Navid Kermani - Ungläubiges Staunen

  • Navid Kermani ist ein 1969 in Siegen geborener deutsch-iranische Schriftsteller und Publizist. Er promoviert und habilitiert im Fach Orientalistik. Für sein literarisches und akademisches Werk erhält er viele herausragende Preise:


    2011 Buber-Rosenzweig-Medaille
    2011 Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken
    2012 Heinrich-von-Kleist-Preis
    2015 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
    2016 Marion Dönhoff Preis


    Navid Kermani wird als „Brückenbauer zwischen Islam und Christentum“ und als „Versöhner zwischen den Kulturen“ bezeichnet. Martin Schulz sagt über ihn in seiner Laudatio bei der Verleihung des Marion Dönhoff Preises am 7.Dezember 2016 im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg: „In einer Zeit, in der unsere so tief gespaltenen Gesellschaften vor enormen Herausforderungen stehen und wir deshalb Brückenbauer brauchen, ragt Navid Kermani wahrlich heraus und nimmt als das, was er wirklich ist, als Versöhner und moralische Instanz, eine Sonderstellung ein.“


    Ich empfehle seine Rede zur Feierstunde „65 Jahre Grundgesetz“ 23. Mai 2014:


    https://www.youtube.com/watch?v=hj_7dZO3pSs


    und seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Oktober 2015


    https://www.youtube.com/watch?v=5_JAGn74-do




    Zum Buch:


    Navid Kermani widmet sich in vierzig Bildbeschreibungen Schlüsselwerken der christlichen Kunst. Offen und neugierig, aber auch zweifelnd nähert er sich der christlichen Bilderwelt. Gerade durch seinen muslimischen Blickwinkel gibt Kermani dem christlich orientierten Leser einen Anstoß, die Augen neu zu öffnen für die Grundlagen der eigenen Religion. Er findet wertvolle Einsichten, tiefe Wahrheiten, Gemeinsamkeiten mit dem Koran, aber auch Abstoßendes und Irritierendes. Eine gewisse Distanz zur christlichen Kunst bleibt spürbar – es sei ihm erlaubt und er bringt diesen Sachverhalt durch den Titel „Ungläubiges Staunen“ ja auch selber zum Ausdruck.


    Als Religionspädagoge habe ich mich seit meinem Studium immer wieder mir unterschiedlichen Sichtweisen und Auslegungen biblischer Geschichten beschäftigt. Unter diesem Gesichtspunkt ist dieses Buch unbedingt eine Bereicherung.

  • Die beiden genannten Reden empfehle ich unbedingt ebenfalls: eine Lehre an "Weisheit" und Offenheit. Auch das hier benannte Buch finde ich sehr interessant. Dass wir durch Kermani auf vieles gestossen werden liegt leider aber auch daran, dass unsere Ignoranz der eigenen Wurzeln so immens geworden ist, dass wir bei und mit Kermani erst wieder ins Staunen kommen. Nun, gut so! Wie Du es aber auch sagst, spürt man manchmal die bleibende Distanz (nicht dramatisch), die zB die weitergehende Interpretation nicht zuende führt, bzw eventuell kleine Sackgassen einschlägt.


    Allerdings ist es mir sehr klar, dass eine ähnliche Vorgehensweise unsererseits angesichts islamischer Glaubensschätze verschiedenster Couleur wahrscheinlich desaströs wäre, und viel weiter ab vom Schuss fallen würde.


    Faszinierend bei Kermani eine Neugier, sich wirklich auf etwas Anderes einzulassen. Sich zB einem Bild "auszusetzen": es lange und still zu betrachten. Für mich verdient das allen Respekt! So also ein Dank an Navid Kermani!

  • Ich habe das Buch gerade beendet; man kann es schlecht auf einen Rutsch lesen, es bietet sich an für tägliche kleine Portionen an "Erbauungsliteratur".


    Mein Leseeindruck:


    Kermani nähert sich dem Christentum über dessen Bilderwelt an, er wählt also einen ästhetischen Ansatz. Ein Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom brachte ihn offensichtlich in Kontakt mit der Farbenpracht der barocken Bilder der Gegenreformation, die ihn gewissermaßen zu einer geistigen Rundfahrt durch das Christentum animierten.


    Dieser ästhetische Ansatz ist ausgesprochen originell. Kermani betrachtet ausgewählte Bilder, Skulpturen und Bauwerke und nimmt sie als Ausgangspunkt für sehr subjektive Reflexionen über katholische Gebräuche, Ansichten, Riten und dergleichen. Gelegentlich geht seine Subjektivität recht weit, z. B. bei dem Bild „Tod Mariens“ von Caravaggio. Hier liegt Maria so, als wäre sie bei einem Arbeitsunfall gestorben, und diese Alltäglichkeit bewegt Kermani zu Gedanken über den (möglichen?) Tod seiner Mutter.


    Dennoch sind seine Überlegungen generell recht erfrischend, teilweise überraschend. Z. B. erkennt er völlig ungeniert sexuelle und/oder erotische Anspielungen in den Heiligendarstellungen. Wieso er allerdings die evangelischen Kirchentage als „unerotisch“ bezeichnet, weiß ich nicht, aber diese Aussage zeigt seine subjektive Sichtweise. Und auch sonst geht er ungeniert zu Werke, und gerade durch seine neugierige und unvoreingenommene Herangehensweise kann er die Lebensnähe der Werke (daher wohl auch seine deutliche Vorliebe für Werke von Caravaggio), auf ihre Darstellung der alltäglichen Lebenswelt und menschlicher Grunderfahrungen herausarbeiten.

    Faszinierend bei Kermani eine Neugier, sich wirklich auf etwas Anderes einzulassen

    Das sehe ich auch so. Allerdings wurde Kermani in Deutschland sozialisiert, so dass das Christentum für ihn vielleicht nicht so das ganze Andere war?


    Interessant fand ich, dass er das meiner Meinung nach wesentliche, direkt revolutionäre Element des Christentums auf dem Umweg über die Kunst erkennt: die caritas, die Sorge für den Mitmenschen, egal ob Freund oder Feind.

    Nicht immer ist Kermani jedoch fasziniert vom Christentum. Es finden sich auch deutliche Stellen, wo er sich distanziert, z. B. bei der Kreuzesthematik. Und es finden sich sehr versöhnliche Stellen am Schluss des Buches: seine Ausführungen zu Franziskus von Assisi, in der er dessen Liebe zum Islam hervorhebt.


    Man muss allerdings sagen, dass diese ästhetische Annäherung das Christentum sicher nicht zur Gänze erfassen kann.

    Das scheint mir jedoch auch nicht in der Absicht des Verfassers zu liegen, ebenso wie es nicht seine Absicht zu sein scheint, dem Leser einen kunsthistorischen Erkenntniszuwachs zu vermitteln.

    Hatte er überhaupt eine Absicht…?


    Fazit: ein sehr subjektives, originelles Buch, das Glauben mit Leben erfüllen kann.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Mir gefiel Kermanis Neugier und sein subjektiver Blick auf die Kunstwerke. Seine Beschreibungen, wie die Bilder auf ihn wirken, fand ich nicht nur unterhaltsam, sondern äusserst informativ. Tatsächlich merkte ich, dass Kermani deutlich mehr über das Christentum und die Geschichte der Kunstwerke weiss, beziehungsweise vermutlich ordentlich für den Beitrag recherchiert hat, aber ich konnte durch die Lektüre auch dazu lernen. Nicht nur über die Geschichte, Symbolik, Künster, usw selbst, sondern unvoreingenommen und aufgeschlossen die Welt umher zu betrachten.


    Empfehlenswert, nicht nur als "tägliche Portion an Erbauungsliteratur", sondern generell für unvoreingenommene Menschen, die den Blick "von aussen" schätzen, die vielseitig interessiert sind, die möglicherweise auch Navid Kermani sympathisch finden, bzw ihn als Person wahrnehmen, der "etwas Gehaltvolles" zu sagen hat.


    Daher auch danke für die beiden Links im ersten Beitrag, die erfreulicherweise noch immer funktionieren. Gerne habe ich mir diese Reden angehört.