Juli Zeh - Leere Herzen

  • Kurzmeinung

    SirPleasant
    Politthrill vom Allerfeinsten. Großartige Literatur. Ein Muss!
  • Kurzmeinung

    K-F
    Utopie gefällt, Story mir persönlich etwas zu kurz gefasst
  • 2025, Deutschland lebt in Sicherheit und Wohlstand, es gibt das bedingungslose Grundeinkommen. Dass die regierende BBB (BesorgteBürgerBewegung)-Partei währenddessen den demokratischen Staat sukzessive zurückfährt, immer mehr Freiheitsrechte beschneidet und die Überwachung auch im Privaten praktisch lückenlos ist, scheint nur wenige zu stören. "Die Leute wurden gefragt, was sie tun würden, wenn sie sich zwischen dem Wahlrecht und ihrer Waschmaschine entscheiden müssten. ... 67% wählten die Waschmaschine. 15% waren unentschieden."
    Britta Söldner (!) hat sich in dieser Welt eingerichtet und mit einem Freund und Partner ein perfides Geschäft aufgebaut, mit dem sich gutes Geld verdienen lässt. Doch sie bekommen Konkurrenz und bald schon scheinen sie verfolgt zu werden.
    Es ist ein düsteres Bild, was Juli Zeh in diesem Buch entwirft. Und erschreckenderweise nicht sooo weit entfernt von unserer Welt. 'Wehret den Anfängen' soll uns wohl deutlich gemacht werden - doch das leider in einer Intensität, dass es anfing mir auf die Nerven zu gehen. Ja, mir ist bewusst, dass das Wahlrecht ein wichtiges ist; dass Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte auf allen Ebenen relevant sind für unser Zusammenleben, auch wenn sie umständlich und zeitraubend wirken und manchmal vielleicht sogar sind; dass es etwas geben muss FÜR das man lebt - und dass das nächste Shoppingerlebnis bestimmt nicht dafür ausreicht; dass Überzeugungen, Prinzipien, Standpunkte überholt klingen mögen (kann man sich doch nix für kaufen) - aber ob 1.587 Likes ausreichen, um dem Leben einen Sinn zu geben? Auch wenn Frau Zehs Anliegen mehr als gerechtfertigt ist, hat mich 'Leere Herzen' nicht überzeugt. Den erinnernden Zeigefinger sah ich ständig im Hintergrund und die Figuren waren (was sie wohl auch sein sollten) weitestgehend gleichgültig - was sich dann aber bedauerlicherweise auch auf die Geschichte auswirkte (hach, wenn ich da an 'Unterleuten' zurückdenke; was für ein Buch!). Zudem blieben diverse Fragen offen: Was machte beispielsweise Hatz anschließend? Und die Beteiligung? Wo kam die eigentlich her?
    So bleibt es trotz der eigentlich guten Idee bei einem durchschnittlichen Krimi in einer nahen Zukunft, wie sie uns hoffentlich erspart bleiben wird. Ob dieses Buch dann mit dazubeigetragen haben wird, wage ich allerdings zu bezweifeln :wink:

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • Leere Herzen - Juli Zeh


    Britta Söldner lebt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Braunschweig. Sie betreibt mit ihrem Geschäftspartner und Freund Babak "Die Brücke", bei der es sich offiziell um eine psychologische Beratungspraxis handelt. Doch in Wirklichkeit versteckt sich eine ganz andere Geschäftsidee in den unscheinbaren Praxisräumen. Britta und Babak verdienen mit ihrem Unternehmen viel Geld. Das scheint plötzlich Neider auf den Plan zu rufen. Es gibt Trittbrettfahrer, die anscheinend die gleiche lukrative Idee nutzen wollen. Britta und Babak geraten in Zugzwang und plötzlich müssen sie nicht nur um ihre berufliche Existenz kämpfen, sondern um ihr Leben......


    Die Handlung von "Leere Herzen" trägt sich in Deutschland, im Jahre 2025, zu. Juli Zeh beschreibt eine Welt, in der die "Besorgte-Bürger-Partei" an der Macht ist und die Politikverdrossenheit und Gleichgültigkeit der Bürger für ihre Zwecke nutzt. Der Einstieg in die in naher Zukunft angesiedelte Dystopie gelingt relativ mühelos. Man beobachtet zunächst Britta Söldner und erfährt nach und nach, wie sie ihr Leben in der politikverdrossenen Gesellschaft eingerichtet hat. Dabei tappt man über weite Teile der Handlung im Dunkeln, was für eine Geschäftsidee wirklich hinter ihrer psychologischen Beratungspraxis steckt. Da man das aber unbedingt erfahren möchte, ist das Interesse sofort geweckt.


    Juli Zeh versteht es hervorragend, die ferne Zukunft so zu beschreiben, dass man sich das Leben dort mühelos vorstellen kann. Man lernt diese Welt Schritt für Schritt durch Britta Söldner kennen und fügt dabei langsam ein Puzzleteil zum nächsten. Der Schreibstil ist gewohnt flüssig, sodass man förmlich über die Seiten fliegt, um alle Hintergründe zu erfahren. Dabei schwebt eine angespannte und zuweilen auch recht bedrohliche Atmosphäre zwischen den Zeilen. Die Handlung ist nicht nur tiefgründig, sondern regt außerdem zum Nachdenken an. Die Protagonisten wirken lebendig und vielschichtig. Ihre Emotionen werden glaubhaft vermittelt, sodass man sich ganz auf die Handlung einlassen kann und dabei fasziniert beobachtet, welche Wendung die Erzählung nimmt und welche Ausmaße die Politikverdrossenheit und Gleichgültigkeit der Bürger annimmt.


    Ich habe mich beim Lesen dieser faszinierend erzählten Gesellschaftskritik sehr gut unterhalten und konnte das Buch deshalb nur schwer aus der Hand legen. Einmal angefangen, hing ich auch schon am Haken, sodass ich unbedingt erfahren wollte, was hinter allem steckt. Die Beschreibungen der dystopischen Welt wirkten auf mich durchaus vorstellbar und haben mich zum Nachdenken angeregt. Auf meiner persönlichen Bewertungsskala erhält "Leere Herzen" deshalb auch alle fünf Bewertungssternchen und eine klare Leseempfehlung!


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Juli Zehs neuer Roman "Leere Herzen" spielt in nicht allzu ferner Zukunft in Deutschland. In weniger als 10 Jahren ist die BBB-Partei (Besorgte-Bürger-Bewegung) an der Macht, die alle demokratischen Werte systematisch zurückfährt. Britta Söldner und ihr Geschäftspartner Babak haben in dieser Welt ihre Nische gefunden: gemeinsam betreiben sie die Heilpraxis "Die Brücke". Doch hinter dieser freundlich wirkenden, aber nichts sagenden Fassade betreiben sie ein Geschäft mit dem Tod. Nach einem plötzlichen Anschlag ist klar - es will einer teilhaben an dem Geschäft - und er schreckt vor nichts zurück.
    Dieses Buch ist erschreckend realistisch, duster und leider nicht sehr weit entfernt von unserem Heute. Trotzdem bleiben die Charaktere leider gleichgültig bis zur Arroganz und ziemlich blass.
    Die Stärke des Buchs liegt hingegen im Aufbau und der langsamen Steigerung: zu Beginn haben wir nur ein bisschen Gesellschaftskritik, später auch an unserem politischen System, an Ausländerfeindlichkeit, politischem Desinteresse usw.
    Mit jedem Gedanken kommt ein neuer Puzzlestein dazu, bis es fast zu viel ist. Das Buch ist ziemlich überfrachtet, einfach nicht ganz geglückt. Der Schluss ist dermassen übertrieben, dass ich ihn nicht ernst nehmen kann.
    Wer ein wirklich gutes Buch von Juli Zeh lesen will, dem empfehle ich lieber "Unterleuten" :thumleft:
    für Leere Herzen vergebe ich :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    Nicht jeder, der das Wort ergreift, findet ergreifende Worte :-,


    (frei nach Topsy Küppers)


  • So, nun habe ich diesen Roman auch gelesen und ich muss sagen, es ist schon interessant, dass die INhaberin der "Brücke" tatsächlich mit Nachnamen Söldner heißt. Denn eigentich vermittelt sie ja genau das. Und sie sieht es ähnlich kritisch, wie die meisten Waffen- und Militärmaterialhändler wohl ihre eigene Arbeit sehen. "Wenn ich es nicht täte, täte es ein anderer - so kann ich wenigestens die Kollateralschäden kontrollieren."


    Aber eigentlich scheint dies Britta, die im Prinzip jedes Prinzip leugnet, auch nur vordergründig zu interessieren. Sie glaubt einfach an nichts mehr. Noch nicht enmal genug um auch nur zynisch zu wirken.


    Die hier gezeichnete nahe Zukunft ist unerwartet – aber auch nicht weniger plausibel als andere Szenarien, die sich finden lassen. Insbesondere ist bedenkenswert, wie hier Grundrechte und – strukturen eines demokratischen Systems nach und nach ausgehöhlt und fallengelassen werden, ohne dass sich dagegen eine wirkliche Opposition auftut. Eine Tendenz, die man in Teilen der Bevölkerung eigentlich immer beobachten kann (zum Glück aber in anderen Teilen auch das Gegenteil). Eine lohnende Lektüre.

  • Klappentext:

    Sie sind desillusioniert und pragmatisch, und wohl gerade deshalb haben sie sich ‎erfolgreich in der Gesellschaft eingerichtet: Britta Söldner und ihr Geschäftspartner Babak Hamwi. Sie haben sich damit abgefunden, wie die Welt beschaffen ist, und wollen nicht länger verantwortlich sein für das, was schief läuft. Stattdessen haben sie gemeinsam eine kleine Firma aufgezogen, "Die Brücke", die sie beide reich gemacht hat. Was genau hinter der "Brücke" steckt, weiß glücklicherweise niemand so genau. Denn hinter der Fassade ihrer unscheinbaren Büroräume betreiben Britta und Babak ein lukratives Geschäft mit dem Tod.

    Als die "Brücke " unliebsame Konkurrenz zu bekommen droht, setzt Britta alles daran, die unbekannten Trittbrettfahrer auszuschalten. Doch sie hat ihre Gegner unterschätzt. Bald sind nicht nur Brittas und Babaks Firma, sondern auch beider Leben in Gefahr...

    "Leere Herzen" ist ein provokanter, packender und brandaktueller Politthriller aus einem Deutschland der nahen Zukunft. Es ist ein Lehrstück über die Grundlagen und die Gefährdungen der Demokratie. Und es ist zugleich ein verstörender‎ Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist


    Mein Leseeindruck:


    Juli Zeh ist eine politische Autorin. Ihr Buch ist eine Art Dystopie: sie beobachtet die Zeitgeschichte und verlängert die beobachteten Phänomene um einige Jahre hinaus in eine nahe Zukunft. Der Roman spielt im Jahr 2025, also in 7 Jahren: die nationalistische „Besorgte Bürger Bewegung“ hat bei der Wahl zum Deutschen Bundestag die Mehrheit der Stimmen erhalten und macht sich nun daran, Stück für Stück die Demokratie zu unterhöhlen zugunsten eines faschistoiden Staates. Die EU löst sich auf, autoritäre Regierungssysteme setzen sich weltweit durch, Zeitungen + Journalismus werden abgeschafft, politische Diskussionen gehören der Vergangenheit an: „Ruhe sanft, öffentlicher Diskurs.“ (S. 277).


    Die Protagonistin – mit dem sprechenden Nachnamen „Söldner“ – arrangiert sich mit dem System. Sie praktiziert allerdings keinen Eskapismus wie ihre Freundin, sondern sie verzichtet auf Überzeugungen, auf Ideale, auf die Trennung von Richtig und Falsch. Die Kinder werden früh konditioniert und spielen in ihren Killerspielen die Erwachsenenwelt im Kleinen nach; und wenn ein Mensch umkommt, schreien sie fröhlich „Kollateralschaden!“


    Juli Zeh hat sich eine verblüffende Geschäftsidee für die Hauptfigur einfallen lassen:

    „Wer heute einen Attentäter braucht, muss nicht mehr auf verblendete Djihadisten mit narzisstischer Störung zurückgreifen, nicht auf halbe Kinder mit Waffen-Fetisch oder auf Psychopathen, die Ausländer und Frauen hassen. Sondern bekommt einen professionell ausgebildeten, auf Herz und Nieren geprüften Märtyrer, der für eine höhere Sache sterben will“ (S. 184).

    Diesen Zynismus muss man sich erst mal ausdenken…


    Mit demselben Zynismus und derselben Prinzipienlosigkeit geht die Protagonistin gegen ein drohendes Konkurrenzunternehmen vor und schafft es, nicht nur den Konkurrenten ans Messer zu liefern, sondern zugleich auch einen Putsch zu verhindern und die gewählte Regierung im Amt zu halten.


    Wer trägt Schuld an diesen Zuständen?

    Schuld tragen nicht die Wähler der populistischen BBB, sondern die apolitischen, gleichgültig gewordenen Wähler, die nicht wählen.

    „Leute wie ich tragen Schuld an den Zuständen, nicht die Spinner von der BBB.“ (S. 324).


    Die Handlung ist durchaus spannend, auch wenn die Hauptfigur in ihrer Menschenverachtung und ihrem Zynismus schwer zu ertragen ist. Sie macht auch keinen Prozess durch und bleibt daher dem Leser fern. Gegen Schluss stellt sie zwar fest, dass ihre ständige Übelkeit – und wohl auch ihr Putzfimmel – Ausdruck ihres schlechten Gewissens sind, d. h. sie verfügt nach wie vor über einige, wenn auch rudimentäre ethische Überzeugungen. Dieser Ansatz wird jedoch im Buch nicht entwickelt, und die Protagonistin verbleibt in ihrem monströsen Egoismus und Nihilismus.

    Damit bleibt das Buch nur eine Anklage, es gibt kein Ziel, zu viele zeitkritische Themen werden hier zusammengeworfen.


    Also ein zeitkritisches Buch – na gut. Aber muss Juli Zeh den moralischen Zeigefinger so hoch erheben?

    Die Widmung „Da. So seid ihr.“ auf der ersten Seite hat mich verärgert.

    Das grobe „Da“, mit dem sie den Leser wie einen jungen Hund auf das Buch stößt, und erst recht die allgemeine Anklage “So seid ihr.“


    Was nach dem Lesen bleibt, ist eigentlich nur der Aufruf zur Wahrnehmung des Wahlrechts - und das ist für einen Roman recht wenig.

    Wenn nur die lyrischen Naturbeschreibungen nicht wären....

    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:




    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Interessant, eure Meinungen zu diesem Buch zu lesen :).

    Ich finde in nahezu jeder Rezension etwas von meinen Eindrücken wieder.

    Es hat mich verblüfft und genervt, fasziniert und deprimiert, vor allem, weil so viele Tendenzen heute schon abzusehen sind, die Juli Zeh weitergedacht und -gesponnen hat. Sicher ist manches überspitzt, doch es fühlt sich realistisch genug an um Beklemmung bezüglich dieser Zukunftsperspektive zu hinterlassen.

    Britta ist eine schräge, wenig sympathische Hauptfigur, aber man möchte sich mit ihr auch nicht identifizieren :wink:.


    Babak sagt am Ende "Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, warum du das getan hast". Ich ehrlich gesagt, auch nicht so recht. Das letzte Kapitel hab ich gestern spät noch gelesen, weil ich nicht schlafen konnte. Ob ich es noch einmal lesen sollte, ist dann die Chance größer, dass ich es verstehe? Oder ist es von der Autorin so gewollt, dass Brittas Absichten nebulös bleiben :-k?

    Kann mir da jemand unter die Arme greifen?

    Falls ich meine Frage lieber in spoiler setzen sollte, sagt mir bitte Bescheid. Ich glaube nicht, dass damit etwas Entscheidendes verraten wird, aber vielleicht sieht es jemand anders.

  • Mit demselben Zynismus und derselben Prinzipienlosigkeit geht die Protagonistin gegen ein drohendes Konkurrenzunternehmen vor und schafft es, nicht nur den Konkurrenten ans Messer zu liefern, sondern zugleich auch einen Putsch zu verhindern und die gewählte Regierung im Amt zu halten.


    dass Brittas Absichten nebulös bleiben

    Hilft Dir das Zitat oben weiter?

    Das Paradoxe ist, dass mit diesem Schluss quasi die Demokratie gesichert wird; schließlich ist die Regierung gewählt worden. Allerdings demontiert

    sie gerade die Demokratie...

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Hilft Dir das Zitat oben weiter?

    Das Paradoxe ist, dass mit diesem Schluss quasi die Demokratie gesichert wird; schließlich ist die Regierung gewählt worden. Allerdings demontiert

    sie gerade die Demokratie...

    Ja, das tut es, liebe drawe . Danke für deine Antwort.

    Genau so habe ich es auch verstanden. Nur hat es für mich so wenig Sinn gemacht in Bezug auf Brittas Einstellung und Gedankengänge, dass ich an meiner Wahrnehmung gezweifelt habe. Eben wegen des von dir genannten Paradoxen.

    Ich interpretiere es jetzt mal so, dass sie trotz des ganzen Schlamassels und ihrer Unzufriedenheit mit dieser BBB-Regierung, den demokratischen Grundgedanken über alles stellt. Im Prinzip nichts Schlechtes und mit dem Kerngedanken, der Zweck heiligt eben nicht alle Mittel, aber für mich war das überhaupt nicht herausgearbeitet und hat für mein Empfinden nicht so recht zu Britta gepasst.

  • Juli Zehs Sprache gefällt mir ausgezeichnet; den Aufbau ihrer Romane finde ich gelungen, ebenso die Zeichnung ihrer Figuren; die Ideen, aus denen sie die Handlungen strickt, sind originell und aktuell. Und trotzdem habe ich Probleme mit der Autorin, denn keines ihrer Bücher konnte mich bisher wirklich erreichen und begeistern (wobei ich „Unterleuten“ noch nicht gelesen habe).


    Sie entwickelt diesen Roman aus einer perfiden Idee auf dem Hintergrund einer politischen Entwicklung, deren Anfänge sowohl in der Fiktion als auch in der tatsächlichen gegenwärtigen Wirklichkeit sichtbar sind: die politische (Wahl-)Verdrossenheit, der Rückzug ins Private und die Abschottung gegenüber gesellschaftlicher und politischer Verantwortung. Man überlässt denen das Feld, die sich mit ihren Parolen an die Spitze drängen, und sucht für sich selbst Schlupflöcher und kanalisiert die Ängste. Empathie und Solidarität sind Fremdwörter, man begegnet den Mitmenschen mit Zynismus und emotionaler Distanz.


    Zehs Wortspielereien mit den Namen amüsieren: Abgesehen von Britta Söldner erscheint eine Figur namens G. Flossen und ein Guido Hatz, und Lassie heißt das PC-Programm, das Personen aufspürt.


    Was allerdings der dem Roman vorgestellte Satz soll: „Da. So seid ihr“? Eine Widmung ist das sicher nicht. Und auch keine Aufforderung zur Auseinandersetzung, sondern eine Behauptung, die der Autorin nicht zusteht.

    Oder wollte sie der Publikumsbeschimpfung aus den 1960-1970ern einen Retro-Look verpassen? :-,


    When the future has passed, the past will return, singt Julietta, eine der Schlüsselfiguren. DAS wäre ein passendes Motto. :(



    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Die Autorin

    Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman "Adler und Engel" (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman "Unterleuten" (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.


    Inhalt

    Offiziell betreibt Britta Söldner in Braunschweig eine kleine Praxis für Psychotherapie, Coaching und Ego-Polishing. Ungewöhnlich an ihrer Tätigkeit sind zunächst ein IT-Fachmann und ein eigener Serverraum. Wir befinden uns circa zwischen 2020 und 2030. In dieser verflixt nahen Zukunft weiß „niemand mehr, wofür oder wogegen er zu sein hat“. Angela Merkel ist im wohlverdienten Ruhestand; Frankreich scheint die EU verlassen zu haben. Das bedingungslose Grundeinkommen ist längst durchgesetzt, konnte aber offenbar die gesellschaftliche Spaltung nicht ungeschehen machen. Nicht alle Bürger können sich mit der Herrschaft einer Besorgte-Bürger-Partei abfinden. Burnout-Lebensläufe und Selbstmorde haben rapide zugenommen, obwohl das BBB-Regime seinen Untertanen Entscheidungen weitgehend abnimmt. Britta und Babak sind indessen konkurrenzlos erfolgreich in ihrer Branche. Sie bieten ein exaktes Scoring an, prüfen die Ernsthaftigkeit ihrer Kandidaten ähnlich gnadenlos wie die GSG9 ihre Bewerber und streichen am Ende einen fürstlichen Gewinn ein. Doch als in Leipzig ein Attentat aus dem Ruder läuft, spürt Britta, dass ihr auf ihrem ureigenen Spezialgebiet Konkurrenz droht. Wer hätte gedacht, dass es eine Frau sein wird, die sich der Macht der Algorithmen widersetzt.


    Juli Zeh gibt mit ihrem spekulativen Politthriller Einblick in den Alltag zweier Paare, die jeweils ein grundschulpflichtiges Kind erziehen. Ähnlich wie in „Unterleuten“ seziert die Autorin gnadenlos die kleinbürgerliche Idylle bildungsbeflissener Eltern mit all ihren Lebenslügen. Soziales Geschwafel vom „5. Effizienzpaket“ verschlägt einem die Sprache mit seiner Nähe zu Politikern, deren wohltönende Projekte allein dem kleinen Mann in die Tasche greifen, oder zu einem Staat, der vom Zwangsumtausch seiner Besucher existierte. Spannend fand ich von der ersten Szene an das Rätseln, ob ich mich wirklich in der Zukunft befinde und wohin die ganze Chose führen soll. Zu nah an der Realität sind die Entwicklungen, um sich beim Lesen damit aus der Affäre zu ziehen, dass es sich hier um eine Utopie handelt. Brittas und Babaks zynisches Geschäftsmodell katapultiert den Leser gnadenlos mitten in die Gegenwart. Gerade weil ich nach „Unterleuten“ Schlimmeres, Zynischeres von Juli Zeh erwartet hatte, verblüfft mich ihre analytische Eleganz.


    Fazit

    Wie jemand sein Geld verdienen kann – und vor allem, wer die Zeche zahlt – das ist unbedingt lesenswert.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Weber - Bannmeilen (Paris)

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow