Chigozie Obioma - Der dunkle Fluss / The Fishermen

  • Inhalt:
    Nigeria zu Beginn der 90er Jahre. Benjamin (aus dessen Sicht erzählt wird) und seine drei großen Brüder Ikenna, Boja und Obembe leben mit den Eltern und den beiden kleinen Geschwistern David und Nkem recht zufrieden in der christlich geprägten Stadt Akure.
    Vor allem die großen Brüder sind eine verschworene Gemeinschaft, die durch den beruflich bedingten Umzug des Vaters ins Wanken gerät.
    Die Mutter, während der Woche nun allein mit sechs Kindern, ist überfordert mit den temperamentvollen Jungs. So setzen diese sich eines Tages über das strenge Verbot der Eltern hinweg, den geheimnisumwitterten Fluss Omi - Ala zu meiden.
    Sie verbringen dort glückliche Tage beim Angeln bis eine Nachbarin sie bei der Mutter anschwärzt. Die Strafe des Vaters ist schrecklich. Zeitgleich mit der Entdeckung durch die Nachbarin hatte zudem ein stadtbekannter Verrückter den Kindern eine schreckliche Zukunft prophezeit. Diese Ereignisse graben sich immer tiefer in das Leben der Familie ein und scheinen den Fluch zur Wahrheit werden zu lassen.


    Meine Meinung:
    Vor der Lektüre hatte ich von Nigeria und seiner Geschichte keinerlei Ahnung. Das Buch regt an, sich damit auseinander zu setzen, da die politischen Ereignisse in dieser Zeit auch den Alltag der Brüder mitprägen. Der Vater, stark westlich orientiert, verabscheut die Korruption in seinem Land und möchte, dass seine Kinder Ärzte oder Anwälte und nicht Fischer werden. Das Viertel, in dem die Brüder leben, ist im Vergleich zivilisiert, sie streunen aber auch durch Straßenzüge, in denen sich Nigeria von seiner ärmsten Seite zeigt. Auch die Figur des Verrückten Abulu, ein Ausgestoßener, wird in seinem extremen Dasein sehr drastisch dargestellt. Gleichzeitig steht er (als Dreh - und Angelpunkt dieser Geschichte) noch für einen anderen Gegensatz: Für den zwischen christlichem Glauben und dem Glauben an die Naturreligionen, die Mythen des eigenen Volkes, kurz, dem, was wir (vorschnell) als Aberglauben bezeichnen würden.
    Diese Zerreissproben bringen aus Liebe Hass und aus diesem wieder Liebe hervor. Ich habe bemerkt, dass ich mit meinen westlich geprägten Moralvorstellungen und Bewertungen an Grenzen gestoßen bin und man sollte versuchen, sich auch auf eine andere Sicht der Dinge einzulassen.
    Auch sollte man sich dessen bewusst sein, dass viel Schlimmes passiert und auch so wiedergegeben wird. Ich habe es dennoch nicht als reißerisch empfunden, denn auch die positiven Erlebnisse werden intensiv und eindringlich geschildert.
    Das Buch ist sprachlich sehr schön, man könnte es schon fast rhythmisch nennen, melodisch, was u.a. daran liegen mag, dass die Kapitel so beginnen, indem sie ihre Titel aufnehmen und weiterspinnen (Zitat: "Kapitel 12: Der Spürhund. Obembe war ein ein Spürhund. Einer, der Dinge als Erster entdeckte(...)").


    Mein Fazit:
    Ein schreckliches Buch. Ein schönes Buch. Ein grausames Buch. Ein poetisches Buch.
    Kein Buch, das man weg legt und direkt mit einem neuen beginnt. Ich habe es vorgestern zu Ende gelesen und bin noch immer am Verarbeiten und Nachdenken: 5 Sterne.

  • Vielen Dank, Svanvithe: das hört sich sehr interessant an! Vielleicht gehört Nigeria derzeit zu den afrikanischen Ländern mit den überraschendsten Buchausgaben! Oft steht der Konflikt zwischen "alter Welt" und "moderner Zivilisation" im Mittelpunkt (das meine ich hier nicht wertend!), zwischen verschiedenen Welten. Dieser Kontinent, dieses Land werden uns noch überraschen!

  • Entschuldigung für die Verbuchselung! Ich war nur einen Post hochgescrollt und davon ausgegangen, dass es derselbe Autor wie die tolle Rezi von SiriNYC war. Danke @SiriNYC!

  • Verlagstext

    Benjamin und seine Brüder leben in der Nähe eines gefährlichen Flusses. Als ihr Vater die Familie verlassen muss, verstoßen sie gegen sein Verbot, sich dem Gewässer zu nähern. Die Fische, die sie dort fangen, sind Vorboten einer Tragödie. Ein faszinierendes Familiendrama und eine sprachmächtige Fabel über das Schicksal Nigerias.


    Der Autor

    Chigozie Obioma, 1986 in Nigeria geboren, studierte Englisch, Literatur und Kreatives Schreiben auf Zypern und an der University of Michigan.


    Inhalt

    Benjamin ist der zweitjüngste von fünf Brüdern; das jüngste Kind der Familie Agwu aus Nigeria ist ein Mädchen.


    Mit zwanzig Jahren Abstand zum damaligen Geschehen erzählt Benjamin von einer Verkettung dramatischer Ereignisse, die seine Familie zu einer Zeit zerstörten, als er selbst 9 Jahre alt war. Der äußere Anlass des Niedergangs war die Versetzung des Vaters in eine entfernte Großstadt. Die Mutter betreibt bis zum späten Abend einen Verkaufsstand auf dem Markt und hat sich bisher darauf verlassen können, dass ihr Ältester seine jüngeren Brüder beaufsichtigt und versorgt. Vor einem Hintergrund drohender Gefahren (im Fluss treiben Leichen und die Kinder sollen das Haus möglichst nicht verlassen) gerät u. a. durch die Abwesenheit des Vaters die Ordnung der Familie aus dem Gleichgewicht. Allein durch die Anwesenheit des Vaters war zuvor immer dafür gesorgt, dass alle Kinder ihre Pflichten erfüllten. Der 15-jährige Ikema verändert sich – für die jüngeren Kinder – in erschreckender Weise und treibt sich mit dem nächstältesten Bruder am Fluss herum, ohne dass die Mutter davon erfährt. Angesichts dieser Schlamperei und bitter enttäuscht von seinen beiden Ältesten, verprügelt der Vater seine Söhne. Er hatte sich für alle seine Kinder eine qualifizierte Ausbildung erhofft – und nun spielen sie, sie wären Fischer! Die folgenden äußerst grausamen Geschehnisse lassen sich auf das Zusammenwirken der zeitweiligen Vaterlosigkeit (symbolisch für eine ganze Gesellschaft), einer zerstörten Familienstruktur, Gewalt und Aberglauben zurückführen.


    Der Icherzähler Benjamin Agwu ragt aus der Reihe seiner Geschwister durch seinen starken Bezug zu Tieren heraus. Seine Sprache ist deshalb ungewöhnlich bildreich, wenn er wie in einer Fabel Persönlichkeiten oder Ereignisse symbolisch Tieren zuordnet (die Hoffnung als Kaulquappe, sein Bruder Obembe als Spürhund). Allein wegen der Sprache lohnt es sich, Chigozie Obioma zu lesen.


    Fazit

    Auf den ersten Blick legt Chigozie Obioma hier eine Geschichte aus dem Blickwinkel eines kleinen Jungen vor. Wer das Buch auf sich wirken lässt, findet aus dieser kindlichen Perspektive aber auch eindringlich die für Afrikas ungelöste Probleme ursächlichen Strukturen erklärt: der Zerfall der Familie (dramatisch verstärkt durch den AIDS-Tod einer ganzen Generation), Aberglaube und Gewalt. Verständnis für Strukturen, die Ausländer beim Blick auf Afrika häufig befremden, kann besonders die Figur des Vaters bewirken, dessen Motive ich aus seiner Sicht sehr plausibel finde. Chigozie Obioma zeigt die Verhältnisse schonungslos wie sie sind. Sie zur Kenntnis nehmen, ohne sie zu bewerten, ist ein erster Schritt zur sachlichen Auseinandersetzung mit dem modernen Afrika.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow