Mary Kubica - Falsche Tränen / Don’ t You Cry

  • Familiengrab


    Der Roman "Don' t you cry. Falsche Tränen" von Mary Kubica spielt in Chicago. Eines Nachts verschwindet die junge Studentin Esther Vaughan spurlos aus ihrem Appartement. Ihre Mitbewohnerin Quinn findet nur einen mysteriösen Brief, der vor die Frage stellt, wie gut sie die vermeintlich brave Frau wirklich kennt. Als sie dann noch erfährt, dass schon längst per Anzeige nach einer Nachmieterin für ihr Zimmer gesucht wird, bekommt sie langsam Angst. Quinn beginnt zu recherchieren: Was ist eigentlich aus dem Mädchen geworden, das vorher mit Esther zusammengewohnt hat? Je mehr sie erfährt, desto mehr bringt Quinn sich in tödliche Gefahr.


    Das Cover zieht den Blick des Betrachters magisch an. Man sieht zwei hübsche Mädchengesichter, die einander zum Verwechseln ähnlich sind. Letzten Ende unterscheiden sie sich durch die Farbe der Augen, die einmal blau und einmal braun sind. Ihr Blick hat etwas Magisches, aber auch etwas Gehetztes und Verstörendes an sich. Die Pupillen sind leicht vergrößert. Die gut geschwungenen vollen Lippen sind leicht geöffnet; man fragt sich, was diese Mädchen erlebt und gesehen haben. Insoweit weckt das Cover das Interesse des Lesers und passt perfekt zum literarischen Genre.


    Der Titel "Don' t you cry" ist raffiniert in Szene gesetzt worden. Einzelne Buchstaben werden verdreht; der Leser kann seiner Wahrnehmung nicht trauen. Auch der Untertitel "Falsche Tränen" gibt einen Hinweis, dass hier nicht alles ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint.


    Das Geschehen wird aus zwei verschiedenen Perspektiven geschildert. Im Mittelpunkt stehen die Protagonisten Quinn und Alex, die jeweils aus der Ich-Perspektive erzählen. Sie stehen nicht auf der Sonnenseite des Lebens, sondern zählen eher zu den klassischen Verlierern. Quinn leidet unter leichten Lernschwächen, ist in der Schule gescheitert und schlägt sich als Gehilfin in einer Kanzlei durch. In ihrer Familie wird sie mit ihrer begabten Schwester verglichen; deshalb ist sie glücklich, ihre Familie hinter sich lassen und in einer Wohngemeinschaft mit Esther leben zu können. Auch Alex ist in diesem Punkt angeknackst. Er hat nie ein harmonisches Familienleben kennengelernt; seine gefühlskalte Mutter hat ihn im Stich gelassen, als er noch sehr klein war, und er musste bei seinem Vater aufwachsen, der als stadtbekannter Säufer in der Kleinstadt einen zweifelhaften Ruf genießt. Aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten hätte er ein Stipendium bekommen und sein zerrüttetes Elternhaus verlassen können; aber er fühlt sich für seinen alkoholabhängigen Vater verantwortlich und kommt für dessen Verbindlichkeiten auf, indem er einen schlecht bezahlten Job in einem Restaurant angenommen hat.


    Inhaltlich wechseln sich die zwei Handlungsstränge regelmäßig ab. Quinn sucht verzweifelt nach ihrer WG-Freundin und entdeckt viele rätselhafte Spuren, die ihr Bild von Esther ins Wanken bringen und sie an ihrer Wahrnehmung zweifeln lassen. Alex wiederum lernt eine unbekannte junge Frau kennen, die ihn durch ihre merkwürdige Ausstrahlung fasziniert. Er verbringt mehr und mehr Zeit mit ihr und kommt einem düsteren (Familien-) Geheimnis auf die Spur.


    Mary
    Kubica schreibt in einem gut lesbaren Stil, und ihr Roman lässt sich flüssig lesen. Literarisch gesehen würde ich den Roman eher als ein Familiendrama sehen, aber er besitzt durchaus Elemente des klassischen
    (Psycho)-Thrillers. Der Plot ist nicht neu, aber gut durchdacht, und der Spannungsbogen wird konsequent durchgehalten. Sie spielt mit der Wahrnehmung des Lesers und legt geschickt einige falsche Fährten. Leider
    gibt es kleine stilistische Schwächen; die Autorin neigt zu Ausschmückungen und Wiederholungen, die manchmal störend wirken. Auch die Sprache der Protagonisten ist zu ähnlich; ich hätte mir feinere
    Nuancierungen in der Wortwahl gewünscht; Alex hätte sich gewählter ausdrücken müssen als Quinn.