George Saunders - Lincoln im Bardo / Lincoln in the Bardo

  • Kurzmeinung

    Mojoh
    Ein sehr interessanter, innovativer und spannender Stil. Tolles Buch, traurig und fröhlich zugleich.
  • Kurzmeinung

    Farast
    Das Buch feiert das Leben! Leichter zu lesen wie es der erste Eindruck war.
  • Zitat von tom leo

    Manchem möchte ich gerne sagen : Hey, hier spricht Saunders und seine Weltsicht, also objektiviert nicht seine Aussagen. Nehmen wir sie als seine Gedanken an.

    Da fühle ich mich angesprochen und muss Dir auch recht geben. Ich habe mich lange gefragt, wie es kommt, dass ich seine Meinung oder die Meinung, die durch das Erzählen suggeriert wird, als allgemein gültig aufgenommen habe. Rein rational weiß ich, dass sie es nicht ist, aber meine Emotionen haben mir beim Lesen diesen Streich gespielt, weil für mich die Suggestivkraft seiner Bilder so stark war.


    Deine Bewertung betreffend, habe ich neulich mit einer sehr guten Freundin gesprochen, der ich das Buch empfohlen hatte. Sie hätte auch nur 3,5 bis 4 Sterne vergeben, da ihr viele Darstellungen zu grotesk und nicht zielführend gewesen seien.

  • Hey, hier spricht Saunders und seine Weltsicht,

    Trifft das nicht auf jedes literarische Werk zu, das seinen Autor und dessen Weltsicht erkennen lässt? :-k

    Natürlich! Ich wunderte mich nur ein wenig, dass die Distanzierung, bzw das Auseinanderhalten hier anscheinend etwas schwerer fiel?

  • Ich wunderte mich nur ein wenig, dass die Distanzierung, bzw das Auseinanderhalten hier anscheinend etwas schwerer fiel

    Und ich wundere mich jetzt, dass es Dir schwer fiel und mir gar nicht.


    Obwohl ich, wenn ich mich an das Lesen zurück erinnere, das Gefühl habe, als sei das Buch gewissermaßen über mich her gefallen, so dass ich mich aus den Bildern fast nicht befreien konnte.


    Aber das eine schließt das andere nicht aus.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ich weiß gerade nicht, ob ich mich hatte verständlich machen können. Mir selber, bilde ich mir ein, fiel es nicht schwer, Saunders Weltsicht und ... auseinanderzuhalten, da ich für mich einige Ideen zum Thema habe. Insofern sah ich in mir eben auch eine Distanzierung. Meine obige Einladung bezog sich eventuell - nicht übelnehmen - eher auf manche Teilnehmer, die wie vor Neuland stehen angesichts des Buches. DA will ich dann einfach sagen: Hey, das ist doch noch nicht alles quasi objektiv: Hier spricht eben Saunders und seine Gedanken.


    Ich stand manchem vielleicht schon eingangs kritischer gegenüber? Nein, das Buch hat mich nicht erschlagen mit seinen Bildern oder Gedanken. Aber sicherlich gibt es Anstöße, das ein oder andere weiter zu überdenken.

  • Ich finde die Diskussion gerade etwas befremdlich, vor allem da sie im Grunde kaum Aufschlüsse über den Roman zu liefern im Stande ist, als stattdessen eher Lesarten bewertet. Wer hat sich von dem Roman übermannen lassen und damit ggf. etwas von seiner kritischen Schärfe eingebüßt? Wer versteht den Roman aus einer distanzierten Haltung heraus velleicht "besser", da mit kühlerem Kopf und eigenen Gedanken oder Vorwissen gelesen wurde? Da frage ich mich, wohin führen solche Fragen? Ich habe bei allen Meinungen, die bisher hier zu dem Roman geäußert wurden, in keinem Moment den Eindruck gehabt, da würden auktoriale Aussagen mit einer irgendwie fassbaren objektiven Wahrheit verwechselt werden.


    Unabhängig davon, dass der Roman tatsächlich eine ungewöhnliche Erzählweise wählt, die man wegen ihrer Seltenheit ruhig als "Neuland" bezeichnen kann, kommt es mir gar nicht so vor, als wären einige der hier sich positiv Äußernden total blauäugig und im Überschwang der Gefühle im Angesicht bisher unerhörter Jenseitsschilderungen ins blinde Applaudieren geraten.


    Mit Jenseitsschilderungen oder vergleichbaren Darstellungen bestimmter religiöser oder esoterischer Daseinsformen hat doch jeder schon Erfahrungen gemacht, und wenn es "nur" das Land der Frau Holle oder die antike Orpheus-Sage ist. Da lassen sich doch Vergleiche anstellen. Das ist doch inhaltlich gar kein Neuland mehr, auch wenn es die fragmentierte Form als Roman ist. Und schon an dieser fragmentierten Erzählweise lässt sich ja doch eine interessante Haltung des Autors Saunders festmachen: Dass es in dem von ihm gedachten Jenseits keinen auktorialen Erzähler gibt. Dass aber - auf mich zumindest - diese Vielstimmigkeit dennoch geschlossener wirkt, als die fragmentierten Schnipsel aus dem Diesseits, die in der Beschreibung eines Sachverhaltes oftmals in eine völlig andere Richtung abdriften (Vollmond oder nicht, Lincolns Augenfarbe, etc.). Und wo gibt es dann überhaupt objektive Wahrheiten? Hier im Diesseits oder dort im Jenseits oder nirgends? Kann man ja mal drüber nachdenken! :wink:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Und wo gibt es dann überhaupt objektive Wahrheiten?

    … und da hake ich gerne ein: die gibt es nach Auffassung des Autors nicht, und

    das stellt er gleich zu Beginn auch klar mit den unterschiedlichen Äußerungen

    zum Mond und dergleichen.

    Gesicherte Wahrheiten? Offenbar alles subjektiv.


    Ob es gesicherte Wahrheiten im Jenseits gibt, fragst Du? Letzten Endes sind alle unsere Jenseits- und Gottesvorstellungen

    ja unsere eigenen Konstrukte - und da mag jeder glauben, wie er meint.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ob es gesicherte Wahrheiten im Jenseits gibt, fragst Du?

    Da muss ich natürlich schnell bemerken, dass meine Frage eine rhetorische Frage war. Nicht, dass ich auch noch zu der Fraktion zugerechnet werde, die gerne gesicherte Aussagen braucht. :wink:

    Im Grunde ist die Haltung des Buches: Im Jenseits gibt es keinen auktorialen Erzähler und damit auch keine objektive Wahrheit, ja eher banal. Was ja nicht langweilig und falsch meint. Aber man hätte das Jenseits natürlich auch ganz anders beschreiben können. Der Roman würde sich wahrscheinlich besser verkaufen, wenn sich im Jenseits (gewissermaßen als Ort einer "Gottwirklichkeit" oder wie man das nennen mag. Nähe?!) alles in eine auktoriale Gewissheit fügen würde. Wenn die Verstorbenen und die Leser stärker an einer Hand "ins Licht" geführt würden. Ich bin jedenfalls froh, dass Saunders die Form gewählt hat, wie er es tat.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • dass meine Frage eine rhetorische Frage war.

    Das ist mir klar :)


    alles in eine auktoriale Gewissheit fügen würde.

    Da magst Du recht haben damit, dass die Verkaufszahlen steigen. Aber bisschen billig wär's schon...

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Da frage ich mich, wohin führen solche Fragen?

    Ich versteh gerade das Problem nicht. Es ging zuletzt, so wie ich es verstanden habe, um eine subjektive Sicht auf und über den Roman, und darum, sich darüber auszutauschen. Hab ich irgendwas nicht oder nicht richtig verstanden? ?(

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Marie : Mir kam nur Toms Hinweis komisch vor, dass einige der hier Schreibenden manche subjektiven Aussagen von Saunders für "bare Münze" zu nehmen scheinen, quasi Fiktion für eine objektive Wahrheit halten. Das hat für mich ein wenig den Hautgout einer Abwertung. Als wären solche Lese-Einschätzungen weniger wert, da sie aus einer distanzlosen Begeisterung erwachsen (wenn das denn so ist, auch wenn es so klingen mag) und nicht aus einer distanzierten Betrachtung. Es ist immer besser, über sich zu reden, als über andere. Wahrscheinlich ist aber eh alles ein Missverständnis. Und ich habe mich offensichtlich auch missverständlich ausgedrückt. Dann möchte ich mich entschuldigen, wenn ich für Unruhe gesorgt habe. :)

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Jean van der Vlugt , jetzt habe ich es verstanden. :idea:


    Macht nix, wenn es manchmal hin und her geht. Ich frag halt gern nach, wenn ich was nicht kapiere und vermute, dass ein Missverständnis und kein Vorwurf einer Äußerung zugrunde liegt.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ich wollte niemanden verletzen und auch nichts vorwerfen. DAS wäre ein MIßverständnis. Allerdings kommt man nicht umhin bestürzend festzustellen, dass dies ab und zu der Fall sein kann, auch wenn man es nicht will. Das Medium des geschriebenen Wortes ist manchmal doppelter Boden...


    Ich denke, dass man sich ohne jemanden abzuwerten gegenseitig daran ab und zu erinnern kann - anscheinend nicht nötig? - dass dieses oder jenes Buch eine Meinung des Autors darstellt. Vielleicht selbstverständlich... Ich wünschte mir eine solche Erinnerung oder eventuelle Auseinandersetzung oft bei den Büchern, wo ich etwas rasch enthusiastisch bin. Leider werden die meisten von mir besprochenen Bücher von keinem gelesen, oder gar kommentiert. Und es fehlt quasi die Gegenstimme. Bei DIESEM Buch hier war ich vielleicht etwas vorbelastet und las es insofern skeptisch(er)? Das macht mich nicht besser. Bei anderen Themen ginge es mir ganz anders.


    Immerhin, um es klarzustellen, habe ich diesem Buch 4 Sterne gegeben! Finde es also bereichernd und gut.


    Es geht nicht einfach um Lesarten, sondern um die Wahl des Autors von einem Stil. Auch die Form, der Stil sind Ausdruck eines "Willens" oder einer gewissen Form von Intuition. Im Bereich des Buches - da sind wir uns also einig - gibt es keinen auktorialen Erzähler im Sinne eines außerhalb der Dialoge allwissenden Beobachters. Aber - das war meine Grundbemerkung und mein -einwurf - ist das nicht ein Kunstgriff? Wird nicht Beschreibung, Kommentar durch vor allem die zwei Hauptpersonen wiedergegeben? Sie beschreiben oft seitenlang, was passiert und werden so Sprachrohr, bzw sozusagen "auktoriale Erzähler". Oder? Nun bin ich nicht einfach dagegen, nein, aber auf mich persönlich wirkte das manchmal gekünstelt. Wäre anderes nicht "einfacher" gewesen und natürlicher?


    Aber das war mein Empfinden. Das braucht ja niemand zu teilen.

  • Wird nicht Beschreibung, Kommentar durch vor allem die zwei Hauptpersonen wiedergegeben? Sie beschreiben oft seitenlang, was passiert und werden so Sprachrohr, bzw sozusagen "auktoriale Erzähler". Oder?

    Da würde ich sagen jein. Zunächst sind sie ja doch einzelne Stimmen, auch wenn sie oft zu hören sind, und kein quasi-auktorialer Erzähler. Hier kann dann vielleicht gerade die Bruchstelle liegen, an der man als Leser anfangen muss, etwas für sich auszuhandeln. Und eigentlich ist es meistens sicherlich entscheidener, welchen Stellenwert ein Sachverhalt für einen einnimmt, nicht welchen Stellenwert der Sachverhalt "an sich" hat. Sonst würden ja alle im Grunde dasselbe aus einem Roman/Film/Theaterstück ziehen, bzw. es gebe nur völlige Zustimmung und völlige Ablehnung. Undenkbar!:wink: Für mich wäre die Viellstimmigkeit also auf jeden Fall noch vielstimmig, auch wenn die vielen Stimmen mehrheitlich den gleichen Ton anschlagen. Wie auch immer... "Kunstgriff" hört sich bei Dir auf jeden Fall eher negativ an: Nicht nach Finesse, sondern nach Taschenspielertrick. :wink: Trick vielleicht schon, aber gekünstelt fand ich das nicht. Also nicht manieriert oder so. Oder wenn, fände ich "künstlich" in dem Fall entschuldbar, da es ja auch einen "unechten" Zustand nachahmt. "Unecht" von unserer Warte aus.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • (vor allem die teils wirklich obszönen Szenen)

    Kannst Du mir sagen, welche Szenen Du meinst.

    Gern:

    Lesen ist ein großes Wunder. Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach


    :study: Das lese ich gerade: *klick*

  • Eure Diskussionen empfinde ich bzgl. vieler Aspekte des Buches als sehr interessant (auch im Sinne von Denkanstößen) und lesenswert :thumleft:


    Ich selbst habe das Buch gestern Abend zu Ende gelesen und es letztendlich mit :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: bewertet.

    In einigen Punkten bin ich bei buechereule und tom leo : der Stil war ganz sicher einmal etwas völlig anderes, jedoch waren mir die "versachlichten" Augenzeugeneinschübe in Summe zu viel.


    Vielleicht kam ich mit dem Erzählstil und der sehr vieldeutigen Sprache auch deshalb nicht so gut klar, weil sie oftmals zu einem Genre gehört welches nicht zu meinen bevorzugten gehört.

    Ich gebe zu, dass ich oftmals einfach nur spannend unterhalten werden möchte und mir darum Bücher wie dieses hier zu schwere Kost sind.


    ABER ich liebe es trotzdem nach dem x-ten Krimi/Thriller/historischem Roman ein Buch aus dem Bereich Romane/Erzählungen zu lesen und mich vertieft damit auseinanderzusetzen und nicht "nur zu konsumieren".


    Daher bin ich auch froh "Lincoln im Bardo" gelesen zu haben, der eine anrührende, lebensbejahende und Mut machende Idee des "aus dem Leben gehen" anbietet.

    Henning Mankell - Die weiße Löwin


    2024

    Gelesene Bücher: 12

    Gelesene Seiten: 5.895

    (Januar 3/1.901 ; Februar 4/1.852 ; März 3/1.508)


    2023 : 43 / 20.691 ; 2022 : 40 / 20.829 ; 2021 : 44 / 21.237 ; 2020 : 49 / 22.248 ; 2019 : 48 / 21.610 ; 2018 : 47 / 22.388 ; 2017 : 50 / 24.667 ; 2016 : 56 / 25.723 ; 2015 : 61 / 27.175 ; 2014 : 73 / 31.730 ; 2013 : 75 / 33.510

  • Als der elfjährige Willie an Typhus stirbt, sind seine Eltern, Abraham und Mary Lincoln, am Boden zerstört. Lincoln steht sowieso schon wegen des Bürgerkriegs im Kreuzfeuer der Kritik, und dass der Junge ausgerechnet dann aus dem Leben scheiden musste, während im Weißen Haus eine rauschende Abendgesellschaft stattfand, ist ein gefundenes Fressen für Klatschmäuler.


    Abraham Lincoln sucht auf dem Friedhof die Nähe seines Sohnes, kommt immer wieder in die Gruft, in der sein Sarg steht, versucht zu begreifen, was man nur schwer begreifen kann und ganz sicher nicht begreifen will.


    Auf dem Oak Hill Cemetery ist der trauernde Vater nicht so alleine, wie es den Anschein hat, um ihn herum gibt es Hunderte von Geistern, die es noch nicht geschafft haben, diese Welt gänzlich zu verlassen und in einem Zwischenzustand gefangen sind. Sie machen auch einen Großteil des vielstimmigen Chores aus, der dieses Buch erzählt.


    George Saunders bedient sich hier nämlich nicht einer geradlinigen Erzählweise oder einiger weniger Perspektiven, sondern setzt das Gesamtbild wie ein Mosaik aus zahlreichen Einzelstimmen zusammen. Oft sind die Absätze nur wenige Wörter oder Sätze lang, bevor die nächste Stimme zu Wort kommt. Viele von ihnen sprechen aus dem Jenseits zu uns oder vielmehr aus dem titelgebenden Zwischenzustand ("Bardo" steht im Buddhismus für ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod - interessant auch, dass das Buch 108 Kapitel hat, eine Zahl, die im Buddhismus von Bedeutung ist).


    Andere Kapitel bestehen hingegen aus Zitaten von Zeitzeugen oder Auszügen aus historischen Werken. Hier fand ich die höchst unterschiedliche Wahrnehmung hochinteressant, die einzelne Personen haben; mit jeder Drehung des Kaleidoskops kann ein und dieselbe Szene eine ganz andere Färbung annehmen.


    "Lincoln in the Bardo" dürfte so ziemlich der ungewöhnlichste Roman sein, den ich jemals gelesen habe, und ich kann auch verstehen, wenn man mit dieser experimentellen Form nichts anfangen kann (oft genug gehöre ich auch dazu). Aber mich hat das Buch sehr beeindruckt, auch wenn ich nicht behaupten kann, alles im Detail verstanden zu haben und mir das eine oder andere ein bisschen zu hoch war. Doch Saunders bringt den Schmerz des Vaters über den Verlust des geliebten Kindes auf eine ganz berührende Weise zum Ausdruck und schreibt überhaupt ganz wunderbar über das Werden und Vergehen und das, was hätte sein können. Ab und zu blitzt sogar etwas sarkastischer Humor auf. Auch historische und gesellschaftliche Aspekte wie der US-Bürgerkrieg, Segregation und Vorurteile kommen zum Tragen, und mir gefiel es sehr, wie so viele Einzelschicksale Eingang in das Buch finden, oft komprimiert auf wenige Sätze und doch sehr eindrucksvoll.


    Kein ganz einfaches Buch, aber eins, das sich lohnen kann, wenn man sich darauf einlässt.

  • Aber mich hat das Buch sehr beeindruckt, auch wenn ich nicht behaupten kann, alles im Detail verstanden zu haben und mir das eine oder andere ein bisschen zu hoch war.

    Das ging mir auch so, und ich denke noch manchmal über die starken Bilder nach, die Saunders entwirft.

    Es freut mich, dass Dir das Buch gefallen hat. "Lincoln im Bardo" ist eines der wenigen Bücher, die ich mehrmals gelesen habe und das mich immer wieder aufs Neue emotional unglaublich gepackt hat. Unter anderem dieses anrührende Bild der männlichen Pieta - und dann die Ausweitung von Lincolns Trauer auf die Söhne, deren Tod er kriegsbedingt verantworten muss.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).