Ian McEwan - Nussschale / Nut Shell

  • Klappentext:
    Eine klassische Konstellation: der Vater, die Mutter und der Liebhaber. Und das Kind, vor dessen Augen sich das Drama entfaltet. Aber so, wie Ian McEwan sie erzählt, hat man diese elementare Geschichte noch nie gehört. Verblüffend, verstörend, fesselnd, philosophisch – eine literarische Tour de force von einem der größten Erzähler englischer Sprache.
    Trudy betrügt ihren Ehemann. Sie wohnt nach wie vor in seinem Haus – einem heruntergekommenen Einfamilienhaus in London, das ein Vermögen wert ist –, aber ohne ihren Gatten, den Dichter und Verleger John. Stattdessen geht dort sein Bruder ein und aus, der zutiefst banale Bauunternehmer Claude. Trudy und Claude haben einen Plan. Doch ihre Intrige hat einen Zeugen: das wissbegierige, knapp neun Monate alte, ungeborene Kind in Trudys Bauch.
    Von List und Leidenschaft, Verrat und Mord – ein atemberaubendes Drama, erzählt aus einer der ungewöhnlichsten Perspektiven der zeitgenössischen Literatur.
    (von der Diogenes-Verlagsseite kopiert)


    Zum Autor:
    Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er für ›Amsterdam‹ den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung für das Gesamtwerk. Sein Roman ›Abbitte‹ wurde zum Weltbestseller und mit Keira Knightley verfilmt. Er ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences. (von der Diogenes-Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: Nutshell
    Erstmals erschienen 2016 bei Jonathan Cape, London
    Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben
    Erzählt aus der Ich-Perspektive des ungeborenen Kindes
    20 Kapitel, Zitat-Nachweis
    274 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Ein Paar namens Gertrude und Claudius – kennt man das nicht?
    McEwan bedient sich bei Shakespeare, variiert dessen „Hamlet“ und verlegt ihn ins heutige London.


    Entgegen aller Unkenrufe, dass die Möglichkeiten der Literatur ausgeschöpft wären, weil ja alles schon einmal da war, schafft McEwan eine in dieser Form noch nie dagewesene Erzählperspektive: Er erzählt aus der Sicht eines Fötus im letzten Schwangerschaftsmonat. Es ist ein Junge, und er ist schon vor der Geburt mit allen Wassern gewaschen.


    Im Augenblick beengt, weil ihm die mütterliche Gebärmutter allmählich zu klein wird, gilt sein Interesse allem, was draußen passiert: Welche Pläne und Ränke seine Mutter und ihr Liebhaber schmieden. Wie sein leiblicher Vater abserviert wird. In welche Umgebung er hineingeboren wird.
    Doch sein Blick geht weiter, er kommentiert das politische Geschehen – weil seine Mutter Radio und Podcasts hört und fernsieht, ist er über die wichtigsten Ereignisse bestens informiert – hängt philosophischen und banalen Gedanken nach und gibt zwischen klugen Sprüchen Binsenwahrheiten zum besten.
    (In den Bemerkungen zum Weltgeschehen ist unschwer die Stimme des Autors selbst zu hören.)


    Trudy und Claude sind unsympathische Zeitgenossen, der leibliche Vater John ein bemitleidenswerter Spinner – mehr geben die Charakterisierungen nicht her.


    In seinen Gefühlen zur Mutter schwankt der Erzähler, gleicht darin einem pubertären Jugendlichen; ihren Liebhaber, dem er viel zu oft in Gestalt von dessen Penis begegnet, verabscheut er; seinem leiblichen Vater ist er zunächst zugetan, bis er feststellt: Keiner dieser drei freut sich wirklich auf ihn oder bereitet sich auf sein Kommen vor.


    Einen Protagonisten wie diesen zu erschaffen und durch ihn einen Roman tragen zu lassen, ist ein waghalsiges Unterfangen, das schnell schief gehen kann.
    McEwans Konzept geht auf, weil er dicker als dick aufträgt, den Ungeborenen bis zum Weinkenner treibt, der Rebsorten unterscheiden kann (die Mutter trinkt ohne Rücksicht auf ihre Schwangerschaft), und als Literaturexperten auftreten lässt.
    Man liest mit Vergnügen, und die Fragen nach Glaubwürdigkeit, Plausibilität und Redlichkeit kann man getrost auf der Strecke lassen.
    Der Gefahr, dass sein Roman zur Posse abgleitet, entgeht McEwan, indem er sachte die tragischen Momente des Protagonisten einflicht, die Furcht vor der Zukunft, die Gleichgültigkeit seiner Familie, sowie deren Missgunst, Rohheit und Vertuschung.


    Wieder hat McEwan den Beweis erbracht, dass er nicht umsonst zu den interessantesten Schriftstellern unserer Zeit gehört.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Danke für die tolle Rezi @Marie :applause: Ich gehe davon aus, dass Du auch Updikes Buch zur Hamlet-Variante kennst, aber vielleicht interessiert es ja jemand anderen

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Joseph Roth - Hiob

    :study: Mike Dash - Tulpenwahn


  • Das Buch klingt irgendwie gruselig und interessant zugleich :shock:

    Und gugg auf den Autor !! Na, klingelts ? :loool: Der war doch imho mit dabei bei dem Genannten letztens, was die Kunden wollten. :wink:


    Das Buch selbst wäre wohl eher nichts für mich. Aber danke für die Rezi @Marie, Deine Rezis lese ich immer sehr gern. :thumleft:

  • Ian McEwan hat mich schon mehrmals positiv überrascht. Meistens, wenn ich ein Buch von ihm beginne, dann nur deshalb weil ich nicht so recht weiß, was ich lesen soll. Dann: @Marie hats gefallen, das ist ja schon ein guter Ansatz. :wink: Und jedes Mal wieder überzeugt er mich auf den ersten Seiten völlig und überrascht mich mit seinem genialen Stil, seinen ausgereiften Protagonisten und der großartigen Geschichte. Also: Buch wandert auf Wunschliste.


    Danke für´s Vorstellen, liebe Marie!

  • Ian McEwan - Nussschale


    „So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau.“

    Die Erzählperspektive ist mehr als merkwürdig: ein Embryo erzählt die Geschichte seiner Eltern und kommentiert die Weltgeschichte.

    Natürlich kann diese Perspektive nicht schlüssig durchgehalten werden. Er erzählt Dinge, die er aufgrund seiner Guckkasten-Perspektive

    nicht wahrnehmen kann, und er erzählt Dinge, die er als Embryo nicht wissen kann. Zum Beispiel entwickelt er sich zum Weinkenner und

    räsonniert über den Anflug von Veilchen und Tanninen, [der]an den trägen, milden, von Hitzewellen unbehelligten Sommer des Jahres 2005 erinnert, auch wenn ein irritierender, entfernterer Geschmack nach Mokka sowie ein etwas näher liegender Hauch von überreifer, schwarzer Banane an das Jahr 2009 … denken lassen.“

    Und wieso kann er vorgeburtlich so wunderbar formulieren? Wenn ich es doch nachgeburtlich mal nicht so schön kann?

    Die Sexszenen fand ich zunächst recht originell, dann aber wegen der ständigen Wiederholungen ihrer animalischen Art eher abstoßend und überflüssig.


    Fazit: Das fand ich alles zwar sehr phantasievoll, aber auch sehr merkwürdig und unvernünftig – bis auf einmal der Groschen fiel.

    Ich gebe es gerne zu: da war ich nicht die Schnellste:pale:.


    Natürlich! Shakespeare! Steht ja schon im Vorwort! Und beim zweiten Lesen – 274 Seiten - wurde es licht in meinem Kopf. Ein

    vorgeburtlicher Hamlet erzählt die Geschichte seiner Eltern. Sein Vater, der Dichter, seine Mutter Gertrude wird zu Trudy, und

    Shakespeares Claudius wird zu Claude.

    Und jetzt passt alles. Das Mordkomplott. Das Gift. Das Schwanken des Ungeborenen zwischen Liebe zur Mutter und Rachegelüsten

    für den Tod seines Vaters. Die Geist-Erscheinung seines Vaters, umstilisiert zur Halloween-Phantasie. Aus dem Königreich Dänemark

    wird hier ein millionenschweres Immobilienobjekt in London, und auch „Sein und Nichtsein“ fehlt nicht.


    Es geht dem Autor nicht um Glaubwürdigkeit.

    Er jongliert souverän mit literarischen Versatzstücken: Ulysses wird zitiert, Hamlet natürlich, John Keats etc., und vor allem

    Herbstgesang von Auden. McEwan lässt den Ungeborenen philosophieren und über zeitgeschichtliche Phänomene wie das

    Auseinanderbrechen der EU etc. politisieren. Es macht ihm offensichtlich Spaß, dem (wehrlosen) Embryo seine eigene

    negative, bittere Weltsicht in den Mund zu legen.

    Das Buch endet mit einer Anspielung auf das Ende von Hamlets Monolog: „Der Rest ist Chaos.“ So sieht wohl nicht nur der intrauterine Hamlet die

    Welt ....


    Ein kunstvolles, intellektuelles kleines Buch. Chapeau, Herr McEwan!


    Aber so richtig gepackt hat es mich nicht.











    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Vor ein paar Jahren hatte mich McEwan mal so richtig gepackt und ich habe verschiedene Bücher von ihm verschlungen. Dann war ich nach "Am Strand" doch nachhaltig verstört und für einige Zeit abgeschreckt. Mit "Nussschale" bin ich nun aber wieder eingestiegen und meine frühere Begeisterung ist mit einer großen Fanfare zurück gekommen!


    Dass die Handlung eine Adaption des "Hamlet"-Stoffes ist, habe auch ich erst recht spät wirklich verstanden, obwohl diese Tatsache rückblickend absolut auf der Hand liegt. Zunächst war ich einfach total fasziniert von der absurden Erzählperspektive des Embryos im Mutterleib, der aus seiner begrenzten Wahrnehmung heraus nicht nur seine unmittelbare Umgebung zu deuten und vermeintlich zu analysieren vermag - in a nutshell eben - sondern auch immer wieder das aktuelle Weltgeschehen kommentiert und in einen Zusammenhang mit seiner Existenz bringt. Selbige ist auch immer wieder Thema, aber selbst bei der "sein oder nicht sein"-Anspielung ist bei mir der Groschen noch nicht gefallen. Tatsächlich erleuchtet war ich erst bei der geisterhaften Begegnung mit dem Vater und ich freue mich jetzt schon darauf, das Buch ein zweites Mal zu lesen, um alle verpassten Bezüge aufzuspüren und mich der Virtuosität des Textes zu erfreuen.


    Die Übertragung des Stoffes in die Gegenwart ist McEwan absolut grandios gelungen. Anstatt eines reinen Umschreibens in die heutige Zeit hat McEwan durch neue Aspekte der Geschichte eine eigene Note und auch eine aktuelle Relevanz verliehen. Und um ein wenig weg von der Meta-Ebene zu kommen, habe ich auch wirklich sehr gespannt auf den Fortgang der Geschichte gewartet und war gleichzeitig immer auf den Moment gespannt, in dem Das Baby sich dazu entschließt, seine dunkle Höhle zu verlassen und das Licht der Welt zu erblicken.

    Und nicht nur als Adaption hat mir das Buch ausnehmend gut gefallen; die Sprache, der sich McEwan bedient, ist facettenreich und von nüchtern über melodisch-künstlerisch bis hin zu lächerlich pathetisch ist alles dabei. An dieser Stelle sei auch die meiner Meinung nach sehr gut gelungene Übersetzung ins Deutsche hervorgehoben.


    Mich hat das Buch also sehr überzeugt. Ich werde es sicher noch mehrmals lesen und mich langsam auch wieder an andere Texte des Autors wagen.

  • mich langsam auch wieder an andere Texte des Autors wagen

    :thumleft: Ja, McEwan hat es verdient! Wenn "Am Strand" Dein letztes Buch von ihm war, darf ich Dir dieses ans Herz legen. Ich fand es noch einen Tick besser als "Nussschale".

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ich habe ehrlich gesagt die Parallele zu Shakespeare nicht erkannt, ignorant wie ich bin. Dennoch erschien mir die "äußere" Konstellation relativ klassisch. Was aber eben alles über den Haufen wirft ist die gewählte, überaus originale Erzählperspektive. Klaro, könnte man sich nun mokieren, dass ein Embryo, werdendes Kind doch nicht dies und jenes wahrnehmen noch so genau beschreiben könnte. Dennoch: radikal mal aus der Sicht eines werdenden Kindes erzählen - das finde ich gut. Denn die kommen manchmal bei den Schwangerschaften und den Entscheiden der Eltern tatsächlich zu kurz. Man überlegt rein von seiner eigenen Nutzen-Haben-Seite. Wie kommt aber das Kind dabei weg?


    Okay, vielleicht eine etwas einseitige Sicht auf den Roman von mir, aber dies hat mich doch angesprochen.

  • die Parallele zu Shakespeare nicht erkannt,

    Das tröstet mich. Ich habe es nämlich auch erst mit Verzögerung erkannt, siehe Rezension, aber dann fügte sich alles zusammen.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).