Dringt die Pornographie in immer mehr andere Bereiche unserer Gesellschaft ? Und falls ja, wie ?
Wir schauen sie uns an, wir reden darüber und wir machen sie evtl. selbst. Nein, keine Pornos. Sondern die Pornographisierung. Das meint jetzt nämlich nicht, dass wir alle Pornos sehen oder drehen, sondern eher dass sexuelle und (nackt)körperliche Elemente immer mehr in Bereiche der Gesellschaft eindringen. Ist das gut ? Oder ist das dekadent/schlecht/verwerflich ? Prinzipiell erstmal nichts davon. Es ist erstmal eine Entwicklung. Dementsprechend versuchen die Autoren des Buches "Pornografisierung von Gesellschaft. Perspektiven aus Theorie, Empirie und Praxis" (2012), das von Martina Schuegraf und Angela Tillmann herausgegeben wurde, auch nicht ausschließlich mit der (positiven oder negativen) Moralkeule um sich zu schlagen, sondern erläutern Thesen, Erklärungen und Beispiele. Denn hier haben sich mehr 33 Autoren zusammengefunden, um 33 Beiträge zu schreiben (einige Beiträge sind Gemeinschaftsprojekte mehrerer Autoren).
Interessant ist erstmal, was für Bereiche als "Gesellschaft" mit in diese umfassende Untersuchung aufgenommen wurden: Populärkultur, digitale Kultur, queere Kultur, Jugend, Erziehung und Pornoproduktion. Das sind auch die Kapitelüberschriften, unter denen sich dann jeweils mehrere Aufsätze befinden. Der Band beginnt jedoch mit einer Einführung der beiden Herausgeber und einem Kapitel mit mehreren Aufsätzen zum Diskurs. zB zeichnet Anne-Janine Müller in ihrem Aufsatz ("Von der Höhlenzeichnung zum Smartphone: zur Geschichte von Pornografie und Medien", S. 21-32) die wechselseitige Entwicklung zwischen Pornographie und den Medien nach. Hier erkennt sie eine Weiterentwicklung und Öffnung der pornographischen Sprache, die in ihrer heutigen geöffneten Form mündet und wesentlicher Bestandteil in den Medien ist (dabei ist es jedoch möglich, dass sie die römische Antike in ihrer pornographischen Offenheit bei Romanen, Inschriften, Skulpturen und in der Poesie unterschätzt, S. 26).
Ein Beispiel der Veflechtung von Pornographie und der Populärkultur erläutert Thomas Schwarz mit "Hentai Porn und Manga Sex Movies" (S. 147-155). Hier herrscht ein großes Potenzial an Verallgemeinerung (der pornographischen Elemente auf das gesamte Genre), aber auch an fiktiver Kreativität (Übertretung von natürlichen Grenzen).
Auch in Spielen entfaltet sich die Pornographie, wie Ralf Vollbrecht zeigt, indem er pornographische Mods im Computerspiel "Oblivion" untersucht ("Sexlivion - ein Streifzug durch pornografische Mods am Beispiel des Fantasy-Rollenspiels 'Oblivion'", S. 189-197).
Fragwürdig wird es jedoch, wenn Pädagogen und ein Journalist ohne überzeugende Begründung fordern, dass die Schule als Institution nun eine pornographische Bildung übernehmen soll (Hahn/Nakari/Schnell: "Das Thema Pornografie gehört in die Schule", S. 331-340), wozu jedoch beruhigenderweise der Aufsatz von Johannes Gernert im Kontrast steht ("'Mama, was ist ein Blowjob?' - zur Bedeutung der Förderung von Medien- und Sexualkompetenz in der Familie", S. 341-350) und die Familie als Erziehungsort hochhält. Allgemein ist das Thema Jugend und Jugendschutz ein größeres Thema in diesem Buch. Mehrmals wird auf die Aufklärungsarbeit und das offene Sprechen über Sexualität in der BRAVO gesprochen (zB Marthe Anna Kniep: "Jugend, Porno, Medien! Die Aufklärungsarbeit der Jugendzeitschrift BRAVO", S.269-278). Andererseits ist das Thema des Porno-Raps mMn etwas unklar in Bezug auf das Ergebnis und die Schlussfolgerung (Nadine Jünger: "Porno-Rap und die exuelle Sozialisation Heranwachsender", S. 259-268). Die Autorin bezieht sich hier auf Gespräche mit Jugendlichen über ihr Denken über Porno-Raps. Einer der Jungen hat eine sehr besorgniserregende Einstellung dazu, was die Autorin auf den sozialen und familiären Kontext bezieht. Das mag zwar sein, kann allerdings auch auf eine negative Beeinflussung zurückzuführen sein.
Eine sehr positive Entwicklung ist PorYes!, das die Produktion von Pornos auf einem angebrachten Niveau der Menschlichkeit fordert und fördert: weniger sexueller Leistungsdruck und weniger Reduzierung auf die Triebgesteuertheit bei Männern und mehr Respekt gegenüber Frauen (Laura Meritt: "PorYes! Feministische Pornos und die sex-positive Bewegung", S. 371-380). Eine andere sehr interessante Entwicklung ist das allmähliche Ablösen der großen Pornoindustrien durch (professionelle) Amateure in Deutschland (Philip Siegel: "Porno in Deutschland - von der Pornoindustrie zum Amateurporno", S. 361-370).
Das war bisher weniger ein gesamtübersichtlicher Kommentar, als vielmehr eine stichprobenartige Vorstellung. Doch sollte das dennoch reichen, damit Ihr eine Vorstellung davon habt, in welche Richtung die Beiträge gehen. Immerhin sind es doch ziemlich viele und dementsprechend kommen auch die Nachteile mit. Denn so interessant auch einige sind, sind auch andere nicht gut gelungen. Sei es von der Sprache, der Argumentation oder dem Thema.
Ein besonderes Problem des Buches ist mMn die Kürze der Aufsätze von jeweils etwa 10 Seiten. Das ist einfach zu wenig. Optimum wären 20-30, um These/Thema, Argumentation, Beispiele und Fazit/Schlussfolgerung richtig ausformulieren zu können. Die meisten Aufsätze (!) sind mMn unvollständig oder so runtergebrochen, dass das Verständnis darunter leidet. Stattdessen wären vielleicht 2 Bände oder die quantitative Hälfte Aufsätze ausgereicht.
Das finde ich sehr schade.
Nichtsdestotrotz eröffnen die Aufsätze einige Perspektiven auf einzelne Bereiche der Verquickung von Gesellschaft und Pornographie.
Leider musste auch wieder die vereinheitlichte geschlechtsundifferenzierte Sprache dabei sein, bei allen Aufsatzschreiber(inne)n.