Daniel Kehlmann - Tyll

  • Echt jetzt? Meinst Du den Till Eulenspiegel, wie man ihn kennt, oder die Figur des Buches? :-k Ich besaß ein Kinderbuch mit Geschichten von Eulenspiegel und fand sie sehr vergnüglich

    Da hast du sicher eine Kindergerechte Version gelesen, :wink: denn wenn man die Geschichte "Wie Eulenspiegel in Einbeck ein Brauergeselle wurde und einen Hund, der Hopf hiess, anstelle von Hopfen sott", kann ich mir nicht vorstellen dass dies vergnüglich gewesen wäre.
    Allerdings gibt es schon Geschichten welche dem Till nachgesagt werden wie "er ein Hofjunge wurde und ihn sein Junker lehrte, wo er das Kraut »Henep« fände, solle er hineinscheissen; da schiss er in den Senf (»Senep«) und meinte, »Henep« und »Senep« sei ein Ding", muss man im ersten Moment schmunzeln, jedoch ...

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Meinst Du den Till Eulenspiegel, wie man ihn kennt, oder die Figur des Buches?

    Ich meine die Originalgeschichten, wie sie eigentlich geschrieben wurden. Wie wir als Kinder Till kennengelernt haben, sind wohl eher kindgerechte Spaßgeschichten.

    viele Grüße vom Squirrel



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  • Danke, @serjena und @Squirrel, es vergeht tatsächlich kein Tag, an dem man nichts lernt! :thumleft: Ich kannte wirklich nur den Spaßmacher Till und seine lustigen Einfälle.


    Der Till in meiner Vorstellung sieht so aus wie ihn Walter Trier auf dem Cover gezeichnet hat, und bisher war ich der Meinung der Amazonbeschreibung über Kästners Buch: Sehr viele Jahre ist es schon her, seit dieser Till Eulenspiegel in Norddeutschland sein Unwesen trieb und damit zur Sagengestalt wurde: Als größter Schelm des Mittelalters oder gar aller Zeiten. ... Man kann also nicht nur lesen, sondern auch sehen, wie Eulenspiegel sich als Kind gleich dreimal taufen lassen muß, wie er zum Seiltänzer wird, einem Esel das Lesen beibringt, von Ort zu Ort zieht, sich immer wieder als Handwerksgeselle ausgibt, obwohl er vom Schneidern, Backen oder Zimmerhandwerk keine Ahnung hat, und bald berühmt und berüchtigt wird wegen all dem Unfug, den er immer wieder anstellt, um die Menschen -- aber vor allem sich selber -- zum Lachen zu bringen.

    Das hört sich doch eigentlich ganz harmlos an, oder? :-k

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


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  • Das hört sich doch eigentlich ganz harmlos an,

    Jein - denn immer gab es auch welche, die nicht lachen konnten, die bloßgestellt wurden,
    wie es eben Aufgabe eines Narren war.


    Zur Schreibweise "TYLL" noch eine kleine Anmerkung: der Buchstabe Y kam meines (bescheidenen, oft wirren) Wissens
    erst im Rahmen der Griechenland-Begeisterung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in unsere Schriftsprache. Damals wurde aus BAIERN
    ja auch BAYERN, weil ein Wittelsbacher König von Griechenland wurde.
    Noch ein Grund mehr, weshalb Kehlmanns Antwort auf @Marie s Frage interessant ist, meine ich.

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    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • https://de.wikipedia.org/wiki/Y


    Was mag die Wahrheit seyn? Kam Tyll aus Speyer? Oh wey oh wey....


    Aber im Ernst, mir kam es eher so vor, als wolle Kehlmann eben genau das Gegenteil erreichen, eben eine besonders altertümliche Schreibweise, vielleicht sogar, um ihn zeitlich noch ungenauer zu verorten, denn die Figur ist ja im Buch irgendwie auch ein Wesen, das eben nicht zu einer Zeit gehört, sondern ein Phänomen, das sich immer finden lässt.


    (Wobei sich als interessante Frage anbietet: Wer ist der heutige Tyll?)

  • de.wikipedia.org/wiki/Y

    Danke für den link - den hatte ich auch als erstes bemüht.
    Warten wir mal ab, was wir vom Meister selber erfahren!

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  • Wer ist der heutige Tyll?

    Nur einer? :scratch:


    Du bringst mich zu der Überlegung, ob Kehlmann mit seinem Tyll auch auf bestimmte Typen in der Gegenwart zielt? (Oder bin ich schon wieder Opfer meiner germanistischen Interpretationserziehung geworden, die ich doch überwunden glaubte?)


    Natürlich: Gewisse Vorkommnisse und deren Beschreibungen sind über-zeitlich. Liest man z.B. Passagen aus Tyll, in denen der Alltag von Soldaten im Krieg beschrieben wird (als Friedrich in das Lager Gustav Adolfs zieht), findet man Parallelen zu Kriegserzählungen aus dem 1. Weltkrieg und den Schützengräben an der deutsch-französischen Grenze. Das ist mir besonders aufgefallen, weil ich vor ein paar Tagen Irène Némirovskys "Feuer im Herbst" gelesen habe.

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  • Ich kannte wirklich nur den Spaßmacher Till und seine lustigen Einfälle.

    Ich kannte ihn aus meinen jungen Jahren auch so. Natürlich sind manche seiner Späße boshaft und für die Betroffenen weniger lustig, aber ich habe nie einen "bösen" Menschen in ihm gesehen.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
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  • Seit "Das foucaultsche Pendel" hat mich kein Buch mehr so zum Nachforschen gebracht wie "Tyll". Jeder Figur laufe ich hinterher, um herauszubekommen: Hat sie gelebt? War sie in etwa so, wie Kehlmann sie darstellt? Stimmen die Lebensläufe und die Details darin?


    Über Athanasius Kircher, der für Tylls Leben eine wichtige Rolle spielt, habe ich einen ausführlichen Artikel hier gefunden. Als Universalgelehrter war er in vielem seiner Zeit voraus (Krankheitserreger), gleichzeitig war er so katholisch verblendet (Schöpfungsgeschichte), dass seine Forschungen nicht mehr mit neueren Erkenntnissen, z.B. von Kopernikus oder Galilei, mithalten konnten, so dass er in Vergessenheit geriet.


    Dass Kircher mit Tesimond in Sachen Hexenprozesse gemeinsame Sache macht, ist ein komisch-ironisches Vexierbild, wie es Kehlmann öfter bringt. Insofern ist meine gestrige Anfrage, warum Till und nicht ein fiktiver Narr, bedeutungslos, denn historische Personen zu mischen, ihnen Begegnungen, die nicht historisch sind, auf den Leib zu schneidern und solche "Mischfiguren" zu Trägern der Handlung zu machen, ist die Methode, die dem ganzen Roman zugrunde liegt.
    Das beweist auch Paul Fleming, der in der Biographie von Adam Olearius erwähnt wird. Wie sich die Sache mit Olearius' Ehefrauen verhält, habe ich nicht herausfinden können. :|


    Eine geniale Komposition von Historie, Wie-es-hätte-gewesen-sein-können und Phantasie.

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  • Ich kannte ihn aus meinen jungen Jahren auch so. Natürlich sind manche seiner Späße boshaft und für die Betroffenen weniger lustig, aber ich habe nie einen "bösen" Menschen in ihm gesehen.

    Das beruhigt mich jetzt aber. Ich dachte schon, dass nur ich das verpasst hätte.

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  • Ein Extra-Dankeschön an @Hirilvorgul, die mich davor bewahrt hat, einen Roman über Till Eulenspiegel zu erwarten; dadurch bin ich viel offener an das Buch herangegangen, und mir fehlte nichts. :friends:

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  • Tyll verschafft der Winterkönigin eine weiße Leinwand.
    Hier hat sich Kehlmann bei Andersen
    bedient, "Des Kaisers neue Kleider". Diese direkte Analogie fand ich etwas platt, das hat mir nicht so
    gut gefallen.
    Aber egal: es geht um Wahrheit, und es geht um Manipulation bzw. Beeinflussbarkeit, um kritiklose
    Übernahme vorgefertigter Denkhülsen. Es geht auch um die Angst, seine eigene Meinung zu vertreten.


    Und deswegen finde ich schon - um den Bogen zu schließen -, dass Tyll etwas mit unserer Gegenwart zu
    tun hat.

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  • Da bin ich mir gar nicht so sicher, denn bei Hermann Bote und Gutenberg kann man nachlesen
    Die 27. Historie sagt, wie Eulenspiegel für den Landgrafen von Hessen malte und ihm weismachte, wer unehelich sei, könne das Bild nicht sehen
    Die Geschichte ist etwas weitschweifig, deswegen hier nur einen kleinen Auszug.
    Es währ­te un­ge­fähr vier Wo­chen, bis der Land­graf zu wis­sen ver­lang­te, was der Meis­ter mit sei­nen Kum­pa­nen mal­te und ob es so gut wer­den wür­de wie die Pro­ben. Und er sprach Eu­len­spie­gel an: »Ach, lie­ber Meis­ter, uns ver­langt gar sehr, Eure Ar­beit zu se­hen. Wir be­geh­ren, mit Euch in den Saal zu ge­hen und Eure Ge­mäl­de zu be­trach­ten.« Eu­len­spie­gel ant­wor­te­te: »Ja, gnä­di­ger Herr, aber eins will ich Euer Gna­den sa­gen: wer mit Euer Gna­den geht und das Ge­mäl­de be­schaut und nicht ehe­lich ge­bo­ren ist, der kann mein Ge­mäl­de nicht se­hen.« Der Land­graf sprach: »Meis­ter, das wäre et­was Gro­ßes.


    Die ganze Geschichte welche sich um Till Eulenspiegel rankt, wie auch die übrigen.
    Wird ebenfalls im Dyl Vlenspiegl erschienen 1515 :?: geschildert.

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    Horst Lichter

  • Wie ich oben schon sagte, es gibt bestimmt auch in unseren Zeiten einen Tyll. Fragt sich natürlich nur, sind die Tylls gut für die Welt (weil sie die dunklen Seiten aufzeigen) oder eher schlecht (weil sie uns vorführen und Schwächen ausnutzen)?

  • Die 27. Historie sagt,

    Ah! Danke für den Hinweis!
    Das scheint ja ein häufigeres Motiv zu sein!
    Die Aussage bleibt aber gleich.

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  • Fragt sich natürlich nur, sind die Tylls gut für die Welt (weil sie die dunklen Seiten aufzeigen) oder eher schlecht (weil sie uns vorführen und Schwächen ausnutzen)?

    Diese gemischten Charaktere... :wuetend:
    Ich für mein Teil lasse ihn mal so stehen, wie er dasteht, als "Irrlicht" (wenn ich mich da wieder bei Dir
    bedienen darf), und die Wahrheit irrlichert ja auch so in dem Roman herum. Ich denke z. B. an den Winterkönig und seine Elisabeth; ihre
    Monologe zeigen unterschiedliche Sichten der Wahrheit/der Wirklichkeit.
    Das kann einen doch wirklich nachdenklich machen.

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  • Winterkönig der Hauptdarsteller. Zumindest war er die tragischste Figur.

    .... der gegenüber Tyll dann auch sehr menschlich auftritt, wenn er ihn in den Tod
    begleitet.
    Ich sehe den Winterkönig (ich meine jetzt die literarische Figur) als Beispiel für die
    barocke Vanitas.

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  • Ich kann euch sagen: die Lesung war toll. Und wenn Kehlmann liest, verliert selbst Gustav Adolfs Feldlager seinen Schrecken. Mehr gibt es morgen, ich muss jetzt erstmal meine im Halbdunkel gemachten Notizen entziffern und nochmal zu Papier bringen, sonst weiß ich morgen nicht mehr, was das alles heißen soll :wink:

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    "Wenn der Schnee fällt und die weißen Winde wehen, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt." Ned Stark

  • So, lieber Interpretationszirkel :friends: Ich hoffe es ist okay, wenn ich meine Lesungseindrücke und -erkenntnisse direkt hier niederschreibe, denn es geht ja um unsere Fragen.
    Als allererstes: "Tyll" ist ein historischer Roman. Keine Metaphern, keine Deutungen - "einfach nur" historisch. :lol: Und nun habe ich alles mal einfach so niedergeschrieben, wie ich es gestern notiert hatte. Ich hoffe, ihr werdet daraus schlau. Bei Fragen einfach fragen :wink:

    • "Tyll" ist kein Roman „über den 30jährigen Krieg“ , sondern „im 30jährigen Krieg“. Einen Roman über diese Zeit zu schreiben, würde seiner Meinung alle Dimensionen sprengen, weil es so eine Fülle an Ereignissen, Personen und Auswirkungen gibt. Man kann immer nur ein paar Dinge beleuchten. So viel zum Thema "Epos über den 30jährigen Krieg" - da war das Marketing wohl zu übereifrig.
    • Tyll ist für Kehlmann eine Art Leitfigur durch den Roman, die immer wieder auftaucht und so die Fäden zusammenhält.
    • Der Roman hat alles in allem mit sehr viel Recherche 5 Jahre Arbeit in Anspruch genommen. Die Schwierigkeit lag vor allem darin, die Fülle der Informationen zu verdichten, zu „synthetisieren“ auf einige Figuren und Szenen. Allein die Recherche über die Hexenprozesse hat DK beinahe ein Jahr lang aufgehalten, weil er immer tiefer darin eingetaucht ist. Er hat dabei – bei aller Grausamkeit – ein Verständnis für die Täter entwickelt, die doch aus tiefster Überzeugung gehandelt haben. Sie waren in ihrer Sicht das letzte Bollwerk gegen das übermächtige Böse, dem sie sich allein mit ihrem Glauben entgegen gestellt haben. Interessante Sichtweise des Autors, wie ich finde.
    • Warum siedelt er Tyll in der falschen Zeit an? Für Kehlmann war das gar keine „kontroversielle“ Entscheidung. Er ist verwundert, warum er das so oft gefragt wird, damit hat er nicht gerechnet. Da Till Eulenspiegel keine historische Figur wie Wallenstein, Galilei oder …. ist, ist es egal, in welcher Zeit man ihn ansiedelt. Für DK war das keine gewagte Entscheidung, sondern eben einfach eine Idee.
    • Zum Thema Hauptfigur: DK wollte eine Art Figurenreigen bzw. Figurenpanorama schaffen. Wenn man über diese Zeit (die frühe Neuzeit) schreibt, kommt man unweigerlich auf Shakespeare-Territorium, denn diese Zeit ist eben Shakespeares Zeit. Und in Shakespeares Stücken sind alle Figuren wichtig – es gibt bei ihm keine Nebenrollen. Alle Figuren müssen lebendig sein, aber man darf sich nicht darauf verlassen, dass eine davon die Hauptfigur ist. Das war DKs Ideal beim Schreiben.
    • Für Kehlmann selbst hat sich die heimliche Hauptfigur (Liz) auch erst beim Schreiben herauskristallisiert. Als er so von ihr erzählt hat, ist er ein bisschen ins Schwärmen geraten, denn er hat bei seinen Recherchen herausgefunden, dass die reale Liz (also Elisabeth Stuart) Shakespeare wahrhaftig gesehen haben muss. "Das muss doch Spuren hinterlassen haben. Shakespeare zu sehen, wie er Shakespeare spielt und aufführt. Das war das höchste an Kultur, das man bekommen kann.“ Da hört man ganz deutlich die Bewunderung Kehlmanns für Shakespeare raus. :)
    • Das Titelbild, das er zwar nicht besonders schön, aber gelungen findet, gibt „das Gewimmel an Figuren“ wieder, das vom Autor gewollt war. (ganz im Sinne von Shakespeare).
    • Die Szene in Osnabrück, die mich so an unsere Regierungsverhandlungen erinnert hat, ist quasi ein Stück im Stück. Eine Komödie, die aus den Zwängen des Protokolls entsteht (wer darf wen wie und wann grüßen…)
    • Zum Thema Athanasius Kircher: der hat ihn fasziniert und darum musste er eine Rolle im Roman spielen. Er war ein Mann, der sich in unglaublich vielen Dingen geirrt hat, er sei so „faszinierend zwiespältig“ und hat den Lauf der Wissenschaft lange aufgehalten, durch seine Irrtümer. Er galt als Experte auf fast allen Gebieten. Allerdings sei die Teilnahme an einem Hexenprozess dichterische Freiheit (es ist wohl erwiesen, dass er das nicht getan hat).
    • Zum Thema Sprache: die ist ja nicht „altmodisch“, sondern schon modern, aber man merkt, dass es eben kein Gegenwartsroman ist. Wie hat er das hinbekommen? Bei „Vermessung der Welt“ war die Lösung die indirekte Rede. Aber er konnte sich ja schlecht selbst kopieren („dafür bin ich noch zu jung“). Sein Ansatz: es geht um Konzepte. Vermeide anachronistische Konzepte (nicht unbedingt Worte). Zum Beispiel würde niemand auf den Gedanken kommen, Tyll als „traumatisiert“ zu bezeichnen (dazu gleich noch mehr), weil diese Begriffe aus der Psychologie eben damals nicht gab. Oder: Eltern hatten aufgrund der hohen Kindersterblichkeit keine so enge Bindung zu ihren Kindern. Das darf man am Verhalten und der Sprache merken. Oder: man denkt nicht in Minuten oder Stunden (letzteres vielleicht einige höhergestellte Personen, die schon mit Uhren in Kontakt gekommen sein konnten). Darum tauchen diese Begriffe im Buch nicht auf.
    • Was mir noch gut gefallen hat: Kehlmann erläutert, dass sich die Unsicherheit der Zeit im Roman wiederspiegelt. Personen, die heute noch wichtig sind, verliert man morgen aus den Augen und weiß nichts mehr über ihr Schicksal. (Wie Tylls Mutter. „Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist“)
    • Und zu guter letzt noch das Thema Tyll: Was oder wer war Tyll? Heute würde man sagen, dass Tyll mehrfach traumatisiert war. Der Roman erklärt ein wenig, wie er das wurde, was er war. Auf jeden Fall ist Tyll keine Antikriegsfigur, sondern er ist jemand, der dazu gemacht war, in jener Zeit zu überleben (gefühlsarm und zu keiner „echten“ Beziehung fähig). „Tyll kann keine echte Beziehung haben. Der Narr ist niemand, der Sex haben würde, das verhindert seine dämonische Seite. Der Narr ist nicht ganz ein Mensch, er ist auch ein Dämon. Er stirbt nicht, weil er es nicht will.“ Und das schließt für mich irgendwie den Kreis und versöhnt mich mit der Hauptfigur, die irgendwie keine ist. Dieser Ansatz ist spannend und gefällt mir sehr gut.

    Abschließend kann ich euch nur aufs wärmste ans Herz legen, zu einer Lesung von Kehlmann zu gehen, wenn ihr die Chance hat. Er kann nicht nur auf dem Papier gut erzählen. Wenn Kehlmann liest, verliert Gustav Adolfs Lager seine Schrecken, der Gestank wird amüsant und der Dialog des Schwedenkönigs mit dem armen Friedrich zum Theaterstück. Ganz großes Kino!


    Mein Lieblingssatz des Abends, den der Autor doch des öfteren in verschiedenen Varianten gesagt hat (zu Handlungen seiner Figuren):
    „Ich verstehe es auch nicht so ganz." Na, das ist doch mal beruhigend. :totlach:
    PS: Ich habe Daniel Kehlmann meine Rezension in die Hand gedrückt, auf der ich vorher noch kurz meine eMail Adresse notiert habe. Bin gespannt, ob es eine Reaktion von ihm gibt.

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