Samuel R. Delany - Through the Valley of the Nest of Spiders

  • Neben Science Fiction, Autobiografien, literaturwissenschaftlichen Essays und Kritiken schreibt Samuel R. Delany seit vielen Jahren auch pornografische (nicht: erotische!) Romane. Through the Valley of the Nest of Spiders, sein bislang letztes fiktionales Werk, reiht sich dort ein, schlägt aber die Brücke zur Science Fiction.


    Im Jahr 2007 zieht der 16-jährige Eric Jeffers zu seiner Mutter in den kleinen Ort Diamond Harbor, Georgia. Auf dem Weg dorthin lernt er bei Gruppensex auf einem Rastplatz unter anderem Dynamite und seinen Sohn Morgan, genannt Shit, kennen. Die beiden arbeiten als Müllmänner in Diamond Harbor. Eric nimmt einen Job als Aushilfe bei ihnen an, beginnt eine Beziehung mit beiden und zieht schließlich in den The Dump genannten Stadtteil: ein vom philanthropischen Millionär Robert Kyle III gegründetes Wohnprojekt für schwule, hauptsächlich schwarze Männer, in dem die Grundbedürfnisse (Essen und Dach über dem Kopf) erfüllt sind. Das Buch folgt Eric, Shit, ihren Freunden und wechselnden Sexualpartnern über einen Zeitraum von mehr als 70 Jahren. Währenddessen verändert sich natürlich auch die Welt, allerdings fast unbemerkt von unseren Protagonisten in ihrer Utopie der sexuellen Freizügigkeit.


    Ich hatte ein wenig Angst, mit diesem Buch zu beginnen. Nicht aufgrund des Inhalts, sondern weil es so groß, so umfassend, so zeitaufwendig erschien. Es ist auch beileibe kein einfaches Buch. Wer noch nichts von Delany gelesen hat, wird nach wenigen Seiten vermutlich schreiend wegrennen und nie wieder etwas von diesem Autor in die Hand nehmen. Wer dagegen wie ich schon einige seiner Werke gelesen hat, findet hier wenig Neues. Delany nimmt Themen, die sich seit Jahren durch seine Bücher ziehen, und setzt ein Ausrufezeichen dahinter. Warum sollte man dieses Buch also lesen?


    Keine einfach zu beantwortende Frage. Das Buch ist ein Test – für den Magen, für die eigenen Moralvorstellungen, für mich vor allem ein Geduldstest. Es gibt keinen Plot im eigentlichen Sinne, dafür zahlreiche Wiederholungen. Doch wenn man genauer hinschaut, sieht man, wie sorgfältig das Buch komponiert ist. Es erzählt Erics Lebensgeschichte, die Geschichte seiner Liebe zu Shit und Dynamite, und reicht dabei von Erics erstem Sommer in Diamond Harbor bis zu seinen letzten Tagen als alter Mann. Der erste Sommer scheint Ewigkeiten zu dauern, und alles, vom Alltäglichen bis hin zum Außergewöhnlichen, bekommt eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Wir sehen Eric erwachsen werden und erleben diese Erleuchtungen, die im Erwachsenenalter so belanglos wirken, mit 16 aber weltbewegend sind. Wir sind bei all diesen alltäglichen, banalen Dingen dabei, die andere Bücher auslassen, und kommen dadurch ganz nah an die Charaktere heran.
    (In einer meiner liebsten Szenen sitzt ein von der Arbeit totmüder Eric mit seiner Mutter und ihrem neuen Freund Ron in einem schicken Restaurant. Ron versucht Eric davon zu überzeugen, den Beruf als Müllmann aufzugeben und einen “ordentlichen” Bürojob anzunehmen. Eine Szene mit großem Fremdschämpotenzial und absolut nachvollziehbar. Einen ähnlichen Wiedererkennungswert hat eine Szene ganz am Ende des Buches, als Eric von einer sehr jungen Studentin interviewt wird, die mit all der besserwisserischen Arroganz der Jugend auftritt. Die unangenehme Wahrheit: Vor 10, 12 Jahren war ich diese Studentin.)
    Die ersten drei Jahre in Diamond Harbor nehmen fast die Hälfte des Buches ein. Doch wie das so ist: Während die Jahre vergehen, scheint die Zeit immer schneller zu rennen, bis viel weniger Jahre vor einem liegen als hinter einem, und das, was hinter einem liegt, nur noch in der sehr fehlbaren Subjektivität des Gedächtnisses existiert.


    Die sorgfältige Komposition ändert nun nichts daran, dass es sich hier um Pornografie handelt. Und viele Leser werden Schwierigkeiten mit den dargestellten sexuellen Handlungen haben: Sex mit Obdachlosen, Gruppensex, S&M, offene Beziehungen, Koprophagie, Golden Showers, Zoophilie, Inzest, Pädophilie, ein Fetisch für rassistisch konnotierte Sprache: Hier findet vermutlich jeder Leser irgendetwas, was auf ihn verstörend wirkt. Meine Ekelgrenze liegt relativ hoch (beim Teilen der Zahnbürste hört es allerdings auf), was Erwachsene miteinander tun, ist mir echt egal; ich hatte immer dann Probleme, wenn Charaktere sexuelle Handlungen als einvernehmlich beschreiben, die einfach nicht, niemals, einvernehmlich sein können: Zoophilie und Sex zwischen Kindern und Erwachsenen (letzteres wird nie explizit dargestellt). Das Buch betrachtet Fragen von Einverständnis und ungleichen Machtverhältnissen durchaus aus verschiedenen Blickwinkeln. Es überlässt einen großen Teil dieser Arbeit allerdings dem Leser, und manches vereinfacht Delany zu stark.


    Through the Valley of the Nest of Spiders ist ein bewusst verstörendes Buch. Es geht hier aber nicht um Perversion zum reinen Selbstzweck. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage: Was macht ein gutes Leben aus? Es erzählt die Geschichte von Personen, deren Geschichte nie erzählt wird. Es ist geschrieben von jemandem, der eine spürbare Zuneigung zu den Menschen empfindet, zu allen Menschen; der dort nach Schönheit und Güte sucht und sie findet, wo sich andere angewidert wegdrehen. Es ist ein Buch voller Wärme, voller Mitgefühl, voller Liebe. Und das ganz aufrichtig, ohne die heute so üblichen Filter von Ironie und Zynismus. Delany ist ein ungeheuer distanzloser Autor, ohne jeden Funken Subtilität, direkter als jeder andere Schriftsteller, den ich bislang gelesen habe. Diese Distanzlosigkeit macht das Lesen aber auch zur Herausforderung, weil man Leuten nahekommt, denen man vielleicht nie nahekommen wollte.
    Ich bin kein emotionaler Leser. Ich identifiziere mich nicht mit fiktionalen Charakteren, ich fühle nicht mit ihnen mit. Warum sollte ich – sie existieren nicht. Ich analysiere Geschichten, zerlege sie in ihre erzähltechnischen Einzelteile; ich lasse mich nicht von ihnen mitreißen. Delany macht es fast unmöglich, diesen Abstand und die analytische Sichtweise beizubehalten. Und das ist manchmal schwer zu ertragen.


    Ich hatte etwas Angst davor, dieses Buch zu lesen, und ich hatte recht: Es ist groß, umfassend, zeitaufwendig. Es ist intensiv. Ist es ein gutes Buch? Vermutlich bin ich schon lange nicht mehr objektiv genug, um diese Frage zu beantworten. Es ist die ehrlichste Auseinandersetzung mit dem Erwachsenwerden und Älterwerden, die ich bisher gelesen habe, so viel kann ich sagen. Interessant wird es sein, das Buch in 35 Jahren noch einmal zu lesen und zu schauen, was mir der 2. Teil des Buches, der über das Älterwerden, dann sagt. Heute schon konnte das Buch mir sehr viel mitgeben, auf politischer, moralisch-ethischer und schlicht auf menschlicher Ebene. Es verlangt dem Leser aber auch sehr viel ab.


    Definitiv kein gefälliger Mainstream, das Gegenteil von gesitteter Unterhaltung. Aber wer durchhält, wer wagt, hinzusehen, kann etwas sehr... vielleicht nicht Schönes, aber etwas Wahres erleben.

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño

  • Danke für die rundum tolle Rezension! :applause: Bei dem einen Delany-Roman, den ich bisher gelesen habe (n meinen Taschen die Sterne wie Staub), musste ich schon in der deutschen Übersetzung (also der Sprache, in der ich am sichersten bin) aufpassen, nicht den Faden zu verlieren (gefallen hat mir der außergewöhnliche Roman dennoch). Ob ich mich da an einem fast 900 Seiten starken Delany in Originalsprache versuchen werde, ist leider sehr fraglich. Was ich bedauere, da Du mir ziemlich Lust auf den Roman gemacht hast! Vor allem wegen des Älterwerdens. :winken: Wahrscheinlich halte ich mich erst einmal an meine Wunschliste, auf die ich seinerzeit Triton gepackt hatte (der mir damals noch vor Dhalgren, Nova oder Babel-17 lesenswert erschien).

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Die Sprache in Spiders ist vollkommen anders als in Stars. Größtenteils zumindest.
    Ich glaube, In meinen Taschen die Sterne wie Staub ist das bislang akademischste Buch, was ich von Delany gelesen habe. Spiders ist viel geradliniger, nutzt aber, besonders in den Dialogen, ordinäre Alltagssprache der US-amerikanischen Südstaaten, mit sehr viel Vulgärsprache. Das macht das Lesen jetzt nicht unbedingt leichter (vor allem für Nicht-Muttersprachler oder wenn man eher britisches als amerikanisches Englisch gewöhnt ist.)
    Ich hab jetzt jedenfalls ein wenig das Gefühl, ich muss erstmal wieder "anständiges" Englisch lernen. :lol:

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    Roberto Bolaño

  • Zitat von FreakLikeMe


    Ich bin kein emotionaler Leser. Ich identifiziere mich nicht mit fiktionalen Charakteren, ich fühle nicht mit ihnen mit. Warum sollte ich – sie existieren nicht. Ich analysiere Geschichten, zerlege sie in ihre erzähltechnischen Einzelteile; ich lasse mich nicht von ihnen mitreißen. Delany macht es fast unmöglich, diesen Abstand und die analytische Sichtweise beizubehalten. Und das ist manchmal schwer zu ertragen.

    Ich bin das Gegenteil, weshalb ich mir teils sehr genau überlege, was ich - je nach Stimmung - gerade lese. Im Urlaub z.B. bin ich derart "offen" , dass Gedanken und Gefühle aus einem Buch quasi ungefiltert auf mich einströmen. Da fallen mir direkt zwei Bücher ein, die ich vor Jahren im Urlaub abbrechen musste, weil ich sonst in ein Loch gefallen wäre. Daher, wenn Du schreibst, wie schwer selbst Dir die Distanzierung fiel, hätte ich wirklich Bammel vor diesem Buch.


    Eines werde ich aber auf jeden Fall machen, mich bei wiki o.ä. über den Autor informieren, da bin ich jetzt neugierig.

  • Es ist grundsätzlich schon ein sehr lebensbejahendes, positives Buch.
    Ich musste am Ende zwar heulen, aber es hat mich nicht mit einem depressiven oder traurigen Gefühl zurückgelassen. Eher im Gegenteil.
    Nur der Weg dahin war nicht immer einfach ;)

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