Gunhild Kübler (Hg.) - "Mein lieber, böser Schatz!"

  • Worum es geht
    Als sich der deutsche Anatomieprofessor Jacob Henle 1841 im Hause eines Kollegen in das Dienstmädchen Elise Egloff verliebt, steht einer Affäre zwar nichts im Weg, wohl aber einer Ehe. Die unerbittlichen Konventionen erlauben den Aufstieg eines hübschen, klugen und lebenssprühenden Nähmädchens zur Professorenfrau nicht.
    Doch Jacob Henle meint es ernst: „Mir passierte das lächerlichste, was einem Kavalier von Welt in solchem Verhältnis begegnen kann: Ich interessierte mich nicht bloß für den Körper, sondern auch für die Seele des Mädchens.“
    Der Professor wagt ein Erziehungsexperiment, in das er zunächst nur seine kinderlose Schwester Marie und deren Ehemann einweiht. Elise soll in einem Pensionat alle für eine Dame der Gesellschaft erforderlichen Fertigkeiten erlernen, um später die Pflichten einer standesgemäßen Gattin übernehmen zu können. Obwohl Elise unter der Trennung, der Einsamkeit und den hohen Erwartungen leidet, bemüht sie sich, nicht nur den Geliebten, sondern auch dessen Familie zufriedenzustellen.


    Jacob Henle (1809 – 1885), Anatom und Pathologe, war von 1840 – 1844 Professor für Anatomie in Zürich, danach in Heidelberg und Göttingen.
    Elise Egloff (1821 – 1848) wuchs als uneheliches Kind in einfachen ländlichen Verhältnissen auf. Nach einer einjährigen Ausbildung zum Nähmädchen hatte die 17-jährige für sich selber zu sorgen gelernt, und arbeitete der besseren Verdienstmöglichkeiten wegen seit einigen Jahren in Zürich. Hier lernte sie mit 20 Jahren Jacob Henle kennen.


    Die Herausgeberin Gunhild Kübler, Jahrgang 1944, ist Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin, Autorin und Journalistin.


    Jacob und Elises Geschichte inspirierte auch Schriftsteller wie Berthold Auerbach und Gottfried Keller zu literarischen Werken, doch der unmittelbarste und berührendste Zugang sind bis heute wohl die Briefe des Paares und der beteiligten Familienmitglieder.


    Wie es mir gefallen hat
    Die unglaublichsten Geschichten schreibt tatsächlich das Leben, so mein Resümee nach beendeter Lektüre, die mich anfangs eher an „My fair lady“ denken ließ als an die harte Realität. Führt man sich jedoch vor Augen, auf welch ungewisses Experiment sich die arme Elise einließ, um den Ansprüchen ihres Geliebten und seiner Familie gerecht zu werden, wird einem der Ernst der Sache sehr rasch bewusst. Sicher sind dem Professor seine ehrenwerten Absichten hoch anzurechnen, hätten doch viele andere Männer in seiner Position ganz anders gehandelt. Andererseits habe ich mich aber auch gefragt, warum eine Professorengattin vor rund 200 Jahren über eine derart hohe Bildung verfügen musste. Dem heutigen Leser dürften gewiss einige Beispiele aus der Gegenwart geläufig sein, in denen sich die schönen Ehefrauen berühmter Männer damit begnügen, ihr strahlendstes Lächeln aufzusetzen und im übrigen den Mund zu halten. Allerdings darf der vorliegende Briefwechsel nicht aus gegenwärtiger Sicht, sondern im Lichte einer längst vergangenen Epoche betrachtet werden.
    Zu Zeiten Professor Henles musste die Frau des Hauses wohl noch über ganz andere Qualitäten verfügen als heute, und sich nicht nur als perfekte Hausfrau und Gastgeberin, sondern auch als geistreiche Gesprächspartnerin auszeichnen. All diese Fähigkeiten sollte Elise einerseits in einem Pensionat mit viel jüngeren Mitschülerinnen erlernen, den letzten Schliff aber im Hause der Schwester ihres Geliebten erhalten. Aus Elises (anfangs sehr ungelenk formulierten) Briefen lassen sich im Lauf der Zeit ganz erstaunliche Anpassungsleistungen ablesen. Wie verlangt, lernt sie ihr Innenleben vor den Familienmitgliedern schriftlich auszubreiten. Von Dankbarkeit über Versagensängste und Sorgen wegen der Kosten, die sie verursacht bis zu Auflehnung und Missmut, aber auch offenherzigen Liebesgeständnissen erstreckt sich Elises Gefühlspalette. Nicht alles wirkte auf mich ungekünstelt, doch dürfte die Korrespondenz dem Zeitgeist entsprochen haben, und der Herr Professor mit den Fortschritten seiner Auserwählten zufrieden gewesen sein.
    Immer wieder faszinierte mich die enorme Anzahl von Briefen, die in jener fernen Vergangenheit unter den räumlich weit verstreut lebenden Familienangehörigen kursierten. Jedes Thema wurde intensiv diskutiert, selbst von so viel beschäftigten Männern wie Jacob Henle oder seinem Schwager Carl Mathieu. Marie verbeißt sich in die Angelegenheit manchmal über Gebühr, so mein Eindruck, und gegen Ende ist mir die gesamte Schreiberei im stets selben Tonfall auch ein wenig auf die Nerven gegangen.
    Dennoch hat mir diese Geschichte in Briefen (die es ohne weiteres mit dem "Werther" aufnehmen kann) sehr gut gefallen, ist sie doch ein wichtiges Zeitzeugnis über Umgangsformen und sozialen Zusammenhalt einer Familie des Bildungsbürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.