Klappentext:
Im Mai 1937 wartet ein Mann jede Nacht neben dem Fahrstuhl seiner Leningrader Wohnung darauf, dass Stalins Schergen kommen und ihn abholen. Der Mann ist der Komponist Schostakowitsch, und er wartet am Lift, um seiner Familie den Anblick seiner Verhaftung zu ersparen.
Die Gunst der Mächtigen zu erlangen, hat zwei Seiten: Stalin, der sich plötzlich für seine Musik zu interessieren scheint, verlässt noch in der Pause die Aufführung seiner Oper »Lady Macbeth von Mzensk«. Fortan ist Schostakowitsch ein zum Abschuss freigegebener Mann. Durch Glück entgeht er der Säuberung, doch was bedeutet es für einen Künstler, keine Entscheidung frei treffen zu können? In welchem Verhältnis stehen Kunst und Unterdrückung, Diktatur und Kreativität zueinander, und ist es verwerflich, wenn man sich der Macht beugt, um künstlerisch arbeiten zu können?
Im neuen Roman von Julian Barnes wird das von Repressionen geprägte Leben von Schostakowitsch in meisterhafter Knappheit dargestellt – ein großartiger Künstlerroman, der die Frage der Integrität stellt und traurige Aktualität genießt. (von der KiWi-Verlagsseite kopiert)
Zum Autor:
Julian Barnes, geboren 1946 in Leicester, England, ist einer der wichtigsten zeitgenössischen britischen Autoren. Er wuchs in London und Northwood auf. Bis 1968 studierte er am Magdalen College in Oxford Moderne Sprachen und schloss das Studium mit Auszeichnung ab. Drei Jahre lang arbeitete er als Lexikograph für das Oxford English Dictionary supplement, trat dann eine Stelle als Redakteur bei der New Review und dem New Statesman an, bevor er von 1979 bis 1986 erst als Fernsehkritiker für den New Statesman und den Observer tätig war. 1979 heiratete Barnes seine Agentin Patricia Olive Kavanagh, die 2008 den Folgen eines Gehirntumors erlag. Julian Barnes setzt sich mit dem plötzlichen Tod seiner Frau in seinem Buch Lebensstufen auseinander. Er widmet ihr den Großteil seiner Werke. Julian Barnes lebt und arbeitet in London. (von der KiWi-Verlagsseite kopiert)
Allgemeine Informationen:
Originaltitel: The Noise of Time
Erstmals erschienen 2016 bei Jonathan Cape, London
Aus dem Englischen übersetzt von Gertraude Krueger
Aus der personalen Perspektive Schostakowitschs erzählt, passagenweise als Bewusstseinsstrom
Prolog, drei Teile, Anmerkung des Autors
245 Seiten
Persönliche Meinung:
Dass Schostakowitsch ein schon zu Lebzeiten weltbekannter Komponist und Musiker war, ist für Barnes nur ein Aspekt seines Romans; wichtiger scheint ihm dessen Leben in wechselnden Diktaturen und unter verschiedenen repressiven Staatsformen zu sein. Hier steht natürlich die Frage im Mittelpunkt, ob und wie ein Mensch seine künstlerische Freiheit bewahren und für seine Berufung arbeiten kann, wenn er unter permanenter Beobachtung der Mächtigen steht und von deren Wohlwollen abhängig ist.
Die anfängliche Gunst Stalins wandelt sich bei einer Opernaufführung von „Lady Macbeth von Mzensk“, die der Diktator erbost verlässt und zu der vernichtende Kritiken in den Zeitungen erscheinen – möglicherweise von Stalin selbst verfasst. Diese Aufführung beeinflusst Schostakowitschs gesamtes Leben auch über die Stalin-Ära hinaus, denn er vollendet keine Oper mehr.
Mit diesem Ereignis setzt das Buch ein: Schostakowitsch steht Nacht für Nacht neben dem Aufzug in seinem Haus und wartet auf Stalins Schergen. Doch er entgeht den Säuberungen knapp und durch Zufall. Obwohl er in den Folgejahren mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wird, begleitet die Angst ihn weiter, denn er weiß, dass er keinen Freibrief hat. Kompositionen, die Ärger erregen könnten, hält er vor der Öffentlichkeit zurück.
Barnes stellt Schostakowitsch als einen Mann dar, der keinen Widerstand leistet, der ständig mit seiner Feigheit ringt, weil er sich in entscheidenden Situationen der Staatsräson beugt und auch gegen seinen Willen und seine Überzeugung handelt.
Gleichzeitig macht er deutlich: Niemand hat das Recht, dieses Verhalten zu beurteilen oder zu ächten. Aber die Frage drängt sich auf, wie der Leser selbst gehandelt hätte. Nicht, weil Barnes diese Frage explizit stellen würde – so plump ist er nicht -, sondern weil das Buch wie alle guten Bücher den Leser zu elementaren Fragen an sich selbst provoziert.
Obwohl der Autor, wie er im Nachwort sagt, Hilfe von der ausgewiesenen Schostakowitsch-Expertin und Biographin Elizabeth Wilson bekam und sein Mauskript von ihr gegenlesen ließ, so dass das Buch, was die Eckdaten und historischen Recherchen angeht, verifiziert ist, kann man darüber nachdenken, wie ein solcher Roman bei den Kindern des Komponisten, die beide noch leben, ankommt.
Was ich persönlich vermisse: Die Musik. Romanbiographien über Künstler sollten deren Kunst im Kopf des Lesers entstehen lassen; leider ist dieses Buch stumm.