende Festung verlassen. Nun wäre es für unseren Helden ein Leichtes, seine Beziehungen spielen zu lassen und durch die Mithilfe von Freunden und Gönnern schnellstmöglich England zu verlassen, um einer Verfolgung als geflohener Kriegsgefangener zu entgehen, doch St. Ives treibt nur ein Gedanke, nämlich denjenigen, seine geliebte Flora wiederzusehen, natürlich nicht ohne sich vorher in den Besitz der versprochenen Erbschaft zu bringen.


    Erinnern wir uns: Der reiche Erbonkel in Südengland, das Gefängnis und die angebetete Flora in Edinburgh; will sagen, für St. Ives beginnt nun erst die eigentliche Odyssee, eine Längsdurchquerung der britischen Insel von Nord nach Süd, schließlich zurück von Süd nach Nord, im Nacken die Häscher des Königs, welche ihm nicht allein die Flucht aus der Kriegsgefangenschaft zum Vorwurf machen, denn schon bald wird St. Ives auch des Mordes an seinem Landsmann und Mitgefangenen verdächtigt und steckbrieflich gesucht.


    So kommt es zu einer halsbrecherischen Flucht unter falschem Namen, mal zu Fuß, mal mit der Kutsche, mit wechselnden Gefährten, an immer neue Orte und Verstecke, gehetzt von Verfolgern, welchen unser Ausreißer ein um das andere Mal nur um ein Haar und nur dank kurioser und höchst glücklicher Zufälle entkommen kann. Daß sich St. Ives aufgrund seiner ungezügelten Mitteilsamkeit und seines großen Herzens beinahe um Kopf und Kragen redet und für den Augenaufschlag eines jungen, hilfsbedürftigen Mädchens nur knapp der Aufdeckung seiner gefälschten Identität entkommt, sei nur am Rande erwähnt. Und schließlich trifft St. Ives auch noch auf Alain, seinen hinterhältigen, niederträchtigen Neffen, der ihm die Erbschaft abspenstig machen und ihn ohne Skrupel an den Galgen bringen will …..


    Alles in Allem also eine ebenso rasante wie abwechslungsreiche Geschichte, deren gehäufte Zufälle zwar manchmal sehr unglaubwürdig klingen, die wir unserem Erzähler aber dennoch gerne abnehmen, da sie mit soviel Verve und Witz erzählt sind. Spätestens nach der Lektüre des Kapitels, in welcher St. Ives unterwegs auf eine mit ihrem Geliebten durchgebrannte Pfarrerstochter trifft und diese aus den Fängen ihres schmierigen Verführers errettet, fressen wir diesem Erzähler förmlich aus den Händen. Trotz des hohen Tempos der Handlung erzählt Stevenson an keiner Stelle nachlässig oder gleitet der Text ins Kolportagehafte ab, die Genauigkeit der Erzählweise, die Sprachmelodie und der ironische Unterton des Erzählers werden konsequent durchgehalten.


    Mein Fazit: Für mich eines der schönsten und beglückendsten Leseerlebnisse der letzten Monate und eine ganz, ganz dicke Leseempfehlung.

    Der für van der Heijden´s Verhältnisse mit 164 Seiten relativ kurze Roman „Die Schlacht um die Blaubrücke“ aus dem Jahre 1983 ist der Prolog zum großen Romanzyklus „Die zahnlose Zeit“, einem 3500-seitigen Monumentalwerk um den Protagonisten Albert Egberts und dessen Lebensversuche in den kraftlosen 1970´er und 1980´er Jahren in den Niederlanden. „Die Schlacht um die Blaubrücke“ stellt den Einführungsband dar, sozusagen die Ouvertüre für die kommenden Bände, obgleich er nicht den Beginn der chronologischen Handlung markiert sondern eher eine Momentaufnahme aus der Mitte des Lebens unseres Helden darstellt.


    Wir treffen Albert Egberts in Amsterdam, geschildert werden die Ereignisse des 30. April 1980. Es ist Alberts 30. Geburtstag, gleichzeitig aber auch der Geburtstag der niederländischen Königin Juliana die ausgerechnet an diesem Tag abdankt und die Amtsgeschäfte an ihre Tochter Beatrix übergibt. Albert ist heroinabhängig und finanziert sich seine Sucht mit dem Aufbrechen und Ausräumen von Autos, doch in dieser Nacht ist er unvorsichtig und wird von einem Hund in die Schulter gebissen. In den Folgestunden versucht er, sich zum Einen in den Besitz einer neuen Schere zu bringen, welche ihm als Werkzeug für das Knacken der Autoschlösser dient, zum Anderen, sich den zunehmend gefühlloser werdenden Arm ärztlich versorgen zu lassen. So gerät er im Laufe des anbrechenden Morgens als eigentlich Unbeteiligter in die Auseinandersetzungen zwischen mobilen Eingreiftruppen der Polizei und demonstrierenden linken Hausbesetzern, welche sich auf der „Blauwbrug“, einer historischen Brücke über die Amstel, in ein Straßengefecht mit ungewissem Ausgang verwickeln lassen.


    In ausufernden Rückblenden drängen Erinnerungen aus Kindheit und Jugendzeit in Alberts Gegenwart, ausgelöst durch visuelle Schlüsselreize. So dehnen sich die Ereignisse von nur wenigen Stunden in der Rückschau auf ein ganzes junges Leben aus. Mal ist es der auf der Rückbank des aufgebrochenen Autos aufgeschreckte Schäferhund, welcher Albert die Präsenz seines bewunderten und tatkräftigen Onkels und dessen fast hynotische Wirkung auf Hunde ins Bewußtsein ruft, mal ist es der morgendliche Bierkonsum seiner Bekannten und Krankenschwester Sux Cox, welche in ihm den gärenden Alkoholgeruch und die traurige Gestalt seines eigenen Vaters wieder heraufbeschwört, eines schweren Alkoholikers, der mit seinen Trinkgewohnheiten und den daraus erwachsenden Niederträchtigkeiten seines Charakters Alberts Kindheit geprägt hat. Und es ist die Erinnerung an seinen eigenen Geburtstag, der tatsächlich niemals stattfand, da an diesem Tage nicht ihm, sondern der Königin zugejubelt wurde.


    So entsteht nach und nach das Bild eines jungen Menschen, der immer nur zufällig an seinem eigenen Leben teilnimmt, der mitläuft und sich mitnehmen läßt, statt selbst Kurs und Richtung seines Daseins zu bestimmen. So verschleudert Albert sein noch junges Leben in ziellosem Herumstreifen in der Stadt, gleichgültigen und unnützen Betrachtungen seiner Umwelt und Mitmenschen und wartet auf das, was ihm heute, morgen und dem Rest der Woche passieren möge oder auch nicht. Am treffendsten monologisiert Albert: „Getan – wenig. Reglos dagesessen und hin und her überlegt. Ja, passiert war genug. Aber alles war mir widerfahren. Ich hatte die Ereignisse nicht einmal herausgelockt.“ Oder: „Doch an meinem fünfzigsten oder sechzigsten Geburtstag würde ich immer noch das Gefühl haben, mein Leben sei gerade erst in Gang gekommen ...“ Angesichts dieser Erkenntnisse und im Bewußtsein dessen, daß mit Vollendung seines 30. Lebensjahres der Countdown seines körperlichen Abbaus zu ticken beginnt, beschleicht ihn die Angst, zu spät zu kommen, das Steuer nicht mehr herumreißen zu können, denn wie einer seiner Bekannten, ebenfalls eine verkrachte Existenz, bemerkt: „Der Tag dauert noch lang, aber er ist auch schnell vorbei.“ Doch Albert fehlt der letzte Mut, der entscheidende Antrieb, die Perspektive.


    So kommt es, daß er, mitgerissen durch den Demonstrationszug gegen die Krönung der jungen Königin, und ohne eigentlich zu wissen, wie er in diesen Straßenkampf hineingekommen ist, sich plötzlich an dessen Spitze in der Mitte der „Blauwbrug“ wiederfindet, einen Pflasterstein in der Hand und über ihm der kreisende Hubschrauber der polizeilichen Eingreiftruppe. In einer unfaßbar gut geschriebenen Szene könnte Alberts Leben eine dramatische Wendung nehmen, weg von der eigenen Passivität zu einem Leben der Tat und des Aufbegehrens: während die übrigen Demonstranten, vom Tränengas benebelt und von den dröhnenden Rotorblättern des sich langsam absenkenden Hubschraubers auf das Brückenpflaster niedergedrückt werden, sieht sich Albert seinem übermächtigen Gegner plötzlich allein, sozusagen Aug´ in Aug´, gegenüber. Albert scheint die Befreiung aus der zähen Umklammerung seines verkorksten Lebens nur einen Steinwurf entfernt, ihm ist, als warte sein Publikum aus ängstlich auf dem Pflaster kauernden Demonstranten auf diesen einen Wurf, als erbettele ihn der in der Luft wartende Hubschrauber. Doch Albert zögert, wägt die möglichen Konsequenzen gegeneinander ab, ihn packen Zweifel und Angst, er blickt sich um. Und dann ist der Moment vorbei, die Chance vertan, der Hubschrauber steigt wieder auf und der Straßenkampf beginnt von Neuem, doch nun ohne Albert. Bald entfernen sich Demonstranten und Polizei, verlagern ihr Kampfgebiet in die Innenstadt und lassen Albert in seiner Heroinsucht und seinem ziellosen Leben, allein auf der Brücke stehend, zurück.


    Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Ob Albert die Kurve noch bekommt und ob es ihm gelingt, seine Sucht zu überwinden und seinem Leben eine neue Richtung zu geben, wird zum Schluß des Buches angedeutet und in den folgenden Bänden der Romanreihe ausformuliert.


    Alles in Allem also ein vielversprechender Auftakt zur „Zahnlosen Zeit“ und wie in allen Büchern van der Heijdens lebt der Text von der überbordenden Sprachmächtigkeit seines Urhebers, der mit Kraftausdrücken nicht sparsam umgeht und die Gesamtheit der Albert Egbert´schen Existenz vom Rinnstein bis zur philosophischen Selbstreflexion in Worte kleidet. Die im Zusammenhang mit van der Heijden oft strapazierte Vokabel vom „barocken Dichter“ erhält hier ihre Berechtigung.


    Mein Fazit: eine dicke Leseempfehlung, aber Vorsicht: wer erst einmal an van der Heijdens Haken hängt, wird kaum darum herumkommen, die gesamten 3.500 Seiten der "Zahnlosen Zeit" zu lesen zu wollen.

    Niemand anderes als der große Schriftsteller Henry James ist die Hauptperson in Colm Toibins 2005 in Deutschland erschienenen Roman „Porträt des Meisters in mittleren Jahren“, jener bildungsbürgerliche amerikanische und später in England seßhafte Romancier des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, ein intimer Kenner der Liebeshändel und Intrigen spinnenden, Klatsch verbreitenden und der auf Bällen, Empfängen, bei Diners und Soireen unablässig um sich selbst kreisenden Salongesellschaft der gutgekleideten und wohlparfümierten amerikanischen und englischen Aristokratie. Doch Colm Toibin hat keine Biografie über seinen Schriftstellerkollegen geschrieben, sondern vielmehr eine behutsame Annäherung mit literarischen Mitteln, bei der sich die prosaische Fiktion wie eine Haut über das biographisch verbürgte Grundgerüst seiner Figur legt. Die Sätze, welche Toibin Henry James aussprechen und die Gefühle, welche er ihn durchleben läßt, sind nicht überliefert, doch er könnte sie so ausgesprochen und genauso empfunden haben. Das große Verdienst Toibins liegt darin, daß wir als Leser auch nicht eine Sekunde dran zweifeln, daß es so gewesen sein könnte.


    Wer war nun dieser Henry James, den Colm Toibin uns in seinem Roman vorstellt ?


    Die Handlung erstreckt sich über die Jahre 1895 bis 1899, Henry James ist 52, am Ende des Buches 56 Jahre alt, in seinen mittleren Jahren eben. Als Sproß einer intellektuellen neuenglischen Familie ist Henry James schon in seiner Kindheit anläßlich langer und ausgedehnter Reisen nach Europa gekommen und lebt nun als Schriftsteller in London. Zwar ist ihm der literarische Durchbruch mit seinen Romanen „Daisy Miller“ und „Porträt einer Dame“ bereits gelungen, dennoch bleibt ihm die große Aufmerksamkeit durch ein breites Publikum versagt, denn für den größten Teil der Leserschaft sind seine Geschichten um Liebe, Verrat, Gefühlsverirrungen und gesellschaftliche Konventionen und Zwänge der Vornehmen und Wohlhabenden trotz sprachlicher und stilistischer Brillanz zu abgehoben, zu elitär. Sein Versuch, sich als Bühnenautor einen Namen zu machen, mißlingt gründlich: das von ihm verfaßte Stück „Guy Domville“ wird vom Publikum bei der Premiere mit Ach und Krach verrissen und Henry James ahnt, daß ihm die ersehnte Anerkennung als Schriftsteller wohl nicht mehr zuteilwerden wird.


    Die Antwort auf den Mißerfolg lautet Rückzug. Wir sehen Henry James als leisen, empfindsamen Menschen, der sich zwar von Zeit zu Zeit dem gesellschaftlichen Treiben von Sehen und Gesehenwerden aussetzt, aber immer Distanz zu seinen Mitmenschen wahrt und sich vor allzu großer Nähe in sein selbstgewähltes Alleinsein zurückzieht. Ohne je eine eigene Familie gegründet zu haben, seinen homoerotischen Neigungen hilflos ausgesetzt, sind es lediglich gute Bekannte und Freundinnen, welche er etwas näher an sich herankommen läßt. Allerdings muß er sich zeitlebens seinen Selbstvorwürfen stellen, diese im Ernstfall im Stich gelassen zu haben: Schwester Alice stirbt, ohne daß er sie noch einmal gesehen hätte und seine Seelenverwandte und Freundin Constance Fenimore Woolson nimmt sich in Venedig das Leben, nachdem sich Henry James aus Angst vor einer allzu starken Vereinnahmung standhaft geweigert hatte, sie in ihrem selbstgewählten Exil aufzusuchen.


    Stets ist es die Flucht, mit welcher er auf das Drängen und die Suche der Mitmenschen nach seiner Nähe reagiert: die Flucht in seine Londoner Wohnung, seine ausgedehnten Reisen nach Italien, später nach Lamb House in Rye, Sussex, welches er zunächst mietet und schließlich käuflich erwirbt. Eindrucksvoll macht uns Toibin an konkreten Beispielen seines umfänglichen schriftstellerischen Werkes glauben, wie er hier, in Abgeschiedenheit und Zurückgezogenheit vom gesellschaftlichen Treiben, seine Unfähigkeit zu Beziehungen, seine Selbstzweifel, aber auch seine früheren Erlebnisse und Erfahrungen im gesellschaftlichen Karussell der Eitelkeiten zu immer neuen Romanen und Erzählungen verarbeitet, wie ihm reale Menschen, Situationen und Beziehungen als Anschauungsmaterial dienen für die Entwicklungen von literarischen Figuren und Handlungen, kurz: Ein Lehrstück darüber, wie Literatur entsteht.


    Am bemerkenswerten ist, wie es Toibin gelingt, den großen Stilisten Henry James von seinem hohen Thron der literarischen Reputation herunterzuholen und ihn als Menschen auftreten zu lassen. Nichts bleibt von dem pompösen Habitus und der elitären Feingeistigkeit, welche das Werk Henry James´ durchzieht und welche wir auch bei seinem Urheber vermuten möchten: der Henry James, welchen uns Toibin vorstellt, ist kein Snob, kein Salonlöwe, er ist einfach ein Mensch mit Macken und Spleens, aber auch mit unverkennbaren Schwächen. Vor allem aber ist er wohl ein zutiefst einsamer Mensch.


    Zu guter Letzt sei die Sprache erwähnt, in der Toibin erzählt. Sie gleicht bis in die Nuancen derjenigen des Meisters selbst und besticht durch ihre Sprachmelodie, ihre Ruhe und Ausgewogenheit. In ihr bewegt sich Toibins Hauptfigur wie der Fisch im Wasser und nicht zuletzt darin besteht seine große Könnerschaft, daß er seinen Lesern eine so glaubwürdige Illusion seines eigenen Henry James präsentiert.


    Mein Fazit: Für Henry James – Liebhaber und solche, die es noch werden wollen, eine unverzichtbare Lektüre, für alle Anderen eine wunderbare und vor allem wunderbar geschriebene Studie über einen Menschen, seine Berührungsängste gegenüber anderen Menschen, seine selbstgewählte Einsamkeit und darüber, aus welchen Antrieben und unter welchen Umständen Literatur entsteht.

    @ hypocritica:


    @ squirrel:


    Nichts liegt mir ferner, als birgitk in irgendeiner Form zu beleidigen oder ihr zu unterstellen, sie habe das Buch nicht verstanden. Meine Absicht bestand nicht darin, ihr persönlich Vorhaltungen zu machen oder sie zu belehren, wie von Ihnen aus meinem Beitrag herausgelesen wurde. Auch war ich nicht der Meinung, birgitk sei vielleicht bei Trivialliteratur besser aufgehoben, ihr Bücherregal läßt ja schließlich auch Anderes vermuten. Sollte also der Eindruck entstanden sein, ich wolle birgitk persönlich zu nahe treten, tut mir das wirklich leid !


    Aber: Ich denke, jenseits aller persönlicher Lesevorlieben oder Geschmäcker kann doch objektiv beurteilt werden, ob ein Roman oder eine Erzählung eine gewisse Qualität besitzt oder nicht. Ich habe mich selbst an "Shades of gray", an Stephanie Meyer´s Vampirromanen und auch an Charlotte Roche´s "Feuchtgebiete" versucht, aus Neugier, und um zu wissen, worüber geredet wird. Wenn ich nun aus meiner Erfahrung sage, daß diese Machwerke einfach schlechte Literatur sind, ist das, meine ich, mein gutes Recht und keine Überheblichkeit. Andere mögen das Gegenteil behaupten, so ist das nun mal ......


    Was nun das Buch von Judith Schalansky anbelangt, fühle ich mich berufen, es zu verteidigen. Kritik ist immer gut, doch finde ich, daß sie aus der Sache, also aus dem Text selbst heraus begründet sein sollte. Äußerungen wie "...das Buch ist lahm", " .......das Buch ist schlecht lesbar" oder eben "...........die Illustrationen stören den Lesefluß" finde ich etwas oberflächlich und werden nach meinem Dafürhalten dem Buch nicht gerecht: Es wird auch niemand ein Gemälde von Rembrandt kritisieren, weil der Rahmen nicht so schön ist. Neben misslungenen Büchern gibt es eben auch misslungene Rezensionen, und die sollte man auch mal kritisieren dürfen !


    Seien Sie mir also bitte nicht böse, daß ich vielleicht etwas über das Ziel hinausgeschossen bin. Ich sag´s nur gerne so, wie ich es auch meine.

    Den im Großen und Ganzen negativen Beurteilungen meiner Vorrezensenten kann ich mich ganz und gar nicht anschließen, die vorgebrachte Kritik empfinde ich als ungerechtfertigt und unverständlich.


    Zitat

    Von Hermia: "Die Hauptperson macht in dem Buch überhaupt keine Entwicklung durch."


    Natürlich macht die Biologielehrerin Inge Lohmark im Laufe des Romans keine Entwicklung durch, wie von Hermia bemängelt, denn darum geht es der Autorin doch: Im Angesicht einer sich stark veränderten Realität, einer sich nur nur noch auf Zurückentwicklung und Abbau beschränkenden ostdeutschen Provinz, findet Inge Lohmark keine Antwort auf die neuen Lebensumstände: Die Tochter geflohen in die USA, der Mann mit seinen Straußen beschäftigt, um Hartz IV zuvorzukommen, abnehmende Schülerzahlen, die beschlossene Aufgabe der Schule und eine verödete Stadt, durch deren leere Straßen und verfallene Häuserzeilen der Wind pfeift. Inge Lohmark dagegen wirkt wie ein Relikt aus längst vergessenen Zeiten mit ihrer darwinistischen Weltanschauung, ihrem Zynismus und ihrer Unfähigkeit, auf ihre Schüler zuzugehen. Noch immer derselbe Frontalunterricht wie vor dreißig Jahren, ihre Weigerung, sich auf ein Leben nach der Schließung der Schule vorzubereiten, ihre Verachtung für die Kollegen und Kolleginnen mit ihren modernen und anbiedernden, albernen Unterrichtsmethoden. Da bietet die Biologie mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Klassifizierungen einen sicheren Halt in einer sich ansonsten nur zum Negativen verändernden Umgebung.


    Doch im Gegensatz zum titelgebenden Hals der Giraffe, in seiner Länge das Ergebnis einer sich über Jahrzehntausende vollziehenden Anpassung des Tieres an veränderte äußere Gegebenheiten, kann sich Inge Lohmark nicht mehr anpassen, denn ihr Leben ist Stagnation, ist Stillstand, sie selbst ein Auslaufmodell. Doch zwischen den Zeilen ist auf jeder Seite ihre Angst und Verunsicherung spürbar, ihr Bedauern über die fehlgegangene Beziehung zu ihrer Tochter und ihre wehmütigen Erinnerungen an eine längst erkaltete Ehe, welche nur noch auf dem Papier und als Zweckbündnis existiert. Ihre Unfähigkeit, sich zu ändern und anzupassen, wird ihr schlußendlich zum Verhängnis, denn daß eine ihrer Schülerinnen das Opfer fortwährender Mobbing-Attacken wird ( und vor dem Schulleiter einen Zusammenbruch erleidet ), kann, oder besser: will sie nicht erkennen: ihr droht die vorzeitige Suspendierung.


    Gewiß kann man dem Buch gewisse Schwächen ankreiden. So ist zum Beispiel das oben genannte Mobbing-Motiv schlecht herausgearbeitet, und auch die fortwährende Beschwörung ihrer darwinistischen Lebensgrundsätze mag bei manchem Leser einen Ermüdungseffekt hervorrufen. Ich selbst fand es jedoch beachtlich, wie die Autorin den beschränkten und eisernen Blick der Inge Lohmark auf die Welt durchhält, wie es ihr aber gleichzeitig gelingt, das ganze Unbehagen und die ganze Unsicherheit der Lehrerin greifbar zu machen.


    Zitat

    Von birgitK: "Zum Aufbau lässt sich sagen, dass die Illustraionen und die eingeschobenen, teilweise sehr fachspezifischen Erzählstränge das Lesen nicht gerade vereinfachen."



    Gänzlich ratlos läßt mich jedoch die Bemerkung der Erstrezensentin „birgitk“, die den gestörten Lesefluß durch die eingestreuten, übrigens von der Autorin selbst gefertigten Illustrationen bemängelt. Ich selbst wünschte mir mehr derartige Beispiele einer solch liebevollen und das Thema des Romans unterstützenden Buchgestaltung. Wer das nicht zu würdigen weiß oder wem es intellektuelle Schwierigkeiten bereitet, Bildwerke in seine Lektüre zu integrieren, dem sei doch eher die literarische Einheitsware und Massenabfertigung aus Schema-F-Krimi, minderbemittelter Vampirromantik, Erotik- und Historienschmonzetten empfohlen.


    Mein persönliches Fazit: Ein wunderbarer Roman, der sich durch die aktuelle Thematik, die ungewöhnliche Wahl der Erzählweise und natürlich durch die wunderschöne Gestaltung des Äußeren und der Illustrationen im Innern des Buches aus der großen Masse der deutschen Gegenwartsliteratur heraushebt.