Ich lese derzeit "Die Frau in Weiß" von Wilkie Collins. Der Wälzer (rund 900 Seiten) lag seit Langem auf dem SUB, aber jetzt möchte ich mich für die bevorstehende Dickens-Leserunde schon mal in Stimmung bringen und in die viktorianische Zeit eintauchen. Collins war übrigens nicht nur ein Zeitgenosse von Charles Dickens, die Beiden waren auch gut befreundet, und schrieben gemeinsam Texte.
Die Lektüre erinnert mich in vielerlei Hinsicht an "Bleak House", nicht nur wegen meines erneuten Griffs zum Fischer Klassik-Taschenbuch, worüber ich mich wegen der hauchdünnen Seiten ärgere. Immerhin scheint es aber eine ungekürzte Fassung zu sein, was mir wichtiger ist. Und auch Arno Schmidts Übersetzung gilt nach etwas Internetrecherche noch als die gelungenste.
Unglücklich, ja sogar ziemlich ärgerlich, finde ich in dem ansonsten angenehm zu lesenden Text einzelne Worte wie "Atmosfäre", "hülfsbereit", "Gärtnergehülfe", "Neubegier",... War das 1953, als Arno Schmidt das Werk übersetzt hat, modern, oder wollte er seinen Formulierungen doch noch einen Hauch "Altertum" mitgeben?
Der Aufbau des Buches ist schon mal interessant: die Erzählweise ist verschachtelt, es gibt Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Perspektivenwechsel durch unterschiedliche Augenzeugenberichte, usw. im Grunde möchte die Rahmenhandlung den Eindruck einer objektiven Berichterstattung wecken, etwa so als gäbe es eine Gerichtsverhandlung, um diesen mysteriösen Fall als realen Vorfall aussehen zu lassen.
Die ersten 170 Seiten, den Bericht von Walter Hartright, habe ich nun gelesen, die nächsten 400 Seiten werden von anderen Personen geschildert, wenn ich das Inhaltsverzeichnis richtig verstehe.
Ich kann aber jetzt schon mal sagen, dass Collins, ähnlich wie Dickens, es schafft soziale Kritik in unterhaltsamer Weise anzubringen. Nicht nur, dass die Frau in Weiss schon zu Beginn Angst vor Personen von Adel hat (sie atmet erstmal durch, als sie erfährt, dass Walter "kein Mann von Rang und Namen" ist: "Gott sei Dank! Dem kann ich trauen") Es gibt auch ein paar sehr bemerkenswerte Charaktere in der Erzählung, bspw die Gouvernante, die "im Besitz sämtlicher Kardinalstugenden, ausserdem jedoch für nichts zu rechnen sei".
Zitat von Wilkie CollinsRuhiges Genießen eines ruhigen Daseins sonnenscheinte aus dem verschlafenen Lächeln ihres vollen milden Antlitzes. Manche von uns stürmen durch das Leben, und manche trödeln hindurch - Frau Vesey saß durchs Leben... Die Natur hat ja so viel in dieser Welt zu tun, und immerfort eine so große Anzahl gleichzeitig-existierender Wesen zu erzeugen, daß sie ohne Zweifel dann und wann einmal, in der Hitze des Gefechts, sich verheddert, und vorübergehend zwischen den vielen parallel-laufenden Schöpfungsvorgängen nicht mehr scharf genug unterscheidet. Diese Theorie einmal vorausgesetzt, wird es stets meine private Überzeugung bleiben, daß die Natur gerade völlig in die Erfindung neuer Kohlsorten vertieft war, als Frau Vesey entstand; und daß die gute Dame folglich zeitlebens an den Konsequenzen solcher vegetabilischen Belustigungen von Unser Aller Mutter zu laborieren hatte. (s. 64 f.)
Die träge Gouvernante, der selbstbezogene Mr Fairlie mit den angespannten Nerven, die zarte Laura, der böse Baron... alles extrem überzeichnete Personen, die mich an die ebenfalls arg Schwarz-Weiss beschriebenen Charaktere aus "Bleak House" erinnern.
Auch wenn die nächtliche Begegnung mit der "Frau in Weiss" einer geisterhaften Erscheinung ähneln soll, und ein paar mysteriöse Komponenten und detektivische Ermittlungen das Gerüst der Handlung bestimmen, ist die Geschichte nach 170 Seiten noch deutlich im Aufbau und die Personenbeschreibungen, gesellschaftlichen Zustände und Kritik am bestehenden System machen die Lektüre bisher aus.
"Bleak House" war eines meiner Jahreshighlights in 2016 und ich beneide jeden, der die erstmalige Lektüre des Romans noch vor sich hat. Mit Wilkie Collins "Die Frau in Weiss" scheine ich aber eine ähnlich spannende, kritische, humorvolle und prägende Erzählung vor mir zu haben.