Pierre Lemaitre - Drei Tage und ein Leben / Trois jours et une vie

  • Kurzmeinung

    Marie
    In einem hilflos-wütenden Moment nicht nur das Leben eines anderen, sondern auch das eigene zerstört
  • Der Autor (Quelle: Amazon)


    Pierre Lemaitre, geboren 1951 in Paris, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein letztes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman »Drei Tage und ein Leben« in deutscher Übersetzung vor.
    Der Autor lebt in Paris.




    Produktinformation


    Gebundene Ausgabe: 270 Seiten


    Verlag: Klett-Cotta; Auflage: 1 (9. September 2017)


    Sprache: Deutsch


    ISBN-10: 3608981063


    ISBN-13: 978-3608981063


    Originaltitel: Trois jours et une vie




    Schuld ein Leben lang…


    Antoine (11) lebte mit seiner Mutter in einem Ort in Frankreich. Sein Vater hatte sie vor Jahren schon verlassen. Er hatte Freunde mit denen er eine Hütte im Wald baute. Doch eines Tages bekam sein Freund eine Spielkonsole geschenkt und seine Mutter ließ ihn nicht mehr zu ihm…


    Antoine, jetzt an zwei Tagen in der Woche allein, freundete sich mit dem Hund Odysseus an. Er baute im Wald ein Baumhaus. Sogar für Odysseus hatte er eine Möglichkeit geschaffen, dorthin zu kommen…


    Doch dann geschah etwas Furchtbares, das alles veränderte, und die Schuld an den folgenden Ereignissen trug…


    Durch dieses Furchtbare wurde Antoine so wütend, dass er sein Baumhaus zerstörte und Remi, der ihn gesucht hatte, noch dazu….


    Doch was nun tun, wohin mit Remi, fragte sich Antoine. Im Wald wusste er eine Stelle, wo man ihn nicht so schnell finden würde…


    Aber ab diesem Zeitpunkt lebte Antoine in der Angst, dass eines Tages die Gendarmen vor seiner Tür stehen und ihn abholen würden….


    Und dann war da noch Emilie, eine Schulkameradin …..


    Warum ließ Antoines Mutter ihn nicht mehr mit den Freunden spielen? Hatte sie etwas gegen diese Spielkonsolen? Wie hatte Antoine es geschafft, dass sogar Odysseus auf den Baum und in die Baumhütte kam? Was geschah, das alles veränderte? Wieso trug dieses Geschehen die Schuld an den folgenden Ereignissen? Wieso wurde Antoine so wütend und zornig, dass er sogar sein mühevoll errichtetes Baumhaus zerstörte? Was passierte mit Remi? Wo hatte Antoine ihn hingebracht? Wieso hatte er Angst, dass die Gendarmen doch noch dahinter kämen? Und was hatte es mit Emilie auf sich? Alle diese Fragen – und noch viel mehr - beantwortet dieses Buch.




    Meine Meinung
    Das Buch ließ sich sehr gut lesen, leicht und flüssig. Es war unkompliziert geschrieben, denn es gab keine Fragen nach dem Sinn von Wörtern oder Sätzen. Gleich zu Anfang erfährt man den Grund, der alles ins Rollen gebracht hatte: Der Tod des Hundes, den Antoine liebte. War er doch eigentlich noch sein einziger Freund, da er wegen der Spielkonsole mit seinen Kameraden nicht mehr spielen durfte. So gesehen hatte seine Mutter auch Schuld an den nachfolgenden Ereignissen, konnte das aber natürlich nicht wissen. Remi, der Antoine bewunderte, war ja erst sechs. Irgendwie tat mir Antoine schon leid, aber er hätte seinem Zorn und seiner Wut eben nicht nachgeben dürfen. Aber sage das mal jemand einem Zwölfjährigen. Doch Remi für etwas zu bestrafen, das sein Vater getan hatte, das war definitiv falsch. Er konnte doch gar nichts dafür, war ja dadurch selbst betraft worden. Und dann eben das Furchtbare, Remi war tot. Und Antoine musste in Angst leben. Auf eine Art tat er mir leid, war er doch auch ein Opfer der Ereignisse. Auf der anderen Art verurteilte ich ihn dafür, dass er seiner Wut und seinem Zorn freien Lauf gelassen hatte. Auf jeden Fall hat mich das Buch gefesselt und es war von Anfang bis zum Ende spannend. Von mir eine Lese-/Kaufempfehlung und volle Bewertungszahl

    Liebe Grüße
    Lerchie



    _______________________
    nur wer aufgibt, hat schon verloren

  • Kurz vor Weihnachten 1999 verschwindet in Beauval, einem verschlafenen französischen Provinzdorf, der kleine Rémi spurlos. Die Suchaktion, die man startet, als klar wird, dass er wohl nicht nur beim Spielen die Zeit vergessen hat, bleibt ohne Erfolg, die Polizei hat ebenfalls keine heiße Spur. Die Sensationspresse stürzt sich auf den Fall, während abseits der Kameras in gedrückter Stimmung Weihnachten gefeiert wird.


    Besonders schlecht fühlt sich der zwölfjährige Antoine, nicht nur, weil Weihnachten mit seiner geschiedenen Mutter, einer wortkargen, überängstlichen Frau, den Zauber aus der Kindheit verloren hat, sondern weil er etwas über Rémis Verschwinden weiß, das er aber niemandem anzuvertrauen wagt.


    Er zerbricht beinahe an seiner Sprachlosigkeit und seinen Schuldgefühlen, doch dann fällt die nächste Katastrophe über Beauval her in Form zweier heftigster Orkane am zweiten Weihnachtsfeiertag. Die Ungewissheit über Rémis Schicksal tritt zunächst in den Hintergrund, während die Dorfbewohner versuchen, ihre schwer in Mitleidenschaft gezogenen Häuser wieder bewohnbar zu machen. Sämtliche Spuren, die zu Rémi führen könnten, sind nun wahrscheinlich endgültig dahin.


    Zwölf Jahre später kehrt Antoine als Student während der Ferien widerwillig nach Hause zurück und will eigentlich nur eins: fort, weit weg von dieser Enge, der Kleingeistigkeit, dem unreflektierten Festhalten an Konventionen und überkommener Tradition. Doch er muss auf die harte Tour feststellen, dass man die Vergangenheit nicht immer so einfach abstreifen kann.


    In lakonischem, manchmal schon fast kindlich wirkendem Ton erzählt Pierre Lemaitre die Geschichte eines Jungen, der durch traumatische Ereignisse noch unglücklicher wird, als er es durch die Trennung der Eltern und die erdrückende Fürsorge seiner Mutter, die stets darauf bedacht ist, nach außen hin einen gewissen Schein zu wahren, sowieso schon war.


    Eine schöne Geschichte ist das nicht, aber zumindest, was das Porträt des spießigen Kleinstadtmiefs angeht, eine relativ realistische (auch wenn alles etwas überzeichnet wird und eher an die 30er Jahre erinnert als an die Jahrtausendwende). Neid, heimliche Lästerei hinter dem Rücken der anderen, an Verleumdung grenzender Klatsch, Bigotterie und Frömmelei, kaum einer in Beauval, der sich nicht mindestens einer dieser Schwächen schuldig gemacht hat. Hinzu kommen für viele finanzielle Sorgen, als der größte Arbeitgeber im Ort Mitarbeiter entlassen muss, und Konflikte konstruktiv zu lösen, haben die meisten nie gelernt. Lieber packt man die Fäuste aus.


    Kein gutes Umfeld für einen sensiblen Jungen wie Antoine, der niemanden hat, der ihm zuhört oder, noch schlimmer, nicht einmal zu wissen scheint, dass es gut sein kann, jemandem sein Herz auszuschütten. Er quält sich mit dem, was er weiß, und mit dem Wissen, dass es seine Mutter womöglich wahrhaft umbringen würde, wenn sie es erführe, also schweigt er.


    Auch als Erwachsener verdrängt er, stürzt sich in eine stürmische Beziehung mit einer Kommilitonin, schüttet die Gedanken zu mit Sex und Studieren, bis es irgendwann nicht mehr geht. Was dann geschieht, ist seltsam passiv und schwer nachzuvollziehen und lässt den Leser niedergedrückt und ein wenig unzufrieden zurück, bis das Buch zum Schluss noch einmal mit einer Pointe aufwartet, die zwar nicht alle Fragen beantwortet, aber überrascht und das Geschehene in ein neues Licht rückt.


    Der schmale Roman ist auf eine eigene Art spannend und auch irgendwie faszinierend, obwohl keine der Figuren durchgängig sympathisch dargestellt wird. Etwas störend empfand ich die Art der (wenigen) Sexszenen, die mir zu wenig gefühlvoll und zu triebhaft wirkten, obwohl das schon zur Handlung passte. Generell ist Lemaitre ein guter Beobachter, der anhand kleiner Details Figuren zu charakterisieren oder Gefühle darzustellen vermag, was ihm für meine Begriffe jedoch beim jungen Antoine besser gelungen ist als beim erwachsenen.


    Ein düsteres Buch über ein düsteres Thema, das aber durchaus lesenswert ist, auch wenn man die meisten Protagonisten zwischendurch einmal kräftig schütteln möchte.

  • Ein 12jähriger bringt aus Schmerz und Verzweiflung unbeabsichtigt einen Sechsjährigen um. Unentdeckt geblieben verfolgt ihn diese Tat sein weiteres Dasein und bestimmt schlussendlich seinen Lebensweg.
    Diese vergleichsweise dürftige Handlung umfasst grob 250 Seiten, wobei die ersten 170 dem verhängnisvollen Unglück und den darauffolgenden drei Tagen gewidmet sind, in denen die Suche nach dem kleinen Jungen erfolgt. Überwiegend wird aus der Sicht des 12jährigen Antoine erzählt, der hin- und hergerissen ist zwischen dem Wunsch, sein Gewissen zu erleichtern und der Angst, als Mörder entlarvt zu werden und somit seiner Mutter das Herz zu brechen. Auch als Lesende erlebte ich ein Wechselbad der Gefühle: voller Empathie für den 12jährigen, dessen Handlungen ich durchaus nachvollziehen konnte. Dann die widersprüchliche Furcht, er könnte erwischt werden (denn das sollte er doch auch - oder nicht?) und immer wieder die Hoffnung, irgendwie würde Alles wieder gut werden. Pierre Lemaitre beschreibt Antoines Innenleben so detailliert und ausdrucksvoll, dass ich mit ihm fürchtete und hoffte und litt, wie beispielsweise während seiner 'Krankheit': "Die Flutwelle bildete sich tief unten im Magen und fuhr mit einem heftigen Schwall durch ihn hindurch, zermalmte ihm die Nieren und explodierte in seiner Kehle, während es ihn buchstäblich aus dem Bett riss."
    Obwohl sich dies nun nicht gerade nach einer kurzweiligen Lektüre anhört, habe ich mich beim Lesen dennoch immer wieder amüsiert. Denn stets auf's Neue blitzt ein feiner Humor auf, mit dem Lemaitre liebevoll die französische Provinz beschreibt, wie etwa kurz nachdem ein schwerer Sturm das kleine Dorf in großen Teilen zerstört hat: "In den Gärten und im Schutt der verwüsteten Häuser fand man mitunter eine Babywiege, eine Puppe, eine Brautkrone und andere kleine Dinge, die Gott taktvoll platziert zu haben schien, um zu zeigen, dass man bei Ihm alles auf einer höheren Ebene sehen muss. Der junge Pfarrer war zweifellos sehr damit beschäftigt, seinen Schäfchen im Departement zu erklären, dass das, was ihnen widerfuhr, eigentlich eine gute Sache sei - da hatte er sich was vorgenommen ...".
    Eine tragische Geschichte, die aber durchaus ihre humorvollen Seiten hat, nicht zuletzt auch durch die absolut nicht vorhersehbaren Wendungen, die sich in Antoines Erwachsenenleben noch ereignen. Und ein Buch, in dem die Schuldfrage von Beginn an eindeutig geklärt ist, was aber nicht daran hindert, dem Täter ungeteilte Sympathie entgegenzubringen.

    :study: Das Eis von Laline Paul

    :study: Der Zauberberg von Thomas Mann
    :musik: QUALITYLAND von Marc-Uwe Kling

  • :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:


    "Innerhalb weniger Minuten hat sein Leben die Richtung geändert. Er ist ein Mörder. Doch die beiden Bilder passen nicht zusammen, man kann nicht zwölf Jahre alt und ein Mörder sein."
    (Zitat)


    Ein einziger Moment der Wut. Ein Schlag, der unglücklich trifft. Schon ist ein junges Leben beendet, ein anderes wird nie wieder dasselbe sein.


    Das Lesen dieses Buches schmerzt, auch wenn der Autor sich weder zu rührseliger Effekthascherei noch Überdramatisierung hinreißen lässt. Es schmerzt, weil man die Geschehnisse durch die Augen des 12-jährigen Antoine sieht, der in jeglicher Hinsicht ein guter Junge ist: er liebt seine Mutter, der Nachbarshund ist sein allerbester Freund und er lässt es sich gutmütig gefallen, dass der 6-jährige Rémi ihm ständig hinterherläuft. Man möchte diese Unschuld bewahren und ahnt doch, dass es damit bald vorbei sein wird.


    Oder?


    Das ist eine der großen ethischen Fragen des Buches: hat seine Tat Antoine von einem Moment zum anderen zu einem bösen Menschen gemacht, unwiderruflich? Für ihn selber gibt es da gar keinen Zweifel. Seine Angst treibt ihn dazu, die Tat zu vertuschen, und dennoch sehnt er sich verzweifelt danach, erwischt zu werden. Seine innere Zerrissenheit und seine emotionale Qual sind schwer zu lesen, denn Antoine ist so furchbar allein damit und doch selber noch ein Kind.
    Kindermörder. Mörderkind.
    Das Verschwinden des kleinen Rémi mobilisiert im Dorf einiges an Hilfsbereitschaft, bringt aber auch schwelende Konflikte zum Vorschein – und diese Erschütterung des Status Quo ist erst der Anfang.


    Der Autor zeichnet seine Charaktere mit leichtem Pinselstrich und doch treffend. Am bestechendsten fand ich die Charakterisierung von Antoines Mutter, die ihrem Sohn vorlebt, dass man Konflikte am besten einfach totschweigt. Und nicht nur das: sie verbiegt sich die Wirklichkeit, bis sie zu dem passt, was sie glauben will, und das zum Teil bis ins Extrem. Da wundert es wenig, dass Antoines Lösungsstrategie hauptsächlich daraus besteht, abzuwarten und im Stillen zu erdulden.


    Antoine selber ist herzzerreißend in seiner Not, deswegen konnte ich das Buch buchstäblich nicht weglegen, ohne zu wissen, wie es nach diesen drei dramatischen Tagen mit seinem Leben weitergehen würde. Um kurz nach 3 Uhr morgens habe ich das Buch schließlich beendet, nicht nur müde, sondern auch emotional erschöpft.


    Spannend ist die Geschichte, gar keine Frage. Aber es gibt einen deutlichen Bruch zwischen den besagten drei Tagen und dem Rest von Antoines Leben, und nach diesem Bruch ist das Buch in meinen Augen deutlich schwächer als davor.


    Für mich liegt das vor allen an Antoine. Als Kind war er ein starker, wenn auch tragischer Charakter, aber ich hatte im zweiten Teil den Eindruck, dass seine Tat ihn in gewisser Weise in seiner charakterlichen Entwicklung gehemmt hat. Als Erwachsener kam er mir schwach vor, selbstsüchtig, unentschlossen, und das machte es schwer für mich, weiter so viele Emotionen in seine Geschichte zu investieren wie zuvor. Auch das Ende hatte für mich einen mehr als bitteren Beigeschmack – nicht so sehr wegen dem, was geschieht, sondern wegen dem, was stattdessen hätte geschehen sollen.


    Der Schreibstil hat mir überwiegend gut gefallen, auch wenn mir die Gedanken des 12-jährigen Antoine manchmal zu erwachsen für sein Alter schienen. Pierre Lemaitre schreibt meist ruhig, gelegentlich nüchtern, manchmal poetisch, aber er bleibt immer ganz nahe dran an seinem Protagonisten, so dass man auch aus eher schlichten Worten die Emotionen herauslesen kann.


    Fazit:
    Ein kurzer Moment der Wut führt zur Tragödie, und der 12-jährige Täter schweigt. Und schweigt. Und in diesem Schweigen verfolgt der Leser, was weiter geschieht. Pierre Lemaitre erzählt weder reißerisch noch sensationsheischend, und dennoch entwickelt die Geschichte eine dramatische Sogwirkung.


    Der erste Teil des Buches ist dicht geschrieben, wirft viele ethische Fragen auf und durchleuchtet ganz nebenher die sozialen Strukturen eines kleinen Ortes. Aber vor allem wird dieser Teil getragen von seinem überzeugenden Protagonisten, dem 12-jährigen Antoine. Der zweite Teil ist für mich deutlich schwächer, denn der erwachsene Antoine ist in gewissem Sinne nur noch ein Schatten seiner selbst.


    Zusammenfassend würde ich sagen, dass ich es auf keinen Fall bereue, das Buch gelesen zu haben, dass aber der zweite Teil nicht ganz halten kann, was der erste verspricht.

  • Verlagstext

    »Innerhalb weniger Minuten hat sein Leben die Richtung geändert. Er ist ein Mörder. Doch die beiden Bilder passen nicht zusammen, man kann nicht zwölf Jahre alt und ein Mörder sein.«

    Ende Dezember 1999 verschwindet im französischen Ort Beauval ein sechsjähriger Junge. Eine großangelegte Suchaktion wird gestartet, Nachbarn und Freunde durchkämmen den angrenzenden Wald nach Spuren des vermissten Rémi. Doch am dritten Tag fegt ein Jahrhundertsturm über das kleine Dorf hinweg und zwingt die Einwohner von Beauval zurück in ihre Häuser. Während dieser drei Tage bangt der zwölfjährige Antoine darum, entdeckt zu werden. Denn nur er weiß, was an jenem Tag wirklich geschah. Und nur er könnte davon erzählen. Mit großer Sensibilität spürt Pierre Lemaitre dem grausamen Schicksal seines jungen Protagonisten nach und stellt die Frage, wie es sich mit einer lebenslangen Schuld leben lässt.


    Inhalt

    Antoine hat sich mit Theo und seinen Freunden im Wald ein Baumhaus gebaut. Doch als einer der Jungen eine Playstation geschenkt bekommt, hocken die Jungen nur noch bei ihm und Antoine bleibt allein. Antoine steckt mit 12 Jahren wie zwischen Baum und Borke. Während sein Baumhaus noch fest in einer kindlichen Abenteuerwelt verankert ist, nimmt er bereits die körperliche Entwicklung der pubertierenden Émilie wahr. Antoine muss sich nun nicht mehr mit Theo als selbst ernanntem Anführer herumschlagen. Er beginnt ein gewaltiges Bauprojekt, in das er sogar eine Seilrolle integriert, um Odysseus hochzuziehen, den Hund der Nachbarn. Odysseus ist wie ein Gefährte für ihn, Antoine darf selbst keinen Hund halten. Als Spielkamerad bleibt ihm nur der 6-jährige Rémi, der ihm vertrauensvoll in den Wald folgt. Nachdem Monsieur Desmedt vor Antoines Augen den Hund Odysseus getötet hat, zerstört Antoine in einem gewaltigen Wutausbruch die Hütte und erschlägt im Affekt Rémi. Die Suchaktion nach dem Kleinen bleibt erfolglos; denn Antoine hat die Leiche versteckt und verschweigt, dass Rémi mit ihm im Wald war. Selbst wenn die Polizei Antoines Version der Ereignisse glauben würde, bliebe immer noch die Frage, wie ein Zwölfjähriger ohne Hilfe Erwachsener mit der Schuld weiterleben soll, dass er getötet hat.


    Die Tat und Antoines erste Lüge wirken wie ein Stein, den man ins Wasser wirft und um den sich größer werdende Kreise bilden. Diese Ringe entstehen aus der Reaktion der Mutter auf Antoines auffälliges Verhalten nach der Tat, die schwierige wirtschaftliche Situation im Dorf, falsche Verdächtigungen untereinander und die Folgen des Orkans Lothar (1999). Feuerwehr und Bürgermeister können die Suche nach Rémi nicht fortsetzen, weil sie mit den Schäden durch den Orkan ausgelastet sind. Antoines Tat scheint vorerst unentdeckt zu bleiben, doch die Erinnerung an Rémis Tod wird ihn nicht mehr loslassen. Der Junge verlässt das Dorf so bald wie möglich und kehrt erst 12 Jahre später zu einer Feier zurück. Antoine ist im letzten Studienjahr seines Medizinstudiums. Er plant, als Arzt in ein unterentwickeltes Land zu gehen und damit eine möglichst große Distanz zwischen sich und seinem Heimatdorf zu schaffen. Rein juristisch ist Mord in Frankreich nach 10 Jahren verjährt, doch für den, der niemals reinen Tisch gemacht hat, stellt sich das anders dar. Nachdem der mittlere Teil des Romans für Antoine die Vergangenheit wieder aufgewühlt hat, entwickelt der überraschende Schluss beinahe Krimi-Qualität.


    Fazit

    In einfacher Sprache lässt Pierre Lemaitre einen auktorialen Erzähler Antoines Ängsten und Alpträumen bis ins Erwachsenenalter folgen. Erschreckend fand ich von Beginn an die Zwangsläufigkeit der Ereignisse, die sich bereits ankündigen in der stoischen Art, in der Mutter und Sohn auf die Trennung vom Vater reagieren. Mit Antoines Heranwachsen und seiner Distanz zum Mikrokosmos Dorf schleicht sich jedoch zunächst eine bissige Note in den Erzählton, gefolgt von einer Prise Krimi. Der feinfühlige Einblick in die Gefühle eines Jugendlichen war für mich der stärkste Teil eines insgesamt großartigen Buches.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Weber - Bannmeilen (Paris)

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow