Valérie Perrin - Die Dame mit dem blauen Koffer/Les oubliés du dimanche

  • Justine ist einundzwanzig, lebt noch bei ihren Großeltern, tanzt am Wochenende gerne im nächstgelegenen Club ab und arbeitet sonst im Altenheim eines kleinen französischen Städtchens namens Milly. Der schönste Bestandteil ihres Jobs ist für sie das Zuhören, wenn die alten Herrschaften aus ihrem Leben erzählen. Geschichten, die ihr besonders gut gefallen, schreibt sie sogar auf.


    So wie die Geschichte von Hélène, die jetzt mit über 90 im Geiste fast die ganze Zeit mit ihrem geliebten Lucien an einem sonnigen Strand liegt. Hélène, die als junge Schneiderin Lucien kennenlernte, der in ständiger Furcht lebte, wie sein Vater und sein Großvater vor ihm irgendwann zu erblinden, und schließlich mit ihm die Dorfkneipe übernahm, wo sich die halbe Stadt gerne auf ein Gläschen traf. Dieses beschauliche Leben findet ein jähes Ende, als der 2. Weltkrieg mit schwerwiegenden Folgen über Milly hereinbrach und auch für Hélène und Lucien plötzlich nichts mehr war wie zuvor.


    Während Justine aus vielen kleinen Puzzleteilchen, die sie Hélène entlocken konnte, ein trotz der provinziellen Kulisse ziemlich ungewöhnliches Lebensbild zusammensetzt, geschieht in ihrem eigenen Leben das eine oder andere, das sie dazu bringt, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Ihre Eltern hat sie früh bei einem Autounfall verloren und ist gemeinsam mit ihrem Cousin, dessen Eltern bei demselben Unglück starben, bei den Großeltern in eher einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Die Umstände des Unfalls hat sie noch nie groß hinterfragt, doch nun ist ihre Neugier geweckt, und sie beginnt, Nachforschungen anzustellen, mit überraschenden und teils auch erschreckendem Ergebnis.


    Valérie Perrins Stil ist wie der vieler moderner französischer Autor(inn)en ziemlich geradlinig, mit knappen Beschreibungen, kurzen Sätzen und schnörkellosen Dialogen, was jedoch ein gewisses surreales Element nicht ausschließt, das immer wieder zwischendurch anklingt wie etwa bei der Möwe, die Hélène anscheinend zeitlebens überallhin begleitet.


    Hélènes und Luciens Geschichte hat berührende Momente, ist spannend und in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich, mir fehlten jedoch über weite Strecken ein bisschen die ganz großen Gefühle zwischen den beiden. Erst spät nimmt man ihnen die große Liebe wirklich ab. Die Darstellung der Geschehnisse im Krieg bleibt auch eher lapidar und geht nicht sonderlich in die Tiefe. Auch da hätten die Gefühlswelten deutlicher herausgearbeitet werden können. Gut gelungen hingegen ist die Beschreibung der Kneipe und der Stammgäste, hier vermittelt die Autorin viel Stimmung und Farbe.


    Überraschenderweise sind es die familiären Verwicklungen bei Justine, die letztendlich für die meiste Spannung sorgen. Da tun sich Abgründe auf, mit denen nicht zu rechnen war, und es entspinnt sich förmlich ein kleiner, feiner Familienkrimi.


    Die kriminalistischen Elemente, die rund um einen mysteriösen Anrufer im Altenheim eingebaut wurden, überzeugen hingegen nicht und finden eine ziemlich konstruierte Auflösung. Ebenso wenig glaubwürdig ist, dass Justine nach x Treffen den Namen des Mannes immer noch nicht weiß, mit dem sie seit einigen Wochen schläft. Vielleicht ist es auch eines der Bücher, bei denen man nicht jeden Aspekt auf die Realitäts-Goldwaage legen sollte.

  • Danke, Magdalena!


    Da haben sie aus dem französischen Coverphoto einfach eine Zeichnung draus gemacht. Ob sie nicht die Rechte drauf hatten? Naja, dumme Frage, doch fällt ja ins Auge!

  • Bei den meisten Eindrücken kann ich mich direkt Magdalena anschließen; nur als gefühlsarm habe ich den Roman und seine Protas nicht empfunden. Die Gefühle liegen halt nicht so an der Oberfläche bei diesen vielen Beziehungen, in denen nicht alles (oder auch manchmal nichts) so ist, wie es scheint. Gerade, weil die Autorin einem die dicken Emotionen nicht ständig aufs Brot schmiert, haben sie mich, wenn sie dann sichtbar wurden, sehr berührt.


    Ich habe das Buch gern gelesen und viel über die alten Leute im Heim sowie über den Arbeitsalltag von Pflegekräften nachgedacht. Die allgegenwärtige Möwe hat mich immer wieder schmunzeln lassen, auch wenn einem gegen Ende des Buches durchaus das Lächeln einfrieren kann. Gestört haben mich nur einige unlogische Wendungen sowie die ständige Springerei zwischen den zeitlichen Ebenen, manchmal schon nach nur einer halben Seite Text. Daher vergebe ich :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: für dieses Buch und freue mich, dass es in mir die Lust auf eine Reise nach Burgund geweckt hat. In Taizé, nicht weit vom Schauplatz des Romans, dem Dörfchen Milly, gelegen, habe ich viele schöne und intensive Wochen verbracht, und auf den Resten der Abtei von Cluny zu wandeln, hat mich damals tief beeindruckt und mir nochmal neu das Herz für die abendländische Klostergeschichte geöffnet.


    Leider rücken sowohl die Titelübersetzung und das bearbeitete Cover (dieses Sommerkleid und der neckisch festgehaltene Hut! :roll: ) als auch der Verlagstext den Roman in eine Richtung, wo er meines Erachtens nicht hingehört, nämlich in die Ecke des leicht-seichten Sommerromans mit Sonne, Sand und Meer, einer charmanten jungen Heldin und natürlich viel Drama und Liebe. Das Cover vom TB ist sogar noch schlimmer:

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn





  • Das Taschenbuchcover ist ja schrecklich, sieht aus wie ein Groschenroman!

  • Leider rücken sowohl die Titelübersetzung und das bearbeitete Cover (dieses Sommerkleid und der neckisch festgehaltene Hut!

    Das Cover der deutschen Ausgabe ist das pure Grauen. Wie kann man nur..................:roll:

    Das französische Original ist da wirklich besser. Man kommt beim deutschen Cover direkt auf den Gedanken "seichte Kost"

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

    :study: Joseph Roth - Hiob (MLR)

  • Man kommt beim deutschen Cover direkt auf den Gedanken "seichte Kost"

    Und das hat dieses Buch wirklich nicht verdient! Gut, es ist vielleicht nicht preisverdächtig und auch keine "schwere Kost", aber einfach ein schöner Roman, der mich persönlich an vielen Stellen nachdenklich gestimmt hat.

    Auch der französische Titel passt viel besser als der deutsche. Was hat der Verlag sich dabei nur gedacht? :roll:



    Edit:

    Das Taschenbuchcover ist ja schrecklich, sieht aus wie ein Groschenroman!

    Ich sehe gerade, dass dieses entsetzliche Cover auch im Startbeitrag dieses Threads erscheint. Du hattest da ursprünglich das nicht ganz so erschröckliche, aber auch schon schlimme HC verlinkt, oder? :-k

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn





  • Du hattest da ursprünglich das nicht ganz so erschröckliche, aber auch schon schlimme HC verlinkt, oder? :-k

    Ja, das, das auch unter meinem Beitrag erscheint.

  • Ich hatte das eBook aus der Onleihe gelesen und mir anschließend das HC gebraucht gekauft. Dieses TB geht einfach gar nicht... :lol:

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn





  • Man kommt beim deutschen Cover direkt auf den Gedanken "seichte Kost"

    Und das hat dieses Buch wirklich nicht verdient! Gut, es ist vielleicht nicht preisverdächtig und auch keine "schwere Kost", aber einfach ein schöner Roman, der mich persönlich an vielen Stellen nachdenklich gestimmt hat.

    Auch der französische Titel passt viel besser als der deutsche. Was hat der Verlag sich dabei nur gedacht? :roll:

    Wir hatten neulich in unserer Bücherei einen Austausch über unsere "coups de coeur", unsere Leseleckerbissen der letzten Zeit. Und mehrere Leser sprachen ausdrücklich sehr positiv von Valérie Perrin. Und das hörte sich überhaupt nicht seicht an. Inzwischen ist ja Ende März dieses Jahres ein dritter Roman von ihr herausgekommen, "Trois". Wird wahrscheinlich bald übersetzt?

  • Auch dieser Roman von ihr klingt eigentlich ganz ansprechend, zumindest vom Setting her recht interessant. Aber schaut euch mal Titel und Cover im Original an...

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn





  • ... und dann auf Deutsch. Wieder dieser Koffer! Und die gesamte Pose. Unfassbar. :roll:


    Edit: Jetzt habe ich das Buch direkt bei der Onleihe vorgemerkt. Eine Erwähnung im 365-er-Thread als schlechtestes Cover ist ihm schonmal sicher! :lol:

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn





  • Danke, Magdalena!


    Da haben sie aus dem französischen Coverphoto einfach eine Zeichnung draus gemacht. Ob sie nicht die Rechte drauf hatten? Naja, dumme Frage, doch fällt ja ins Auge!

    Ausgeschnitten und aufgeklebt. Eine Pappfigur von hinten ...

    Die Vorlage?

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Möller - Der entmündigte Leser

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Danke, Magdalena!


    Da haben sie aus dem französischen Coverphoto einfach eine Zeichnung draus gemacht. Ob sie nicht die Rechte drauf hatten? Naja, dumme Frage, doch fällt ja ins Auge!

    Ausgeschnitten und aufgeklebt. Eine Pappfigur von hinten ...

    Die Vorlage?

    Das ist ja eine ganze Reihe mit praktisch demselben Cover, aber da scheint es wenigstens zum Inhalt der Bücher zu passen. :lol:

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Jane Austen - Stolz und Vorurteil (Reread)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn





  • Das ist ja wirklich so ein "pet peeve" von mir (wie sagt man da eigentlich am besten auf Deutsch? Lieblingsnervfaktor?) - deutsche Titel und Covergestaltung, ein Beispiel blöder als das andere.