Genly Ai ist ein menschlicher Botschafter auf dem Planeten Gethen, der aufgrund seines unwirtlichen Klimas auch Winter genannt wird. Ai soll die Bewohner des Planeten davon überzeugen, der weltenumspannenden Ökumene (Ekumen) beizutreten. Die Gethener (Gethenier? Ich weiß nicht, wie sie im Deutschen heißen) unterscheiden sich in einigen Dingen maßgeblich von den Menschen: Ihr auffälligstes Merkmal ist wohl, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens geschlechtslos verbringen und nur zu bestimmten Paarungszeiten, kemmer genannt, das männliche oder weibliche Geschlecht annehmen.
Nicht alle Gethener sind von der Idee des Ekumen überzeugt – oder glauben gar, dass es sich bei Genly Ai tatsächlich um einen Abgesandten einer anderen Welt handelt. Nach einigen politischen Intrigen findet sich Ai mit dem Gethener Estraven in der Eiswüste wieder...
The Left Hand of Darkness erschien 1969 im Original, in Deutschland kam das Buch zunächst unter dem Titel Der Winterplanet, dann als Die linke Hand der Dunkelheit heraus. Der zum Hainish-Zyklus gehörende Roman ist eine der bekanntesten Science Fiction-Geschichten von Le Guin und gewann 1970 sowohl den Hugo als auch den Nebula Award.
Ursula K. Le Guin präsentiert hier zum einen ein „Gedankenexperiment“, wie sie ihren Roman im Vorwort selbst bezeichnet, zum anderen anthropologische Science Fiction. Das bedeutet: Es geht hier weniger um eine actionreiche, spannende Handlung, als vielmehr um die Betrachtung einer fremdartigen Kultur, die bei genauerem Hinsehen der unseren gar nicht so fremd ist. Zu diesem Zweck kombiniert Le Guin den „Bericht“ des Botschafters Genly Ai mit Tagebucheinträgen Estravens und vermeintlichen Sagen und Märchen vom Planeten Gethen.
Tatsächlich beschreibt Le Guin sogar zwei Gesellschaften: das von formalen Verhaltensregeln bestimmte Königreich Karhide und das auf den ersten Blick als rationale Demokratie erscheinende Orgoreyn (das natürlich keine Demokratie ist).
Wie oben gesagt, unterscheiden sich die Bewohner Gethens in Verhalten, Gewohnheiten und Regeln auf den ersten Blick stark von den Menschen. Ihre „Ambisexualität“ ist dabei nur eine, wenn auch die vermutlich auffälligste, Abweichung. Der Leser betrachtet Gethen und seine Bewohner hauptsächlich durch die Augen Genly Ais. Und dem fällt es gar nicht so leicht, sich auf diese andere Kultur einzulassen. Seine Vorurteile, seine Unfähigkeit, andere Blickwinkel einzunehmen und sich in diese andere Kultur hineinzudenken, bestimmen das Buch. Aus diesem Spannungsverhältnis bezieht der Roman einen großen Teil seiner Faszination. Darüber hinaus hat mir die Struktur dieser anthropologischen Science Fiction sehr gefallen, die einen wunderbaren Einblick in diesen fremden-doch nicht so fremden Planeten bietet. Noch ein wenig mehr hat es mir Le Guins Schreibweise angetan: geradeaus, angenehm unsentimental und gerade deswegen so eindringlich.
Das Buch wird häufig der feministischen Science Fiction zugerechnet. Ich finde, das wird ihm nicht ganz gerecht, greift etwas zu kurz. Wie die Abwesenheit von Geschlechterrollen eine Kultur formt, ist ein Aspekt dieses Buches. Daneben behandelt Le Guin aber noch zahlreiche andere politische, soziale und nicht zuletzt philosophisch-religiöse Fragestellungen. Und das ist ganz und gar nicht so trocken, wie es jetzt vielleicht klingt!
Aus der feministischen Leseweise heraus hat Le Guin auch einiges an Kritik geerntet, unter anderem, da sie die geschlechtslosen bzw. ambisexuellen Gethener ausschließlich mit männlichen Pronomen bezeichnet. Aus Genly Ais Sicht ergibt das Sinn, ob das aber tatsächlich so klug war, fragt Le Guin sich in einem später geschriebenen Nachwort selbst. Andere Kritiker (Stanislaw Lem, Joanna Russ) bemängeln auch, dass die Bewohner Gethens weibliche Charakterzüge und Verhaltensweisen vermissen ließen. Nun ja, um sich dieser Kritik anzuschließen, muss man erst mal glauben, dass es inhärent „weibliche“ und „männliche“ Charakterzüge und Verhaltensweisen gibt...
Jedenfalls bietet Die linke Hand der Dunkelheit viel Interpretationsspielraum und Stoff zum Nachdenken. Wer sich jetzt nicht auf die feministisch-genderpolitische Ebene begeben möchte (verständlich!), der kann einfach einen wunderbar geschriebenen Roman über eine faszinierende Welt lesen. Nur große Action sollte man nicht erwarten.