Beiträge von Coco90

    "Du sagst es" ist die fiktive Autobiografie Ted Hughes, in welcher seine Beziehung zu Sylvia Plath beschrieben wird. Ted Hughes (1930 - 1998) war ein bedeutender englischer Dichter und Schriftsteller. Sylvia Plath (1932 - 1963) war Lyrikerin. Ihr einziger Roman "Die Glasglocke" zählt heute zu den Klassikern der Weltliteratur.


    Das Buch beginnt mit dem Kennenlernen und endet kurze Zeit nach Sylvia Plaths Suizid. Die Handlung umfasst die komplette Beziehung in chronologischer Reihenfolge. Schon das erste Aufeinandertreffen war bezeichnend für die spätere Beziehung, denn Sylvia soll Ted in die Wange gebissen haben.


    "Ich hätte wissen müssen, dass eine Frau, die beißt, statt zu küssen, den, den sie liebt, auch bekämpft." (S. 8 )


    Schnell ziehen die beiden ungewöhnlichen Persönlichkeiten den Leser in den Bann. Connie Palmen ermöglicht Einblicke in Sylvias und Teds Inneres und vermittelt dadurch ein durchdringendes, allumfassendes Bild in Sylvias und Teds Wesen, welches an Authentizität nicht zu überbieten ist. Sylvia Plath ist eine sehr extreme Frau, von Manien und Depressionen geplagt. Ihre Stimmungsschwankungen sind unberechenbar, können in unterschiedlichster Form jeder Zeit auftauchen. Neben Sylvia ist Ted der Hauptleidtragende.


    "Natürlich durchschaute ich selbst auch, dass die Angstattacken, Schweigekriege und Weinkrämpfe - so ernst ich die Wunde nahm, der sie entsprangen - dazu dienten, mich gefühlsmäßig zu manipulieren, aber ich hatte mich schon zu sehr mit der atemberaubenden Vorstellung angefreundet, ihr so wichtig zu sein, dass sie nicht eine Sekunde ohne mich auskommen konnte. (S. 193)


    Immer wieder muss er beweisen, dass er nur sie liebt. Ihr versichern, dass sie eine großartige Schriftstellerin ist. Über Sylvias Hass gegenüber Ihrer Mutter schreibt Connie Palmen in Teds Worten:


    "Keine Tochter hasst ihre Mutter, ohne sich selbst zu hassen." (S. 131)


    Die beiden sind voneinander abhängig, können nicht ohne einander, aber auch nur schwer miteinander bis es zum großen Vertrauensbruch kommt.


    "Der Mann, den sie angebetet und vergöttert hatte, den sie in allem über sich selbst gestellt hatte, war letztlich ein Mann wie alle anderen, ein Lügner, ein ehebrecherischer Betrüger, ein kleiner Mensch." (S. 225/226)


    Ted wird zum Buhmann. Zu dem, der in den Augen der Leute Schuld an Sylvias Suizid trägt.


    "Immer sind es die größten Heuchler, die sich über Tadel und Verdächtigungen empören, gegen die die Toten sich nicht mehr wehren können, um dann auf die nächste Überlebenden zu zielen und das Magazin auf sie leerzuschießen. Als könnten die Lebenden sich wehren mit Schmähungen, Verleumdungen, Unterstellungen und Klatsch bombardiert werden, als wäre eine Verteidigung gegen Lügen möglich, solange man sprechen kann. (S. 270)


    Das Buch hat eine melancholische, teilweise geradezu depressive und finstere Atmosphäre und berührt nicht zuletzt durch die schöne Sprache Connie Palmens. Ihre Worte sind wundervoll und treffend gewählt.


    "Du sagst es" ist nicht im klassischen Sinne spannend. Doch die bereits angesprochene Faszination, die das Paar auf mich ausübte, hielt mich am Lesen und bewirkte, dass ich mich auch nach der Beendigung des Romans noch eine Weile mit Sylvia Plath, Ted Hughes, den gemeinsamen Kindern und dem Leben nach Sylvias Tod auseinandersetzte.


    Fazit: Ein sehr melancholisches und atmosphärisch dichtes Buch über eins der berühmtesten Liebespaare der Literatur, das insbesondere, aber nicht nur für Liebhaber deren Werke empfehlenswert ist.

    "Moshi Moshi" beschreibt die Geschichte einer jungen Frau. Ihr Vater, ein bekannter Musiker, nahm sich mit einer Fremden das Leben und Yotchan bleibt mit der Mutter allein zurück. Während die beiden um den Verstorbenen trauern, fühlen sie sich zugleich verraten und hintergangen. Die Trauer um ihren Vater beschreibt Yotchan mit folgenden Worten:


    "Blumen, Licht, Wünsche oder ausgelassenes Vergnügen, all das war auf einmal in weite Ferne gerückt. Ich war gefangen in einer tiefen Finsternis in der nur noch die elementarsten Bedürfnisse herrschten, wo nur noch die aus meinem Bauch kommende Kraft zählte und alles Schöne und Leichte keinen Wert mehr besaß." (S. 7)


    Doch in diesem Buch geht es um viel mehr als das Gefühl der Trauer. Wir begleiten Yotchan ein kleines Stück auf dem Weg des Erwachsenwerdens und beobachten, wie sie aus dieser schlimmen Erfahrung auch an Stärke gewinnt. Yotchans Gedanken und Gefühle sind authentisch und nachvollziehbar beschrieben. Yoshimotos Schreibstil zeichnet sich durch seine ungeheure Leichtigkeit aus und dennoch gehen ihre Geschichten tiefer. In dem Restaurant in dem sie arbeitet, lernt Yotchan einen Mann kennen, in welchen sie sich zu verlieben glaubt. Aber ist die Liebe wirklich so einfach? Kann man sich aussuchen in wen man sich verliebt und was ist Liebe überhaupt?


    Die Erzählweise des Buches ist typisch japanisch. Nachdem Yotchan ihre Mutter fragte, was sie eigentlich den ganzen Tag tue, antwortet diese mit einer seitenlangen Beschreibung von ihrem Alltag. Dieser besteht aus vielen Nebensächlichkeiten und ist gerade deshalb etwas Besonderes. Denn wann findet schon der Alltag Beachtung? Die Art wie Yoshimoto diesen Alltag beschreibt ist nicht langweilig, denn in diesem Abschnitt hat der Leser das Gefühl selbst durch Shimokitazawa zu schlendern und die Stadt genauer kennenzulernen.


    Das Ende des Buches ist sehr gelungen, da es eigentlich kein richtiges Ende ist. Der Leser begleitet Yotchan über 304 Seiten hinweg und sie geht ihren Weg danach alleine weiter. Es gibt keinen Abschluss, der an ein konkretes Ereignis geknüpft ist.


    "Nichts hatte sich geändert, der Nebel hatte sich nicht gelichtet, und trotzdem war mein Herz zufrieden, als hätte es eine Antwort bekommen." (S. 293)


    Fazit: "Moshi Moshi" ist sehr melancholisch, an einigen Stellen wunderschön, sodass man das Buch nicht niedergeschlagen, sondern mit einem Lächeln zur Seite legt. Eine sehr japanische, melancholische und tiefgründige Geschichte über die Trauer und deren Bewältigung, das Erwachsenwerden und die Liebe.

    "Eine englische Ehe" ist die Geschichte einer Frau, die sich in jungen Jahren in ihren Literaturprofessor verliebt. Schon in der Anfangszeit ist das unglückliche Ende vorhersehbar. Gil verhält sich wenig gentlemanlike, was Ingrid auch bewusst ist. Sich selbst möchte sie beweisen, dass sie ihn halten kann...und ihn dann im passenden Moment abservieren. Doch sie bleibt bei ihm und als sie schwanger wird, ist an ein Ende der Beziehung nicht mehr zu denken. Ingrid lebt kein glückliches Leben. Sie schafft es nicht eine Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen und verhält sich so, wie es von einer liebenden Mutter erwartet wird. Nicht aus Instinkt, sondern aus Pflichtgefühl und um die Erwartungen zu erfüllen. Dass ihr Mann sie mehrfach betrügt und mit ihren Problemen alleine lässt, verschlimmert die Situation zudem. Dann verschwindet sie spurlos.


    Zwölf Jahre später glaubt Gil seine Frau gesehen zu haben. Die Töchter Flora und Nan gehen unterschiedlich mit der Situation um. Während Nan, die Ältere, nicht an das Hirngespinst des Vaters glaubt, beginnt Flora zu hoffen, dass ihre Mutter wirklich wieder auftauchen könnte.


    Die Geschichte ist in zwei Teile, welche sich regelmäßig abwechseln, aufgeteilt. Das Heute, das größtenteils aus Floras Sicht beschrieben wird und vor allem die Probleme von Flora und Nan behandelt: Bindungsangst, die unterdrückte Sehnsucht nach der Mutter, das Zweifeln am Vater. Ingrids Geschichte wird von Ingrid selbst in Briefform erzählt. Kurz vor ihrem Verschwinden schrieb sie Briefe an ihren Mann, welche sie in dessen zahlreichen Büchern versteckte. Die Briefe beginnen mit der Zeit des Kennenlernens und gehen bis zu ihrem Verschwinden. Hierdurch erfahren wir ihre Geschichte. Beschrieben wird eine zunächst hoffnungsvolle, später hoffnungslose Frau, die zahlreichen Demütigungen ausgesetzt war.


    Der Schreibstil der Autorin ist mitreißend und angenehm zu lesen. Die Geschichte selbst zog mich schnell in ihren Bann und ich war gespannt, mehr von der Verschwundenen zu erfahren. War sie wirklich wieder aufgetaucht? Oder ist ihr Wiederauftauchen das Hirngesprinst eines trauernden und bereuenden Mannes? Vor allem die Perspektivenwechsel erhielten die Spannung aufrecht. Die Briefform aus Ingrids Perspektive hat mir hierbei besonders gefallen.


    Fazit: Eine mitreißende Geschichte einer unglücklichen Frau und einer Ehe, die vermutlich keinem der beiden Partner gut getan hat. Mir hat das Buch sehr gut gefallen, auch weil es mich ein wenig an Meg Wolitzers "Die Ehefrau" erinnerte.

    "Der Voyeur" ist ein Sachbuch, ein Tatsachenbericht, über den Voyeur Gerald Foos. Dieser wendet sich an den Journalisten Gay Talese und erzählt ihm, dass er seit Jahrzehnten die Gäste seines eigens für voyeuristische Zwecke gekauften Motels, beobachtet. Beim Lesen des Klappentextes lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Unzählige Opfer wurden bei Gesprächen belauscht, beim Sex und beim Toilettengang beobachtet. Entdeckt wurde der Voyeur nie.


    Die New York Times beschreibt das Buch mit den Worten »"Ein außergewöhnliches, melancholisches, moralisch komplexes, oft beängstigendes und manchmal sehr komisches Buch, das einen vollkommen in seinen Bann zieht." Leider weiß ich beim besten Willen nicht, wie ich "moralisch komplex" deuten soll. Die Taten des Voyeurs sind eindeutig illegal und moralisch nicht vertretbar. Doch auch in anderen Punkten kann ich der Times leider nicht zustimmen. Das Buch ist in seiner Geschichte zwar außergewöhnlich, doch Melancholie konnte ich in der Sachlichkeit der Erzählweise (sowohl des Autors als auch des Voyeurs) nicht entdecken. Auch in den Bann ziehen konnte mich dieses Buch leider weniger, denn umso mehr ich las, desto stärker ließ das Interesse nach. Zu Beginn erfährt der Leser viel über das Leben des Voyeurs. Später wiederholt sich vieles. Klar, der Sex wird anders, ebenso die Gespräche der Gäste. Aber im Grunde genommen wird eben immer wieder geschildert, wie ein Mann seine Motelgäste bespannt. Welche Stellen die Times mit "manchmal sehr komisch" beschreibt, weiß ich genau. Doch ich konnte diese Stellen nicht als komisch empfinden. Einiges ekelte mich an (dabei nicht nur der Voyeur, sondern auch dessen Gäste), bei anderen Stellen fühlte ich mich aufgrund der Verletzung der Privatsphäre unwohl. Denn nichts anderes ist dieses Buch: Das Beobachten von echten Menschen, die sich dessen nicht bewusst sind. Das Buch macht den Leser zum Voyeur und ich fühlte mich nicht wohl damit.


    Der Schreibstil des Journalisten Gay Talese ist sehr sachlich und angenehm leicht zu lesen. Der Aufbau des Buches gefiel mir gut. Die Geschichte beginnt mit dem Brief, den Gerald Foos an Gay Talese schrieb. Später springt der Autor zwischen Gesprächen mit Foos, Aufzeichnungen des Voyeurs und eigenen Gedanken hin und her. Dies sorgt für Abwechslung.
    Auch die Bilder des Voyeurs, seines Motels, den Zimmern des Motels, seinen Ehefrauen, etc. empfand ich sehr interessant. Gesammelt sind die Bilder in der Mitte des Buches.


    Fazit: Leider konnte mich das Buch nicht überzeugen, was sicherlich damit zu tun hat, dass ich mich mit der Thematik nicht wohlfühlte. Ich hatte das Gefühl, als würde ich beim Lesen selbst in das Privatleben der beobachteten Menschen eindringen, was ich in gewisser Art und Weise auch tat. Die Beobachtungen des Voyeurs wiederholen sich häufig und die Veränderung des Sexlebens über die Jahrzehnte, überraschte mich nicht wirklich. Leider verlor das Buch für mich immer weiter an Spannung.

    In "Frauen, die lieben" betrachtet die Autorin unterschiedliche Beziehungen. Da wäre das auf den ersten Blick klassische Ehepaar. Mann, Frau und Sohn in einer intakten Beziehung zueinander mit Haus und ohne Sorgen. Nach und nach stellt sich jedoch heraus, dass nicht alles so perfekt ist, wie es zu sein scheint. Des Weiteren handelt die Geschichte von einem lesbischen Paar und deren Tochter. Dass hier einiges im Argen liegt, merkt der Leser schnell. Die dritte Beziehung, spielt sich zwischen den Kindern der beiden Paare ab. Während Harry der brave Vorzeigesohn ist, ist Ruby eine Rebellin durch und durch. Dennoch scheint sie mehr zu verbinden, als ein Beobachter zunächst für möglich halten mag.


    Der Schreibstil der Autorin ist sehr flüssig und angenehm zu lesen. Ich merkte kaum, wie die Seiten dahin flogen und kam schnell voran. Während ich die Geschichte beim Lesen ganz gerne mochte, tat ich mich schwer, das Buch nach Pausen wieder zur Hand zu nehmen. Hauptursache dafür: Die Charaktere interessierten mich nur wenig, da ich diese als sehr stereotyp und wenig facettenreich empfand. Während des Buches machte kaum einer davon eine Entwicklung durch und behielt somit den Stempel, den er von mir unabsichtlich zu Beginn des Buches aufgedrückt bekam.


    Sehr gut gefallen haben mir die regelmäßigen Perspektivenwechsel. Leider waren die Gefühle der Charaktere weniger eindringlich beschrieben, sodass ich diese zwar verstehen, aber nur schwer nachempfinden konnte. Die Geschichte selbst ist vom Alltag geprägt und somit wenig spannungsgeladen.


    Beworben wird der Buch mit dem Satz "Ein sensibler und unterhaltsamer Roman über die Komplexität moderner Beziehungen von der amerikanischen Bestsellerautorin Emma Straub." Unterhaltsam ist dieser Roman auf jeden Fall, denn beim Lesen selbst kommt kaum Langeweile auf. Als sensibel empfand ich ihn weniger, aber auch das ist sicherlich Ermessenssache. Was allerdings mit "Komplexität moderner Beziehungen" gemeint ist, kann ich leider nicht nachvollziehen. Die Beziehungen, die hier geführt werden sind nicht komplexer als es jede Beziehung von Natur aus ist. Und modern sind die aufgeführten Beziehungen maximal durch die ausgelebte Homosexualität. Der Rest wirkt, abgesehen davon, dass ein Großteil der Erwachsenen in einer berühmten Band spielte, eher konservativ.


    Fazit: Ein Buch über Beziehungen, das vor allem von Problemen und dem Alltag erzählt. Gerade bei den Charakteren hätte ich mir deutlich mehr Tiefe und Facetten gewünscht. Ein unterhaltsames Buch, das man aber nicht unbedingt gelesen haben muss.

    In dem ersten Band der Trilogie betrachtet Miklos Banffy die ungarische Oberschicht. Die Gesellschaft an sich mit all ihren Intrigen, Bedürfnissen, Sehnsüchten und Charaktereigenschaften wurde sehr detailliert und ausführlich beschrieben. Erzählt wurde die Geschichte der beiden Grafen Balint und Laszlo (in etwa zu gleichen Teilen), deren Entwicklung und deren große Gefühle für zwei Frauen. Auch politische Einblicke gab es bereits. Die Stimmung des ersten Bandes war unbeschwerter. Es gab humorvolle Stellen, welche in diesem zweiten Band deutlich seltener vorkommen. Dass die Stimmung in den beschriebenen Jahren in Siebenbürgen eher düster und vorahnungsvoll ist, spiegelt sich in der Atmosphäre des Buches wider. Die politische Lage spitzt sich zu, der erste Weltkrieg steht bevor.


    Im zweiten Band der Trilogie steht die Politik im Vordergrund. Alle Leser, die nicht oder nur wenig mit der Geschichte Siebenbürgens vertraut sind, sollten sich spätestens vor dem Lesen des zweiten Bandes noch ein paar Grundkenntnisse zulegen. Genauestens beschreibt Banffy die Politik der Ungarn zur damaligen Zeit. Ein gewisses Interesse ist also absolut notwendig. Die Hauptthemen des ersten Bandes geraten etwas in den Hintergrund. Zwar wird Balints Liebe zu Addy nach wie vor thematisiert, doch Laszlo kommt in diesem zweiten Band - zu meinem Bedauern! - kaum noch vor, war er doch in "Die Schrift in Flammen" mein Liebling. Die Geschichte geht voran. Genauer thematisiert wird in diesem Buch auch die Bedeutung der Ehe und die Stellung der Frau. Der Schreibstil des Autors ist nach wie vor ein wahrer Genuss und erinnert stark an Tolsois Schreibe, mit welchem er auch des Öfteren verglichen wurde.


    "Im prasselnden Regen erreichten sie manche Tropfen, sie rollten ihr über das Gesicht hinab und bedeckten die Brillengläser. Doch nicht dies allein behinderte ihre Sicht. Ihre Tränen sammelten sich auch auf der Innenseite der gewölbten Gläser. Allmählich durchdrangen sie - es waren so viele - den fest anliegenden Rand der Brille und flossen ihr die Wangen hinab. Die Natur und die ihre Augen wetteiferten miteinander, so beweinten sie ihre Trauer." (S. 107)


    Fazit: Keine Frage, dass es sich bei Banffys Werk um Weltliteratur handelt. Stilistisch sicher schafft er Atmosphären und schillernde Bilder im Kopf des Lesers wie kaum ein anderer. Sehr zu empfehlen, ein Interesse an der (ungarischen) Politik ist aber Grundvoraussetzung.

    Die Geschichte beginnt mit dem Dienstmädchen Jane, dass in dem Bett ihres Liebhabers Paul liegt. Paul ist der Sohn einer angesehenen Familie und wird in Kürze heiraten. Die beiden verbinden einige Momente der geheimen Zweisamkeit, doch in den 20ern des 19. Jahrhunderts, darf solch eine Liebe nicht sein. Als Paul sich auf den Weg zu seiner Verlobten macht, bleibt Jane allein im Haus zurück. Nackt bleibt sie zunächst in seinem Bett, streift dann jedoch durchs Haus und hängt ihren Gedanken nach. Sie spinnt Szenen. Szenen, wie Paul sein Zuspätkommen erklärt. Szenen, wie seine Verlobte darauf reagiert.


    "Ich kenne weder meinen Vater noch meine Mutter. Auch meinen wirklichen Namen nicht. Falls ich je einen hatte. Und das schien mir die beste Voraussetzung für den Beruf des Schriftstellers - besonders für einen Geschichtenerzähler. Ohne Empfehlung zu kommen. Ein leeres Blatt zu sein. Ein Niemand. Wie soll man ein Jemand werden, wenn man nicht erst ein niemand war?" (S. 95)




    Im groben ist dies bereits die Handlung von "Ein Festtag". Doch die Geschichte geht viel tiefer. Der Leser erhält Einblicke in Janes früheres sowie in Janes späteres Leben. Als Waisenkind aufgewachsen, später als Schriftstellerin gefeiert. Wir erfahren, wie der Schicksalsschlag, der in dem Klappentext angekündigt wird Jane und deren Leben nachhaltig verändert. Wir verfolgen ihre Gedanken zu der Sprache, ihre Gedanken zu ihrer Herkunft und zugleich entwirft Graham Swift ein treffendes und genaues Bild der damaligen Gesellschaft.


    "Die Dienenden dienten und die Bedienten lebten. Aber manchmal schien es ehrlich gesagt genau andersherum zu sein. Das Dienstpersonal hatte ein Leben, und das war hart, während die Bedienten oft nicht zu wissen schienen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollten." (S. 98)


    Insbesondere die Gedanken der Protagonistin Jane und deren Entwürfe von Szenen konnten mich begeistern. Ebenso der Schreibstil des Autors Graham Swift, der so leicht und direkt und dennoch voller Intensität ist. Die Poesie seiner Sprache, steigert Graham Swift im Laufe des Buches und so intensivieren wundervolle Gedankenkonstrukte und atmosphärische Beschreibungen die vorliegende Geschichte.


    "Und wenn Waisenkinder jetzt tatsächlich Weißenkinder genannt wurden? Und der Himmel Erde hieß. Und wenn Bäume Osterglocken hießen. Würde das an der Natur der Dinge etwas ändern? Oder an ihrem Geheimnis?" (S. 105)




    "Wir sind alle Brennstoff. Wir werden geboren, und wir brennen, manche schneller als andere. nd es gibt unterschiedliche Zündstoffe. Aber nicht zu brennen, nie zu entflammen, das wäre wahrhaftig ein trauriges Leben." (S. 112)




    Fazit: "Ein Festtag" hat mir in vielerlei Hinsicht gefallen. Die anderen Werke von Graham Swift werden von mir nicht unbeachtet bleiben!

    „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“ handelt von dem jungen Erwachsenen Jonas. Sein Großvater hinterlässt ihm nach dessen Tod einen Zettel, mit einem Namen und der Notiz „Finde diesen Mann“. Jonas, der von dem Namen Valerij Butzukin noch nie gehört hat, macht sich auf die Suche, in der Hoffnung mit Valerij Butzukin auch seinen leiblichen Vater zu finden. Doch bevor er sich auf den Weg nach Russland macht, begegnet er Juri und Stas. Zwei junge Russen in seinem Alter, die schnell zu Freunden werden und ihn bei seiner Reise begleiten.


    „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“ ist ein Buch, das man am besten mit den Worten außergewöhnlich und anders beschreiben kann. Dies ist vor allem durch den sehr besonderen Schreibstil der Autorin begründet. Die Geschichte um Jonas ist in großen Teilen in der 2. Person geschrieben. Hierdurch fühlte ich mich als Leser besonders in die Geschichte integriert. Jonas Geschichte ist aus dessen Sicht geschrieben und dennoch wird der Leser als Jonas angesprochen. Jonas macht sich Vorwürfe, weil er sein Großvater erst vor dessen Tod nicht im Krankenhaus besucht hat. Es scheint, als würde der Erzähler dem Protagonisten Vorwürfe machen…und der Protagonist ist der Leser selbst.


    „Durch Schläuche pumpte man Nahrung in ihn hinein. Und durch die Schläuche wieder raus. Du hast es nicht hingekriegt. Du warst nie wieder dort. Mutter jeden Tag. Und du dämlicher Sack hast Ernst zu Ehren lieber die Knöchel deiner Hand an der Wand zerhauen. (…) Weil du nicht sehen wolltest, wie ihm der Speichel aus dem Mund läuft und die Augen sich nicht mehr regen, wie er dich nicht mehr erkennt.“ (S. 22)


    Neben dieser außergewöhnlichen Perspektive ist auch die Wortwahl der Autorin anders, als ich es gewohnt war. Der Schreibstil ist sehr derb und direkt, die Umgangssprache der Charaktere des Buches.


    „Keinem hast du es gesagt. So macht man es hier eben. Schweigen. Wie deine Mutter, wie alle hier. Hier am Stadtrand, wo Mutter und Peter immer auf dich warten, in dieser kleinen Straße mit sieben Häusern nach rechts, fünf nach links, in der du als Kind so oft allein auf dem Spielplatz warst, hier, wo du in letzter Zeit so selten her kommst, um den guten Sohn zu spielen und in Sinnlosigkeit zu starren, steht das Leben ab wie Wasser in einem Glas. Zuerst scheint es rein und klar, und nach und nach setzt sich das Hässliche, das einst Unsichtbare am Glasboden ab. Wie bei den Steindrechslers, bei denen keiner wusste, was solche wie die hier verloren haben. Urlaub hier, neuer Wagen dort, noch ein Porsche für den Wochenendausflug, Familienhund, perfekte Harmonie, bis es dann plötzlich im Lokalteil stand – dass die hübsche Steindechslertochter, Klassenbeste, gar nicht im Internat war die ganze Zeit, sondern in der Anstalt, und der Mann nicht auf Dienstreise in der Schweiz, sondern im Gefängnis, weil er die Tochter ins Irrenhaus gefickt hatte. Welcome Home!“ (S. 33)


    Auch die vielen Dialoge sind bezeichnend für den Stil dieses Buches. Eine besonders tolle Idee, fand ich auch die kurzen Informationen, die immer wieder über das Seitenende „laufen“, als wären es Schlagzeilen. Die Kombination aus ungewöhnlicher Perspektive und Wortwahl nahm ich zunächst mit gemischten Gefühlen auf. Ich hatte Zweifel, ob ich mich daran gewöhnen würde, doch das gelang mir viel schneller als gedacht. Das Leseerlebnis war für mich eine völlig neue Erfahrung und ich mochte sie. Am Besten gefallen hat mir, dass neben Jonas auch die anderen Charaktere genauer betrachtet wurden. Der Schreibstil änderte sich in diesen Kapiteln signifikant, sodass der Leser sofort merkt, dass dies nichts mit der eigentlichen Geschichte oder mit Jonas zu tun hat.


    Zu nahezu jeder Person gibt es ein Kapitel zu lesen. Daher weiß der Leser zum Ende der Geschichte mehr, als der Protagonist. Und er erkennt, dass der erste Blick oft täuscht, wie bspw. die Einschätzung von Stas Mutter. Durch die Augen des Protagonisten wirkt diese recht simpel. Doch in ihrem Kapitel lesen wir mehr über ihre Träume, ihre Vorgeschichte und wie sie dort gelandet ist, wo sie sich jetzt befindet. Stas Kapitel lässt den Leser dessen Anfangszeit in Deutschland erleben. Wie er sich fühlte, weil er sich nicht verständigen konnte, wie er zum Außenseiter wurde. Diese Gefühle beschreibt Kat Kaufmann wie nebenbei und dadurch umso treffender.


    Themen in diesem Buch gibt es viele. Was machte uns zu dem, was wir sind? Was ist aus unseren Träumen geworden? Wer oder was hat diese verhindert? Auch die Themen Integration oder die Suche nach der eigenen Identität, finden in diesem Buch Platz. Wer bin ich eigentlich? Ebenso wird die Frage „Was passiert, wenn nicht miteinander gesprochen wird?“ aufgeworfen. Jonas Geschichte ist ein Beispiel dafür. Doch die vielen Einblicke in unterschiedliche Menschen und deren Vorgeschichte, ließen mich auch über Vorurteile nachdenken. Wie kann man Menschen beurteilen, die man kaum kennt? Die Menschen geben von sich nur das Preis, was sie von sich Preis geben möchten und daher steckt hinter den einzelnen Personen immer mehr, als es zunächst den Anschein macht.


    Die Geschichte zeigt unterschiedlichste Menschen, die im Endeffekt vielleicht gar nicht so unterschiedlich sind. Sie beschreibt, wie Hoffnungen und Erwartungen die Sinne und die Wahrheit trüben. Nichts in diesem Buch ist, wie es scheint. Während die Protagonisten durch ihre Hoffnungen beeinflusst werden, wird der Leser durch seine Erwartungen an der Nase herum geführt. Dies macht die Geschichte nicht nur spannend, sondern auch überraschend und ergreifend.


    Fazit: „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“ ist ein Buch, das mich lange über verschiedene Themen nachdenken lies. Durch Schreibstil und Aufbau ist Kat Kaufmann ein Roman gelungen, der sich von der Menge abhebt und Lust auf mehr Bücher der Autorin macht. Wer sich auf dieses Buch wirklich einlässt, darf sich auf eine völlig neue Leseerfahrung freuen.

    „Spinner“ war mein erster Roman des Autors Benedict Wells und dessen Debüt, das er im Alter von neunzehn Jahren schrieb. Protagonist ist der 20-jährige Jesper Lier, der nach dem Abitur von München nach Berlin zieht um seinen Roman, ein Meisterwerk wie er selbst immer wieder behauptet, zu beenden. Während des Schreibens verliert er sich selbst. Hatte er sich überhaupt je gefunden? Jespers Roman umfasst weit mehr als tausend Seiten. Verteilt ist dieser in der ganzen Wohnung, denn Jesper genießt den Eindruck, den sein Werk in seiner kleinen Wohnung vermittelt. Den Eindruck, dass hier ein Genie, ein kleiner Dostojewski, lebt. Umso weiter der Leser in den Roman abtaucht, umso mehr wird ihm bewusst wie verloren Jesper ist. Wir begleiten Jesper durch verschiedene Momente, in welchen er über sich und sein Leben nachdenkt, sich selbst beschimpft oder auch gegenüber seinen Freunden völlig ausrastet. Jesper hat jegliche Orientierung verloren. Durch Alkohol und Lügen hält er sich immerhin gerade so auf den Beinen. Er hat Träume. Vor nichts hat er mehr Angst, als davor zu scheitern und zu enden, wie alle anderen.


    „Ich wachte mit einem Gefühl von kalter Angst auf. Sah mich in einem Studienfach, das ich hasste, in einem Büro, das mich einengte, in einem Beruf, der mich auffraß und mir egal war. Sah, wie ich mir abends ein Fertiggericht zubereitete und mich und meine gescheiterte Existenz verurteilte.“ (S. 223)



    Der Schreibstil des Autors ist einfach zu lesen und sehr authentisch, wohl auch, weil Benedict Wells in Jespers Alter war, als er den Roman schreib. Das Buch ist sehr melancholisch und vermittelt die Gefühle, wie sie wohl viele junge Erwachsene in Jespers Alter kennen dürften: Orientierungslosigkeit, Druck der Gesellschaft (und der eigene Druck), das „mehr wollen“, Angst. Dadurch wirkt der Roman sehr authentisch und glaubwürdig und geht umso tiefer. Doch auch witzige Stellen gibt es in diesem Roman zu Genüge. Hierfür fällt es mir immer schwer Beispiele zu nennen, da Zitate, aus dem Zusammenhang gerissen, deutlich weniger komisch wirken. Dennoch eine kleine Kostprobe. Auf der langweiligen Geburtstagsparty seiner Tante, beobachtet Jesper, wie sein Freund Gustav es wieder einmal schafft alle Leute um sich herum zu unterhalten und für sich zu gewinnen.


    „Normalerweise hätte ich mich abgewendet und wäre gegangen, aber der Alkohol im Blut flüsterte mir zu, dass auch ich etwas Wichtiges sagen sollte. Die anderen unterhielten sich gerade über ein Kaninchen, das eine Tochter als Haustier bekommen hatte, als ich laut dazwischenredete: „Wir hatten auch mal ein Haustier, eine Katze namens Whiskey, aber die hat sich umgebracht!“, sagte ich.“ (S. 44)



    Doch hinter Jesper steckt viel mehr, als ein Lügner und selbst überschätzter Schriftsteller. Er leidet unter dem Tod seines Vaters und darunter, sich selbst viel zu schlecht einzuschätzen. Auch wenn er sich gerne als den großen Künstler darstellt, merkt man beim Lesen schnell, dass er von sich selbst viel weniger überzeugt ist, als er immer behauptet.


    Das Thema des Buches ist das jung sein. Wie geht es nach der Schule weiter? Wie fühlt man sich, wenn man das erste Mal selbst entscheiden muss und einem so unglaublich viele Wege offen stehen? Wie soll man sich bei solch wichtigen Entscheidungen überhaupt entscheiden? Und wie schafft man es, dennoch seine Träume zu verwirklichen? Zugleich wird der Druck, der auf jungen Menschen dieses Alters lastet thematisiert. Nicht alle schaffen es, sich im Alter von 18 Jahren (oder auch 20, 25, …) richtig zu entscheiden und einen geraden, perfekten Weg einzuschlagen.


    Lang ist es noch nicht her, dass ich selbst 20 Jahre alt war. Und in diesem Alter war ich Jesper gar nicht so unähnlich. Selbst heute, kann ich noch einige Parallelen erkennen und mich gut in den Protagonisten hineinversetzen. Dementsprechend berührt war ich von diesem Buch. Durch den lockeren Schreibstil und die spannende Handlung (die übrigens deutlich überraschender und abwechslungsreicher, als man zunächst vermuten mag) las ich „Spinner“ innerhalb eines Tages. Beim Zuschlagen eines Buches, kann man meist einschätzen, ob es sich dabei um ein Buch handelte, das im Gedächtnis bleibt oder das man recht schnell wieder vergisst. An „Spinner“ werde ich mich sicher noch lange zurück erinnern, insbesondere an die unten zitierten Textstellen (und noch ein paar mehr).


    Fazit: „Spinner“ ist ein Buch, das vor allem für junge Leute in Jespers Situation geschrieben ist, weshalb ich mir gut vorstellen kann, dass Leser außerhalb dieser Zielgruppe mit dem Buch nicht viel anfangen können. Mir jedoch hat es enorm gut gefallen, weshalb ich es sicherlich das ein oder andere Mal verschenken werde.


    „Gustav hatte natürlich Recht. Und mir war auch klar, dass die Leute jemanden wie mich für einen Spinner hielten, weil ich noch immer an meine Träume glaube.“ (S. 18)



    „Alle hatten Angst vor Lücken in ihrem Lebenslauf. Aber niemand schien Angst davor zu haben, seine Träume zu verraten.“ (S. 99)


    „Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass es mir scheißegal wäre, aber insgeheim interessierte es mich sogar wahnsinnig, was andere von mir hielten.“ (S. 100)


    „Ich hatte den Tod ohnehin nicht verdient, ich konnte ihn doch gar nicht bezahlen, denn er kostete das Leben, und davon hatte ich noch viel zu wenig.“ (S. 128)


    „Es ist der Fluch der Jugend, dass man glaubt, ständig zu leiden. Doch wenn diese Zeit vorbei ist, stellt man verwundert fest, dass man sie geliebt hat. Und dass sie nie mehr zurückkommt.“ (S. 315)

    Die Gestaltung dieses kleinen Büchleins ist hervorragend. Ausgestattet mit einem Einband in Krokodillederoptik, einem passend grünen Lesebändchen und dem besonderen Format von 10 x 2,7 x 15,6 cm eignet es sich perfekt als Geschenk. Doch auch der Inhalt kann sich sehen lassen, denn dieses Buch umfasst nicht nur die Kurzgeschichte "Das Krokodil" sondern vier weitere Erzählungen sowie ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers Eckhard Henscheid.


    Roman in neun Briefen (1847)
    Der "Roman in neun Briefen" wird durch den Briefwechsel zweier Männer erzählt. Zu Beginn bezeichnen sich die beiden als Freunde, doch der Ton verschärft sich von Brief zu Brief. Vorwürfe bestimmen den Ton und der Leser fühlt sich zwischen den beiden Männern hin- und hergerissen, kann die Beweggründe beider verstehen. Das an der Nase herumführen gelang Dostojewski mit dieser Erzählung hervorragend und mit einer ordentlichen Portion Humor.


    Das Krokodil (1865)
    "Das Krokodil" ist wahrscheinlich die absurdeste Geschichte dieses Sammelbandes. Jeder Charakter der Geschichte, versucht das Beste aus der Situation, in der Matwejitsch bei lebendigem Leibe von einem Krokodil verschluckt wird und in dessen Körper weiter lebt, zu machen. Die Reaktionen sind komisch, tragisch und bringen den Leser zum Schmunzeln.


    Eine peinliche Geschichte (1862)
    Mein Favorit ist ganz klar "Eine peinliche Geschichte". An Komik war diese Erzählung kaum zu überbieten. Die Geschichte, in welcher sich ein Mann hohen Ranges dazu entschließt durch Menschlichkeit und Nähe, die Liebe des niederen Volkes zu gewinnen und so ziemlich alles falsch macht, was man nur falsch machen kann, brachte mich nicht nur mehrfach zum Lachen, sondern auch zum Fremdschämen.


    Die Sanftmütige (1876)
    Die große Überraschung dieses Sammelbandes kam mit "Die Sanftmütige". Ich war darauf eingestellt auch hier eine komische Geschichte zu lesen, allerdings handelt diese Erzählung von der Geschichte einer Selbstmörderin. Wie es zu dem Selbstmord kommen konnte schildert ihr Ehemann, der an dem Unglück der Frau nicht ganz unbeteiligt war. Diese Geschichte ist weder komisch noch heiter, aber sehr spannend und eindringlich.


    Ein kleiner Held (1857)
    In „Ein kleiner Held“ (1857) blickt ein Mann zurück auf seine erste Schwärmerei mit elf Jahren. Dabei geriet er in die Irrungen und Wirrungen auf einem Gutshof. Diese Geschichte überraschte mich mit Dostojewskis Einfühlungsvermögen in die Gefühle eines pubertierenden Jungen. Auch in dieser Erzählung gibt es zwar einige witzige Stellen, doch die Geschichte wird vor allem durch den bildhaften Schreibstil und die Authentizität der Charaktere getragen.


    Abgerundet wird dieser Sammelband durch Fußnoten, Anmerkungen und einem interessanten Nachwort von Eckhard Henscheid.


    Fazit: Empfehlenswert für alle, die sich für russische Literatur interessieren. Egal, ob Dostojewski-Kenner oder Dostojewski-Neuling.

    Gut zwei Jahre ist es her, dass ich begeistert Diane Brasseurs Debüt "Der Preis der Treue" las. Ihr zweites Werk "Leidenschaft ist doch nicht alles" erwartete ich sehnsüchtig. Zum zweiten Mal lässt die Autorin den Leser in die Gedankenwelt des Protagonisten eintauchen, schafft hierbei eine Geschichte aus Vergangenem und Selbstreflexion.


    Diane Brasseur ist eine der wenigen Autorinnen, die ich nach wenigen Zeilen sofort erkennen würde. Ihr Schreibstil ist einzigartig in seiner Zartheit und seiner Poesie. Die Einfachheit ihrer Sprache, die kurzen Sätze berühren ebenso wie die Beschreibung scheinbar ganz normaler, alltäglicher Dinge.


    Im Mittelpunkt steht dieses Mal eine vierunddreißigjährige Frau, deren Name unbekannt bleibt. Seit ihrer Kindheit hat sie ein enges Verhältnis zu ihrem Vater, dem einzigen Mann, mit dem sie je zusammenlebte. Die Beziehung zu ihrem Vater nimmt einen großen Teil des Buches ein. Dieser Teil ist an Detailgenauigkeit und Authentizität nicht zu überbieten. Beschrieben wird die Ähnlichkeit der beiden, mit welcher sie sich gegenseitig zur Weißglut bringen.


    "Die Vorliebe für Tragödien habe ich von ihm geerbt. Mir geht Intensität über alles, wie ihm. Über nichts ärgere ich mich mehr, als wenn man mir sagt:
    Du bist deinem Vater aber ähnlich." (S. 55)


    Gleichzeitig wird die intensive Liebe, die sie füreinander empfinden, beschrieben. Das innige Gefühl, des verletzt seins, wenn ein geliebter Mensch gekränkt wird, berührte mich ganz besonders. Ebenso thematisiert werden die ganz normalen Peinlichkeiten. Zum Beispiel, den Freund mit nach Hause zu bringen, der von dem Vater nur "junger Mann" oder bei guter Laune "junger Mann aus gutem Hause" genannt wird oder die Scham, wenn der Vater sich am Geburtstag als Clown verkleidet, auch wenn alle Kinder einen um den coolen Vater beneiden.
    Doch auch als Berater in Liebesdingen, fungierte der Vater der Protagonistin ganz hervorragend.


    "Ich bitte dich inständig, sei so gut und zwinge dich zu nichts, es gibt nichts Traurigeres als vorgetäuschte Liebe." (S. 13)


    Nachdem das Buch mit der Szene, in welcher Protagonistin von ihrem Freund verlassen wird, beginnt, erfahren wir mehr über das Kennenlernen und die ersten Monate der Beziehung.


    "Während er mit mir redete, streckte er die Hand zu mir aus, um mein Bein zu berühren, wie ein Autofahrer der seiner Beifahrerin bei Rot die Hand aufs Knie legt.

    Eine spontane Geste, die mir direkt ins Herz und in den Unterleib fuhr. Seine langen Pianistenfinger mit den gewölbten, vom Tabak leicht verfärbten Nägeln hatten sich von der Tischkante gelöst und waren langsam auf mich zugekommen. Wenige Zentimeter vor meinem Schenkel hielt die Hand inne. Diese unterbrochene Geste war die allerzarteste, allerunauffälligste Liebkosung gewesen." (S.46)


    "Auf dem Heimweg war mir ständig dieser Satz durch den Kopf gegangen, von dem ich glaubte, er gelte nicht für mich: "Er ist der Richtige." Endlich gab es keinen Zweifel mehr: Ich war, wie alle anderen." (S.51)

    Diane Brasseur führt uns durch all die besonderen Ereignisse und Kleinigkeiten, welche die meisten Paare in den ersten Monaten erfahren. Der erste Streit wegen etwas völlig Unwichtigem, das Kennenlernen der Eltern, das Beobachten von Gewohnheiten, die Vorbereitungen, wenn der Geliebte nach einer Reise zurück kommt und man ihn am Flughafen abholen möchte sowie die Leidenschaft und der Sex. Diese Liebe zu einem Mann, die sie mit 34 Jahren das erste Mal in der Form erlebt, ist ebenso authentisch beschrieben, wie die Beziehung zwischen Vater und Tochter. Die Erlebnisse sind so bildhaft, dass sie sich wie ein Film vor meinen Augen abspielten.


    Fazit: Meine Erwartungen an "Leidenschaft ist doch nicht alles" waren aufgrund des vorhergehenden Werkes nahezu gigantisch und konnten voll und ganz erfüllt, wenn nicht gar übertroffen werden. Wieder erschaffte Diane Brasseur eine authentische und mitreißende Geschichte über die ersten Monate einer Liebe sowie der Liebe zwischen Vater und Tochter. Dabei bleibt vieles unausgesprochen, das Ende offen.

    Klappentext: Ein gefeierter Familienroman über die Macht des Mitgefühls, in dessen Kern die Familie steht – die, in die wir hineingeboren werden, und die, die wir selbst wählen.
    Am Morgen der Hochzeit ihrer Tochter geht June Reids Haus in Flammen auf und reißt ihre ganze Familie in den Tod. Nur June überlebt. Taub vor Schmerz, setzt sie sich in ihren Subaru und fährt quer durch die USA. Eine alte Postkarte ihrer Tochter führt sie in ein kleines Motel an der Westküste, das Moonstone Motel, wo sie sich unter falschem Namen einmietet. Hier, glaubt sie, wird niemand sie finden. Das amerikanische Provinznest Wells überschlägt sich derweil vor Gerüchten. Alle sind auf die eine oder andere Art von der Tragödie betroffen, und das Kleinstadtgerede offenbart allmählich eine unheilvolle Verkettung von Familientragödien. Während June in der dumpfen Anonymität des Motels jeden zwischenmenschlichen Kontakt meidet, spannt sich unter ihr unbemerkt ein Netz wahrer Mitmenschlichkeit – es könnte sie auffangen und zurück ins Leben holen. Ein Familienroman voller Optimismus über eine unverhoffte Begegnung mit der Menschlichkeit, die uns aus den Trümmern unseres Schicksals zu reißen vermag, wenn scheinbar alle Hoffnung verloren ist. Bill Cleggs »New York Times«-Bestseller ›Fast eine Familie‹ wurde hymnisch besprochen und mit einer Man-Booker-Nominierung geehrt.


    In der Nacht vor der Hochzeit ihrer Tochter Lolly geht Junes Haus in Flammen auf. Lolly und ihr Verlobter sterben ebenso wie Junes Exmann und ihr neuer Partner. Dieses Unglück ist der Ausgangspunkt des Buches. Aus der Sicht verschiedener Personen erfahren wir mehr über die Zusammenhänge, aber auch mehr über deren Leben vor und nach dem Unglück. Das Buch ist in kurze Kapitel unterteilt, die Perspektive wechselt häufig und unregelmäßig. Manche Charaktere kommen nur einmal zu Wort, die Erzählungen erfolgen nicht in chronischer Reihenfolge. Mit dem Wechsel der Perspektive ändert sich auch der Erzählstil des Autors. Neben June, deren Perspektive vor allem von der schwierigen Beziehung zu ihrer Tochter erzählt, kommt häufig auch Lydia, die Mutter des verstobenen Luke (Junes neuer Partner), zu Wort. Ihre Geschichte handelt von Abhängigkeit, von Schwäche und Stärke zugleich und von Einsamkeit. Wir erfahren, wie sie ihren gewalttätigen Exmann mit einem beinahe Fremden betrog und in ihrer Stadt seither ohne jeglichen Respekt behandelt wird. Das Thema Tratsch in einer kleinen Stadt ist in diesem Buch allgegenwärtig. Jeder meint mehr über Dinge zu wissen die ihn eigentlich nichts angehen. So wird Luke aufgrund seiner Hautfarbe automatisch zum Buhmann der Stadt. Auch June wird aufgrund ihrer Beziehung zu einem viel jüngeren Mann verurteilt.


    Zu Beginn des Buches war ich verwirrt. Die kurzen Kapitel aus der Sicht unterschiedlicher Charaktere wollten nicht genau zusammen passen. Ich hatte Probleme damit die Charaktere in eine Beziehung zu setzen. Ich konnte nicht einschätzen wer einen geliebten Menschen durch den Brand verloren hatte. Doch diese Verwirrung legte sich schnell und die vielen Kapitel waren wie kleine Puzzleteile, welche die Geschichte zusammensetzten. Schnell packte mich die Geschichte und ich konnte es kaum erwarten mehr von den unterschiedlichen Charakteren zu erfahren. Die Charaktere und deren Schicksale, die niemals zu dramatisch beschrieben wurden, interessierten und faszinierten mich. Bill Clegg hat in diesem Werk viele authentische und detailliert beschriebene Charaktere von ihrer unvollkommenen und verletzlichen Seite gezeigt.


    Als besonders eindringlich empfand ich eine Szene, in der eine einsame Frau mehrfach von einem Telefonbetrüger kontaktiert wird. Obwohl sie weiß, dass der Anrufer ihr keinen Lottogewinn überweisen, sondern sie um 700€ betrügen wird, überweist sie ihm das Geld und geht immer wieder ans Telefon. Sie ist einsam und telefoniert lieber mit einem Betrüger, als dass sie wieder wochenlang mit niemandem spricht.


    "Sie beugt sich vor und lässt den Hörer auf den Schoß sinken. Die Stimme in ihrer Hand ist alles, was sie hat. Also: nichts. Sanft schaukelt sie vor und zurück und wünscht sich, sie könnte verschwinden. Sie fühlt sich maßlos einsam, einsamer als in den Wochen nach Lukes Tod." (S. 208)


    Neben den unterschiedlichen Charakteren wird auch der Brand genauer thematisiert. Immer wieder tauchen kleine Details auf, die auf die Ursache des Brandes hinweisen. Wie dieser tatsächlich entstand wird zum Ende hin aufgelöst. Als Leser hat man das Gefühl, dass all die kurzen Kapitel wirklich ein großes Ganzes bilden, auch wenn einige Fragen (wie die Charaktere ihr Leben im Anschluss gestalten) offen bleiben.


    Fazit: Eine ergreifende Geschichte über unterschiedliche Menschen und deren Leben. Eine Geschichte, die insbesondere durch die herausragende Charakterzeichnung und die ungewöhnliche, gekonnte Erzählform berührt.

    Klappentext: "Ein Wesen, das die Menschen verzaubert: ein kleiner rosaroter Elefant, der in der Dunkelheit leuchtet. Plötzlich ist er da, in der Höhle des Obdachlosen Schoch, der dort seinen Schlafplatz hat. Wie das seltsame Geschöpf entstanden ist und woher es kommt, weiß nur einer: der Genforscher Roux. Er möchte daraus eine weltweite Sensation machen. Allerdings wurde es ihm entwendet. Denn der burmesische Elefantenflüsterer Kaung, der die Geburt des Tiers begleitet hat, ist der Meinung, etwas so Besonderes müsse versteckt und beschützt werden."


    Die Handlung von "Elefant" ist schnell erzählt. Die Geschichte um den kleinen, rosaroten Elefanten der im Dunklen leuchtet wird auf zwei Ebenen geschildert. Zum einen erfährt der Leser, wie dieses niedliche Geschöpf überhaupt zustande kam, zum anderen, wie der Obdachlose Schoch sich dessen annimmt und vor dem Genforscher beschützt.


    Ja, der kleine rosa Elefant ist unglaublich niedlich. Gegen diese Niedlichkeit war auch ich nicht immun und so genoss ich besonders die Stellen, in welchen der Elefant Mittelpunkt des Geschehens war. Die Geschichte selbst empfand ich weder als besonders spannend, noch als besonders originell. Dennoch habe ich das Buch sehr gerne gelesen und konnte es auch nur schwer aus den Händen lesen. Ich interessierte mich für die Zukunft der Charaktere, insbesondere der, des kleinen Elefanten. Martin Suter erzählt die Geschichte in einfachen, kurzen Sätzen, welche ein schnelles vorankommen ermöglichen. Der Text ist sehr leicht zu lesen und eignet sich somit gut für Zwischendurch oder dafür, nach langen Arbeitstagen noch ein paar Seiten im Bett zu lesen, ohne sich groß anstrengen zu müssen.


    Sehr gut gefallen hat mir der Einblick in das Leben eines obdachlosen Alkoholikers. Hier hätte Martin Suter gerne noch mehr ins Detail gehen können. Den Protagonisten Schoch empfand ich als wenig vielschichtig. Natürlich ist er nicht einfach nur ein Obdachloser, sondern ein ehemaliger Investmentbanker, der sich irgendwann für das Leben auf der Straße entschieden hat. Auch die anderen Charaktere waren recht einfach in ihrer Konstruktion und stereotyp.


    Zum Ende hin, nahm das Buch an Fahrt auf. Auch wenn dieses ebenfalls nach dem Motto "rosarot" abgehandelt wurde, schloss es das Buch auf eine angenehme Art ab.


    Fazit: Ein unterhaltsames, nettes Büchlein für Zwischendurch, bei welchem der Autor bezüglich der Charaktere und zu den Themen Obdachlosigkeit, Alkoholismus und Genforschung gerne etwas mehr ins Detail hätte gehen können.

    Klappentext Zwei Brüder aus Riga machen Karriere: erst in Nazideutschland, dann als Spione der jungen Bundesrepublik. Die Jüdin Ev ist mal des einen, mal des anderen Geliebte. In der leidenschaftlichen Ménage à trois tun sich moralische Abgründe auf, die zu abenteuerlichen politischen Ver­wicklungen führen. Die Geschichte der Solms ist auch die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert: des Untergangs einer alten Welt und die Erstehung eines unheimlichen Phönix aus der Asche.


    "Das kalte Blut" ist ein Koloss, ein echter Wälzer mit seinen 1.200 Seiten. Doch selten habe ich ein Buch solch enormen Umfangs verschlungen, wie "Das kalte Blut". Oft gehen entweder dem Erzähler oder dem Leser (häufig auch beiden) während des Buches die Luft aus. So gut ein Buch dieses Umfangs auch ist, verspüre ich während des Lesens häufig das Bedürfnis nach etwas Anderem, nach Abwechslung, nach einer kleinen Pause. Bei diesem Buch war dies nicht der Fall. Ich hasste die erzwungenen Pausen die ich einlegen musste, denn Abwechslung bringt dieses Buch zu Genüge. Auf keiner Seite habe ich mich gelangweilt.


    "Und mir wurde klar, warum der Mensch den Menschen liebt, da er ihn nämlich lieben muss, weil das für jeden Einzelnen die einzige Hoffnung ist, trotz allem ein Mensch zu bleiben." (S. 476)


    In großartigem Stil erzählt Chris Kraus die Geschichte der beiden Deutschbalten Koja und Hub. Geschrieben ist dieses Werk aus Kojas Sicht, einem Mann Mitte 60 der aufgrund einer schweren Hirnverletzung, hervorgerufen durch einen Schuss, im Krankenhaus liegt und seine Geschichte seinem Zimmernachbarn, einem friedliebenden Hippie, erzählt. Dabei, so scheint es, geht es ihm vor allem um Eines: Um Vergebung. Darum, dass der Hippie ihm zusichert, dass er keine andere Wahl hatte, dass er kein schlechter Mensch ist, trotz allem, was er in seinem Leben getan hat. Obwohl der Hippie irgendwann nichts mehr von Kojas Vergangenheit hören möchte, erzählt dieser rücksichtslos weiter. Dabei geht Koja zunächst zurück in seine frühe Kindheit, welche er im Riga der 1910er Jahre erlebte. Er führt den Leser in das Leben seiner Familie, insbesondere das seines älteren Bruders Hub und seiner Adoptivschwester Ev. Die besondere Beziehung zu seiner Schwester, die zunächst Hubs Frau und später die seine wird, nimmt schon zu Beginn des Buches einen großen Platz ein. Während seine Schwester offensichtlich in Hub verliebt ist, leidet der noch sehr junge Koja still darunter. Die Brüder treten der SS bei. Hub aus Überzeugung, Koja, weil Hub es tut. Während Hub aus Überzeugung und Hass handelt, folgt Koja allem, was von ihm verlangt wird. Auch wenn er darunter leidet, bringt er nie den Mut, die Kraft auf, sich zu weigern. Immer wieder stellte ich mir die Frage, zu welcher Art von Mensch Koja das macht. Konnte der Holocaust vor allem wegen Menschen wie ihm geschehen? Besonders interessant empfand ich, wie die Brüder in der Mitte des Buches die Rollen tauschen. Nach der SS-Zeit ist Koja Geheimagent für den BND, aber auch für den KGB, sogar den Mossad. Er betrügt und verrät alles und jeden. Das spannende ist, dass all diese Verwicklungen, alle Gräueltaten die Koja während seines Lebens begeht aus Kojas heutiger Sicht geschildert werden.


    "Die Wahrheit blieb mein oberstes Gebot, kollidierte aber mit meinem anderen obersten Gebot, dem Selbsterhaltungstrieb." (S. 550)



    Das Besondere an dieser Geschichte ist die unglaubliche Charakterentwicklung der Protagonisten und Nebencharaktere. Die Charaktere können nicht in Schubladen gesteckt werden und das, obwohl die Handlung von den Grausamkeiten des zweiten Weltkrieges erzählt. Es gibt viel Gutes und noch mehr Böses, jedoch findet man in den Charakteren immer von beidem etwas. Dies löste in mir aus, dass ich mit einem Verräter und Mörder Sympathie hegte, dessen Verhalten mich aber zugleich abstieß und anwiderte. Auch die Liebe nimmt einen großen Platz in "Das kalte Blut" ein. Authentisch beschrieben werden hier die Beziehungen innerhalb einer Familie, aber auch die Liebe zwischen Mann und Frau. Dabei entsteht die Frage, ob die Liebe wirklich alles entschuldigt. Entschuldigt die Liebe Mord, Verrat und Lügen?


    "Für Ev war es die letzte gewaltige Lüge, nicht für mich. Und deshalb, glaube ich, konnte ich sie nicht verstehen. Denn die letzte gewaltige Lüge ist etwas, was jeden in den Wahnsinn treibt. Was man loswerden muss. Was einen verfolgt." (S.749)


    Der Schreibstil des Autors ist große Kunst. Seine Charaktere haben Gesichter, die Atmosphäre geht unmittelbar auf den Leser über und die Sprache ist so bildgewaltig, dass ich oft mit den Tränen zu kämpfen hatte. Die Gefühle der einzelnen Charaktere überwältigten mich.


    Der Autor schrieb einige Dialoge in jiddisch-daitschem, hessischen oder bayrischen Dialekt, was diese viel lebhafter und authentischer machte. Ich las das Buch, als wäre ich davon besessen, in dem Wissen, dass mir die nächste Seite, der nächste Satz erneut den Boden unter den Füßen wegziehen konnte. Es gibt eine Szene, in welchem ein Erschießungskommando beschrieben wurde. Einer der jüdischen Männer erkennt Koja, bettelt und fleht um Gnade und wird dennoch von dessen Bruder Hub erschossen. Koja steht daneben und tut nichts. Eine Frau und ihr Baby überleben. Koja erhält den Befehl beide zu erschießen und feuert ein ganzes Magazin auf ihre Mutter und ihr Neugeborenes ab. Eine weitere Szene beschreibt, wie Koja einen Freund findet, der sich das Leben genommen hat. Diese Szenen und viele weitere, erdrückten mich in ihrer Eindringlichkeit.


    "Der nächtliche Regen hatte seinen abstehenden Haarkranz flach auf die Kopfhaut geklatscht, als wäre er nie eine Pusteblume gewesen." (S.821


    Fazit: Ein atmosphärisch dichter, mitreißender Roman, der den Leser durch unterschiedlichste Gefühle jagt und in seiner Sprache, der Charakterentwicklung, der Handlung und den Fragen, die aufgeworfen werden, auf ganzer Linie überzeugt.


    "Angst ist selten logisch, sonst wäre es keine. Warum sollte man Angst vor Spinnen haben oder vor seinem Chef? Nichts ist jemals logisch, was einem den Schlaf raubt." (S. 1077)