Anne Jacobs - Das Erbe der Tuchvilla

  • 1923 Augsburg. Nachdem der 1. Weltkrieg vorbei ist, kehrt langsam wieder Normalität in den Alltag ein. Paul Melzer teilt sich mit seinem Freund Klippstein die Führung der Tuchfabrik, nachdem vorher seine Frau Marie die Firma geführt hat, während Paul im Krieg war. Familie Melzer geht es gut, die Auftragslage ist nicht schlecht, während viele andere Menschen immer noch damit zu kämpfen haben, ihr Auskommen zu sichern. Paul richtet Marie ein Modeatelier ein, welches von Beginn an ein großer Erfolg wird. Leider hat sie dadurch nicht mehr so viel Zeit für ihre Kinder Dodo und Leo. So zieht mit Serafina von Dobern, eine alte Freundin von Pauls Schwester Elisabeth, eine Gouvernante in die Tuchvilla, um sich um die Kinder zu kümmern und auch Alicia, der Patronin des Hauses, beizustehen. Doch bald schon wird klar, dass mit dieser Gouvernante nicht zu spaßen ist und diese eigene Vorstellungen von der Kindererziehung hat. So packt erst Kitty mit ihrer Tochter Henny die Sachen und verlässt das Elternhaus, um bei ihrer Schwiegermutter einzuziehen. Aber schon kurz danach entflieht auch Marie mit Dodo und Leo der Villa und zieht bei Kitty mit ein. Auch zwischen Paul und Marie kommt es zu einem großen Streit, die beiden leben sich immer mehr auseinander, aber keiner ist bereit, Kompromisse zu machen. Es wird einsam in der Villa, bis endlich Elisabeth aus Pommern zurückkehrt, schwanger und ohne ihren Ehemann. Wird das Leben in die Tuchvilla zurückkehren und die Streitigkeiten endlich beigelegt?


    Anne Jacobs hat mit „Das Erbe der Tuchvilla“ ihren Abschlussband der Tuchvilla-Trilogie vorgelegt, der den beiden Vorgängern in nichts nachsteht. Der Schreibstil ist wunderbar flüssig, schnell findet sich der Leser in der Melzer-Villa wieder zurecht und fungiert als stiller Beobachter beim Leben und Treiben des Melzer-Haushaltes. Die Beschreibungen der damaligen gesellschaftlichen und politischen Hintergründe und die bildhaften Darstellungen der zeitgemäßen Mode verschmelzen mit der fiktiven Handlung der Protagonisten und lassen den Leser an einer längst vergangenen Zeit teilhaben. Ebenfalls wird das Leben in einem wohlhabenden Mehrgenerationenhaus wunderbar von der Autorin dargestellt, zu dem auch der Dienstbotentrakt gehört und zeigt so auf, welch unterschiedliche Welten in solch einem Haushalt aufeinander treffen. Dabei sind die Geschichten der fleißigen Hausangestellten mindestens ebenso interessant wie die der hohen Herrschaften. Am Ende sind die Probleme beider Gesellschaftsschichten gar nicht so unterschiedlich, wenn sich auch die wohlhabende Familie weniger Sorgen um Essen oder Geld machen muss.


    Die Charaktere sind sehr liebevoll ausgestaltet und wirken sehr authentisch und lebendig. Auch hier finden sich sympathische und intrigante Personen wie im normalen Leben wieder. Paul ist ein recht netter Mann, der allerdings bei seiner Frau immer öfter ins Fettnäpfchen tritt und somit einen Streit vom Zaun bricht, der ihn fast um seine Familie bringt. Marie lebt mit ihrem Atelier zwar endlich ihren Traum, dabei hat sie aber immer weniger Zeit für ihre Familie, vor allem für ihre Kinder. Dodo und Leo sind zwar Zwillinge, aber die Interessen der beiden sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Leo lebt für die Musik und ist ein regelrechtes Wunderkind. Dodo dagegen interessiert sich für ein Mädchen untypisch für alles Technische, vor allem fürs Fliegen. Kitty ist die quirlige, etwas überspannte Schwester von Paul, die immer vorprescht und ihren eigenen Kopf hat. Elisabeth dagegen ist die snobistisch veranlagte unter den Melzer-Geschwistern, die sich ein armes Leben nicht vorstellen kann, aber ausgerechnet in einen Lehrer verliebt ist. Serafina ist eine falsche und intrigante Frau, die es versteht, einen Keil in die Familie zu treiben und versucht, sich unentbehrlich zu machen. Auch die Dienstboten sind sehr vielfältig ausgearbeitet und ohne sie wäre die Handlung nur halb so spannend.


    "Das Erbe der Tuchvilla“ ist ein sehr unterhaltsamer und lebendiger historischer Roman aus der Zeit des 19. Jahrhunderts. Anne Jacobs ist ein sehr schöner Einblick in eine Fabrikantenfamilie gelungen, der fasziniert und die Geschichte der vergangenen Zeit wieder aufleben lässt. Allerdings sollte man alle Bände der Reihe nach lesen, um dem Familienleben und allen Protagonisten folgen zu können. Alle Liebhaber von Familiengeschichten werden mit der Tuchvilla-Trilogie ihre Freude haben. Wunderbare Unterhaltung!


    Sehr schöne :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: .

    Bücher sind Träume, die in Gedanken wahr werden. (von mir)


    "Wissen ist begrenzt, Fantasie aber umfasst die ganze Welt."
    Albert Einstein


    "Bleibe Du selbst, die anderen sind schon vergeben!"
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    gelesene Bücher 2020: 432 / 169960 Seiten

  • Die Fabrikantenfamilie Melzer hat den Umbruch nach dem 1. Weltkrieg einigermaßen heil überstanden, die Schrecken der schlimmen Kriegsjahre beginnen zu verblassen. Paul ist vom Kriegseinsatz wohlbehalten zurückgekehrt, und mit der Tuchfabrik geht es unter seiner Leitung stetig aufwärts.

    Anstatt sich daran zu erfreuen, dass die schweren Jahre endlich vorüber sind, gerät seine Ehe mit Marie aus nichtigem Anlass in eine schwere Krise.


    Im Jahre 1923 trifft der Leser in Augsburg wieder auf die aus den Vorgängerbänden bestens bekannte Familie Melzer. Voller Freude bin ich auch im 3. Band ins turbulente Leben in der Tuchvilla eingetaucht.

    Die Autorin versteht es ganz hervorragend die Geschichte eines vornehmen Haushalts in die beginnende Moderne einzubetten. Junge Frauen lassen sich nicht nur die alten Zöpfe abschneiden, sondern haben auch noch höchst eigenwillige Ideen in ihren Köpfen, lernen Autofahren, wollen studieren und sich in bisher männlichen Domänen profilieren.

    Künstlerische Begabungen sowohl in der Musik als auch in der Malerei spielen in diesem äußerst lebendig und unterhaltsam erzählten Roman eine wichtige Rolle.

    Sehr gerne habe ich auch wieder am Leben der Dienerschaft teilgenommen. Einige frühere Angestellte haben die Tuchvilla verlassen und neue sind hinzugekommen. Deren Charakteristika hat Anne Jacobs auch diesmal hervorragend ausgearbeitet, und die Personen individuell und originell gestaltet. Keine Figur gleicht der anderen, alle sind unverwechselbare Persönlichkeiten.

    Besonders amüsant fand ich die Szenen mit den Kindern der Großfamilie, die die Autorin ihren Lesern sehr warmherzig und realistisch vor Augen führt. Beinahe meint man Leos, Dodos und Hennys Stimmen zu hören, wenn sie auf flinken Füßen durch die Villa toben, und trotz aller Lebhaftigkeit stets um gutes Benehmen bemüht sind.

    Mir hat dieser Roman sowohl inhaltlich als auch sprachlich ganz außerordentlich gut gefallen, vielleicht sogar noch eine Spur besser als die beiden vorhergehenden Bände.

  • Der dritte Teil der Tuchvilla-Saga hat mir bisher am wenigsten gefallen, da ich die Geschichte inhaltlich recht schwach finde.

    Marie und Paul Melzer befinden sich in einer Ehekrise, die mir sehr inszeniert und zeitlich nicht passend vorkam. Zu Beginn der 1920er Jahre überwogen bei einem Fabriksbesitzer sicher andere Sorgen als die im Roman geschilderten Pseudoprobleme mit seiner Angetrauten.

    Selbst die Charaktereigenschaften und Interessen der beiden Melzer-Kinder sind mir zu einseitig gezeichnet. Ihre Talente treten für meinen Geschmack etwas zu offensichtlich zutage, wodurch deren Lebensweg allzu deutlich vorgezeichnet erscheint.

    Pauls Schwester Kitty ist mit ihrer exaltierten Art ebenfalls nur schwer erträglich. In den ersten beiden Bänden konnte man ihr überspanntes Verhalten noch ihrer Jugend zuschreiben, mittlerweile finde ich sie nur noch albern und gekünstelt.

    Am besten hat mir das Leben und Treiben der Bediensteten gefallen, von denen man die meisten bereits aus den Vorgängerbänden kennt. Sie sind in ihrer Alltags- und Arbeitswelt sehr treffend dargestellt und sorgen mit ihren Äußerungen und Handlungen für manche Situationskomik.

    Da mir die beiden ersten Teile recht gut gefallen haben, und es weitere gibt, will ich wegen eines mittelmäßigen Buches den Stab nicht brechen, sondern hoffen, dass die Autorin in den Folgebänden zur alten Form zurückgefunden hat.

    Liebe Grüße von Lorraine :)


    "Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen." (Karl Kraus) :study: