Cynan Jones - Graben / The Dig

  • Der Autor (nach Verlagsseite und englischer Wikipedia): Cynan Jones wurde 1975 in Wales geboren. Er ist Autor von vier Romanen und zahlreichen Erzählungen, die in Zeitschriften wie "Granta Magazine" oder der "New Welsh Review" veröffentlicht wurden. Für seinen Debütroman "The Long Dry" wurde er 2007 mit dem Betty Trask Award ausgezeichnet, für "The Dig" erhielt er 2014 den Jerwood Fiction Uncovered Prize und 2015 den Wales Book of the Year Fiction Prize. Cynan Jones lebt in der Nähe von Aberaeron an der walisischen Küste.


    Klappentext: Die Natur hat ihre eigenen Gesetze, und das oberste ist das des Kampfes. Daniel bewirtschaftet in einem abgelegenen walisischen Landstrich eine kleine Schafsfarm, als er bei einem tragischen Unfall seine Frau verliert. Mit letzter Kraft hält er sich und den Betrieb aufrecht, gehalten von den Ritualen des rauen Landlebens und verfolgt von den Erinnerungen an flüchtige Momente des Glücks. Zur gleichen Zeit hinterlässt ein brutaler Hundezüchter in der Gegend seine Spuren. Er jagt illegal Dachse und wirft sie in Wettkämpfen abgerichteten Terriern vor. Doch so wie Daniel die Vergangenheit nicht loslässt, ist auch er ein Verfolgter, die Polizei hat bereits seine Witterung aufgenommen. Als er für eine Jagd ausgerechnet auf Daniels Land ausweicht, überschreitet er endgültig jene unsichtbare Grenze, hinter der es kein Zurück gibt. Daniel, der nichts mehr zu verlieren hat, stellt sich ihm entgegen.


    Die Originalausgabe des Romans in englischer Sprache erschien 2014 im Vereinigten Königreich (und ein Jahr später in den USA) unter dem Titel "The Dig". Die deutsche Übersetzung besorgte Peter Torberg. Sie erschien als "Graben" im Januar 2015 bei Liebeskind in München. Diese hartgebundene Ausgabe umfasst 176 Seiten. Das Umschlagmotiv entstammt dem Gemälde "Dachshunde stellen einen Dachs" (1882) des deutschen Malers Guido von Maffei.


    Einerseits eindrücklich, sehr körperliche, feuchte, archaische Sätze über Alltagsausschnitte aus dem Leben zweier einsamer, schweigsamer Männer, eines fürsorglichen Schaffarmers, der bei einem überraschenden Unfall seine geliebte Frau verlor, und eines kaltschnäuzigen Hundezüchters und Dachsjägers, der illegale Hundekämpfe veranstaltet und Furcht vor der Polizei hat. Andererseits trägt der Autor, kein Mann vieler Worte, auch etwas dick auf mit seiner Bedeutungsschwere. Mir fällt es bei vielen Sätzen, die mir sehr nahe gingen, und anderen Sätzen, die ungewöhnliche und dabei sehr treffende Beschreibungen darstellen, schwer, von Manierismus zu sprechen, aber so ganz vom Tisch ist der stille Vorwurf nicht, da würde sich jemand schick suhlen in dem Archaischen des Landlebens, heruntergebrochen auf erbarmungslose Gegensatzpaare – gebären und sterben, ins Leben führen und töten, zermalmen und sich von Trauer übermannen lassen.


    Als wollte hier jemand einen deprimierend noiren Roman und eine Geschichte voller ach so unausweichlicher Gegensätze schreiben, dem Kritiker und Leser das Prädikat „alttestamentarische Wucht“ anheften sollen. Als wählte sich hier jemand im Grunde nur ein Setting und einen Wortschatz – und die Geschichte und mit ihr die Bedeutung werden dann schon folgen, würde zwischen Hülsen schon erkennbar werden. Mir kommt es leider fast nicht so vor, als wollte hier jemand vor allem eine Geschichte erzählen oder eine Bedeutung umkreisen, wofür sich dann ein bestimmtes Setting und eine bestimmte Sprache anbieten. Und so sollte es doch sein: Der Autor will eine Geschichte – in diesem Fall über das Fehlen oder Entgleiten von Menschlichkeit und Lebenswillen – erzählen und versammelt Personal und Orte um diesen Kern herum. Aber was will Cynan Jones eigentlich? Ich weiß natürlich, was ich persönlich aus seinem Kurzroman hinausziehen kann, aber er belässt alles all zusehr im Vagen. Seine Orte sind stark gezeichnet, in wunderbar knapper Sprache, aber die Geschichte ist doch äußerst dünn, erschöpft sich vor allem im Antriggern emotionaler, in Trauer gekleideter Erinnerungen. Auch die Charaktere sind in Wirklichkeit nur sehr dürftig gestaltet. Man erfährt wenig. Alles bleibt in Andeutungen. Und der alttestamentarische Gegensatz bleibt Behauptung. (Jedoch: Spätestens der Moment, als sich Daniel an die Beerdigung seiner geliebten Frau erinnert und ihn die Geruchserinnerung an das offene Grab an das gemeinsame Gartenumgraben mit seiner Frau erinnert, wodurch sich quasi Schönes mit Schrecklichem infiziert, hat mich doch sehr gepackt. :cry: Solche Momente gibt es dann eben doch!)


    Ich mochte den kurzen Roman dennoch also recht gerne, wenn er auch etwas mehr Handlung vertragen hätte, nicht nur Atmosphäre, wohlfeile Drastik (einen ausgeglichenen Magen fordern etliche Szenen, in denen Gewalt gegen Tiere beschrieben wird, aber auch die sehr plastisch Schilderung einer problematischen Schafsgeburt) und die konsequente Gegenüberstellung zweier Männlichkeitsbilder. Was zurückbleibt sind seine lakonische Sprache, viele trotz ihrer Flüchtigkeit sehr griffig eingefangene Seelenzustände und Personen- und Vorgangsbeschreibungen und der nicht so leicht zur Seite zu packende Eindruck der Gefangenheit und Begrenztheit aller Kreaturen, sei es Mensch oder Tier. Der Stärkere, der Brutale gewinnt, alle anderen zerbrechen, so gut oder tüchtig sie auch sind. Es herrscht ein tiefes Unverständnis der gebeutelten Seele vor, über das, was sie quält. Und warum sie sich quält oder gequält wird. Das Opfer schaut der Unterdrückerinstanz ungläubig in die Augen. Jedes Aufbäumen erscheint nur wie ein schwacher Reflex ohne Nutzen. Ein instinkthafter, verblassender Schatten in den Ruinen der Menschlichkeit. Der Lebenswille ist im Grunde bereits gebrochen.


    Im Kern also hochgradig deprimierende Literatur, die aber viel oberflächlicher an mir vorbeigerauscht ist, als es der Autor beabsichtigt haben wird. Es ist nicht so sehr das Fehlen einer klassischen Narration, die mich kaltlässt – mir gefällt ja, wenn Autoren ihren Lesern Eigenleistung beim Verstehen zutrauen – es ist vielmehr die Beliebigkeit der zwei wie als archetypische Gegensätze gegenüber gestellten Männer – Schaffarmer Daniel und der namenlose "große Mann" –, von denen man kaum etwas erfährt, außer, dass sie durch die Dramaturgie des Romans unaufhaltsam auf eine Konfrontation zulaufen. Und auch diese Unausweichlichkeit ist somit im Grunde reine Behauptung. Nun ja, wahrscheinlich alles meine eigene Leser-Schuld, immerhin muss man negative oder abwägende Lesermeinungen über Cynan Jones' "Graben" mit der Lupe suchen. Und tatsächlich werde ich von Cynan Jones bestimmt noch mehr lesen, wütet er doch in einem meiner Lieblingsgenres und ist ein ähnlich großer Freund von sparsam ökonomischem Erzählen wie ich, aber wenn sich seine anderen Romane als ähnlich kalkuliert aufgeblasen erweisen, werde ich ihn als geschickten Blender abhaken. Ich gebe, schon einen Tag nach beendeter Lektüre abgerundet, bei aller Kritik immerhin, aber vor allem leider nur dreieinhalb :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: Sterne.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Die Originalausgabe in englischer Sprache erschien 2014 im Vereinigten Königreich (und ein Jahr später in den USA) unter dem Titel "The Dig".

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  • 2015 erschien auch in den Niederlanden eine Übersetzung unter dem Titel "De burcht", übertragen von Jona Hoek.

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  • In Spanien kennt man den Roman dank der Übersetzer Carlos Milla Soler und Isabel Ferrer schon seit 2014 auch unter dem spanischen Titel "La tejonera".

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  • Danke @Jean van der Vlugt, dass Du mir diesen Roman wieder ins Gedächtnis gerufen hast. Ich sah ihn mehrfach über den Bildschirm flackern, es gab zahlreiche gute Bewertungen in meinem Bekanntenkreis. Jetzt ist es an mir, mich persönlich von seiner Sprache zu überzeugen und zu ertasten, ob es ähnlich lakonisch an mir vorbeirast wie bei Dir. Ist es erwünscht, sich in diesem Thread anschließend einmal noch dazu zu äußern? Oder gibt es einen anderen, besseren Ort dafür? :winken:

  • Jetzt ist es an mir, mich persönlich von seiner Sprache zu überzeugen und zu ertasten, ob es ähnlich lakonisch an mir vorbeirast wie bei Dir. Ist es erwünscht, sich in diesem Thread anschließend einmal noch dazu zu äußern? Oder gibt es einen anderen, besseren Ort dafür? :winken:

    Oh, das ist sehr erwünscht, dass Du Dich hier dazu äußerst. :thumleft: Und ich wäre auch sehr interessiert an weiteren Stimmen. Die meisten finden den Roman ja ganz großartig. Und ich weiß im Grunde auch, was ihnen daran gefällt: Lauter Dinge, die mir ansonsten auch sehr gut gefallen. Nur in diesem Fall leider nicht so sehr, da mir die Düsternis schick darübergestülpt vorkommt. Als wollte jemand einen Roman à la Cormac McCarthy in der kargen walisischen Landschaft erzählen. Aber da so viele den Roman sehr, sehr mögen, fange ich schon an mich zu fragen, warum die Geschichte bei mir nicht verfängt. (Bin ja schon froh, eine gegenläufige Kritik des sehr guten Übersetzers Friedhelm Rathjen zu "Graben" gefunden zu haben, da bin ich nicht so allein bei den Miesepetern. Er allerdings zerreißt das Buch richtiggehend ...)

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  • Danke für die Rezension, ich weiss auf dein Urteil kann ich mich verlassen. Da meine Onleihe das Buch hat habe ich es mir vorgemerkt und werde es nächstens lesen, dann berichten, sollte es mich ansprechen aber natürlich auch wenn ich damit nicht klar komme :uups:
    @Raiko Oldenettel ist der Filmtitel wie das Buch, habe nämlich im Netz nichts gefunden :-k

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • @serjena Mit dem flackernden Bildschirm meinte ich meine rastlose Timeline bei Facebook und Twitter. Entschuldige die Verwechslung!

    Danke du hast mir gerade das :D des Tages beschert, im Nachhinein ist mir klar wie "quer" ich gedacht habe.

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    Horst Lichter