George Saunders - Lincoln im Bardo / Lincoln in the Bardo

  • Kurzmeinung

    Mojoh
    Ein sehr interessanter, innovativer und spannender Stil. Tolles Buch, traurig und fröhlich zugleich.
  • Kurzmeinung

    Farast
    Das Buch feiert das Leben! Leichter zu lesen wie es der erste Eindruck war.
  • Für mich war der Gedanke interessant, dass sich auch Tote entwickeln, dass das Tot-Sein kein statischer Zustand ist, sondern verschiedene Bewusstseinsstufen umfasst.

    Das fand ich einerseits beruhigend: es ist also noch "Leben" in diesem Zustand.

    Andererseits fand ich das beängstigend: Was ist, wenn ich diese Entwicklung nicht leisten kann? Aus welchen Gründen auch immer?


    Denn

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Zitat von drawe

    Andererseits fand ich das beängstigend

    So ging es mir auch. Es ist zwar nur eine Theorie von vielen zum Thema Tod, die Saunders mit seinem Bardo ausbreitet. Ich war aber so in das Buch versunken, dass ich stellenweise auch Beklemmungen verspürt habe vor der „Bedrohung“, die die Zwischenwelt darstellen könnte.


    Zitat von Marie

    Wenn man im richtigen Moment loslässt, ja.


  • Wenn man im richtigen Moment loslässt, ja.

    Da gibt es eine nette Stelle in dem Buch Andre Hellers über seine alte Mutter - übrigens eine Stelle, die Seethaler für "Das Feld" gemopst hat: die alte Frau sagt, dass es da einen Durchschlupf gibt, und den muss man finden, rechtzeitig finden, und dann ist das Sterben keine Kunst mehr.


    Zu Deinem Spoiler: wie erklärst Du Dir diese Stelle? Geht es um das, was man im Christentum Gnade nennt?

    Oder

    Wenn das so weitergeht, haben wir nur noch Spoiler.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Für mich war der Gedanke interessant, dass sich auch Tote entwickeln, dass das Tot-Sein kein statischer Zustand ist, sondern verschiedene Bewusstseinsstufen umfasst.

    Ich habe es eher so gesehen, dass keine Entwicklung im irdischen Sinne mehr stattfindet, denn eine Entwicklung hat immer Konsequenzen für den Alltag, die vertrauten Menschen, die Umgebung, die Zukunft, ... und all das gibt es im Zwischenreich nicht mehr.

    Etwas anderes sind diese Bewusstseinsstufen. Die am Ende in die Erlösung münden.


    Ich denke oft noch an das schwarze junge Mädchen, das im Massengrab verscharrt war, und dessen Schicksal im irdischen Leben. Gut, dass Saunders vieles, was ihr passiert war, nur angedeutet hat; die Details hat er der Phantasie des Lesers überlassen, und dort waren sie schon schlimm genug.


    Ob es die "theoretische" Auseinandersetzung mit dem Tod in einem belletristischen Buch ist oder die Konfrontation mit ihm in der Wirklichkeit, am Ende geht es immer ums Loslassen. Sich selbst loslassen und / oder den Sterbenden loslassen. --- Ein paar banale Worte eigentlich für das Schwerste, das Menschen in ihrem Leben "leisten" müssen. Außer man schafft es, diese Sache so zu erzählen wie Saunders.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


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  • ch habe es eher so gesehen, dass keine Entwicklung im irdischen Sinne mehr stattfindet, denn eine Entwicklung hat immer Konsequenzen für den Alltag, die vertrauten Menschen, die Umgebung, die Zukunft, ... und all das gibt es im Zwischenreich nicht mehr.

    Etwas anderes sind diese Bewusstseinsstufen. Die am Ende in die Erlösung münden.

    Du meinst, dass man diese Bewusstseinsstufen quasi automatisch durchläuft, sobald man selber das Irdische losgelassen hat? Ohne eigenes Zutun? Immer vorausgesetzt, die irdischen Lieben halten einen nicht auf, lassen also los - so wie letztlich auch Lincoln? Also Loslassen auf beiden Seiten?

    Es gibt interessante Auffassungen zu diesem Zustand, die mir da durch den Kopf gehen.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Also Loslassen auf beiden Seiten?

    Meiner Meinung nach: Ja. Wie das nach dem Tod aussieht, kann ich Dir glücklicherweise heute (noch) nicht sagen.

    Für mich steht nur fest: Wenn die Lieben einen Sterbenden loslassen können, erleichtern sie ihm das Sterben. Wobei dieses Loslassen die schlimmste Trauerarbeit ist, das Vermissen, die andere Seite der Trauer, kommt später.

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  • zu Marie s Spoiler

    (ich schaffe es nicht, einen Spoiler wiederum in einen Spoiler zu setzen)


    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Für mich steht nur fest: Wenn die Lieben einen Sterbenden loslassen können, erleichtern sie ihm das Sterben.

    Da hast Du Recht, und da kenne ich Dir einige Beispiele aus der Hospizarbeit nennen.


    Theoretisch kann man das auch gut nachvollziehen und bei älteren Menschen wie seinen

    Eltern wohl auch leichter leisten als bei seinen Kindern. Da wird es dann unerträglich.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Bezüglich des Loslassens im Hinblick auf die Kinder:


    Weshalb werden diese so furchtbar „bestraft“ für dieses Gefangensein im Bardo?

    Und wer bestraft sie?

    Vor allem wenn es eigentlich Schuld der Angehörigen ist, sofern sie die Kinder nicht gehen lassen können.


    Die drei Toten betonen ja mehrmals, dass vor allem die Kinder schrecklich leiden.

    Für diese, v.a. für die arme Traynor ist es dort

  • Vor allem wenn es eigentlich Schuld der Angehörigen ist, sofern sie die Kinder nicht gehen lassen können.

    Willie selbst kann auch nicht loslassen. Er wartet ja auch auf den Vater.


    Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, dass er noch ein Kind ist. Es gehört zum Kindsein, dass es vieles noch lernen muss, doch ein Toter braucht nicht mehr zu lernen. Insofern trägt er an seinem Dasein im Bardo dieselbe "Schuld" wie Lincoln, denn er sehnt sich ja danach, dass sein Vater noch mal seinen Körper hält.

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  • SiriNYC , ich habe die Stellen wegen Elise Traynor nochmal nachgelesen.


    Ich denke dazu folgendes:


    Wie hast Du Dir diese Stellen aufgelöst?

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • drawe :

  • SiriNYC ,


    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich habe heute Nachmittag ein bißchen im Netz gestöbert, um ein Interview zu finden, in dem Saunders selbst erklärt, was es mit den besonders schrecklichen Folgen für die Kinder auf sich hat. Ich wurde hier fündig.


    Ein Kerngedanke ist, dass wir versuchen unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit anzulegen, aber „Gottes Wege sind unergründlich“ (Saunders selbst war zumindest als Kind/Jugendlicher streng katholisch). Ein weiterer, der Bardo ist kein guter Ort für Kinder, er ist wie eine Rotlicht - Bar, es gibt zu viel zu sehen und zu hören, dass nicht für sie bestimmt ist. Bleiben sie trotzdem, kann das nicht gut für sie ausgehen.


    Hier ein Auszug aus dem Interview, auch über den Zaun wird etwas gesagt:


  • "Why can’t they get out beyond the fence? I don’t know, it’s just a rule—God’s rule."


    Das ist für mich einer der Kernsätze. Es ist eben ein Mysterium. Also nehmen wir das einfach mal zur Kenntnis und kauen bisschen dran herum.

    Nach anthroposophischer Ansicht gelingt Kindern die Reise ins Licht leichter als Erwachsenen, die sich noch eine Zeitlang - bis zu 7 Jahre - auf der Erde bewegen. Von dieser Ansicht bin ich bisher ausgegangen, sie passte meiner Ansicht nach gut mit dem Roman zusammen.


    Squirrel , danke für die links!

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Jetzt habe ich es auch gelesen! :D

    Wo hier so ein reger Austausch stattfindet, werde ich gar keine echte Rezension zusammenstoppeln, sondern lieber einige Aspekte in die Runde werfen, die mir besonders gefallen haben oder besonders aufgefallen sind.


    • Wie lebensbejahrend diese so morbid wirkende Jenseitsgeschichte ist.
    • Mir gefällt besonders, dass einem Kind die Funktion des Aufklärers, des Wahrheitsverkünders zukommt (wie bei "Des Kaisers neue Kleider"), desjenigen, der mit seinem forschen Vorpreschen anderen hilft, dahin zu gelangen, wohin sie gehören. Der den Status quo und die Vermeidung erschüttert!
    • Interessant scheint mir der Gegensatz subjektiv-objektiv und die Gegenüberstellung der diesseitigen Stimmen (also der Zitate) und der jenseitigen Stimmen. An den diesseitigen Stimmen erkennt man, wie sehr die subjektiven Ansichten der Menschen voneinander abweichen können, obwohl sie im Grunde feststehende Dinge beschreiben (also: Wie der Mond stand in jener Nacht oder welche Augenfarbe Abe Lincoln hatte). Und schaut man sich dann die jenseitigen Stimmen an, steckt man natürlich ebenfalls in lauter subjektiven Eindrücken. Und das scheint ja gewissermaßen ein Teil des Problems zu sein. Im Jenseits müssten die Geister "objektiver" sein. Das Subjektive des menschlichen Geistes führt eben auch zu Vermeidigung und Selbstsucht. In dem Zusammenhang denke ich auch an dieses Zitat aus Kapitel XCV (S. 399):
    Zitat


    Wir dürfen Gott nicht als ER sehen (einen Kerl, der uns berechenbar belohnt), nein, ein ES, ein großes Viech jenseits unserer Einsicht, ES will etwas von uns, das müssen wir geben, und in unserer Macht steht allein der Geist, in dem wir es geben und das Ziel, dem das Geben letztlich dient.

    • Auch hier wird eine Entwicklung vom Subjekt (ER) zum Objekt (ES) gefordert. Das göttliche Ziel liegt außerhalb der menschlichen Einsicht, ist also per Definition nicht zu verstehen. Die Option, das, was (nach dem Plan der Natur) getan werden soll, eben nicht zu tun, gibt es gar nicht, nur die Haltung, das Bewusstein, in dem man es tut. Die Toten sollen sich eben nicht ans Leben klammern, so wie auch nicht die Lebenden an ihre Verstorbenen. (Sondern frohen Mutes ab zur Gewissensprüfung im Diamantenpalast... )
    • Außerdem habe ich mich in den Autor einer solchen Jenseitsgeschichte hineinversetzt. Wenn man sich beim Planen des Aufbaus und dem Schreiben über den Erzähler der Geschichte klar zu werden versucht. Da käme mir im Grunde ein auktorialer Erzähler, der irgendwie aus dem Blauen heraus berichtet, wie es im Jenseits aussieht, schon auch fast ein wenig anmaßend vor. Das Jenseits dagegen nur über etliche Jenseitsstimmen lebendig werden zu lassen, erscheint mir dagegegen unglaublich stimmig. Ein Zwischenreich, in dem man auch ein wenig gegen sein eigenes Verschwinden anreden muss. Diese Vielstimmigkeit ist auf jeden Fall - da bin ich mir ganz sicher - nicht nur ein cleverer Stunt, um eine Geschichte künstlich interessant zu machen. Gerade diese Vielstimmigkeit lenkt ja den Blick des Lesers erst so richtig auf das subjektiv Menschliche, das sich objektiven Gesetzen (Gottes, des Schicksals, der Natur) unterordnen muss. Ein Schicksal annehmen.

    So oder so, ein wunderbarer Roman, der den Leser zum Glück nicht mit Gefühligkeit einfangen will (emotional packend ist das Buch dennoch, einschließlich diversen Klößen im Hals), sondern durch eine immer überraschende, verdammt originelle, sehr ernsthafte, demütige und dabei auch überraschend unterhaltsame und leicht lesbare Beschäftigung mit grundlegenden menschlichen Themen: Tod und Sterben, Trauer und Abschied. politische Verantwortung (die ja auch nicht selten Tod und Blutvergießen nach sich zieht) und die Frage, was ein gutes Menschenleben ausmacht (worauf sich Saunders zum Glück nicht zu einer Antwort versteigt, sondern die Frage anregend im Raum stehen lässt!) In dem Zusammenhang: Mir gefiel besonders gut, wie die Toten in dem Moment, als sie mit ihrem Schicksal ins Reine gekommen sind, nicht nur alle gewesenen Etappen ihres Lebens vor ihrem inneren Auge sehen, sondern auch die in der ihnen nicht mehr vergönnten Zukunft möglichen. All das, was in ihrem Leben schon angelegt war. Es ist immer schon ihrs gewesen. Und dass ihnen diese Einsicht tiefes Vertrauen und große Zufriedenheit eingab, keine Trauer, eine solche Zukunft nicht mehr selbst "im Fleische" erlebt zu haben. Ganz groß!:pray:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)