Nathan Hill - Geister / The Nix

  • Kurzmeinung

    Kapo
    Außergewöhnliche Charaktere, ein "amerikanischer" Roman
  • Kurzmeinung

    Mojoh
    Ein toll geschriebener Panorama-Roman über ein Mutter-Sohn Verhältnis, über Verluste und Ängste von den 68ern bis heute.
  • Inhaltsangabe:
    Ein Anruf der Anwaltskanzlei Rogers & Rogers verändert schlagartig das Leben des Literaturprofessors Samuel Anderson . Er, der als kleines Kind von seiner Mutter verlassen wurde, soll nun für sie bürgen: Nach ihrem tätlichen Angriff auf einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten verlangt man von ihm, die Integrität einer Frau zu bezeugen, die er seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen hat. Ein Gedanke, der ihm zunächst völlig abwegig erscheint. Doch Samuel will auch endlich begreifen, was damals wirklich geschehen ist. - Ein allumfassender, mitreißender Roman über Liebe, Unabhängigkeit, Verrat und die lebenslange Hoffnung auf Erlösung, ein Familienroman und zugleich eine pointierte Gesellschaftsgeschichte von den Chicagoer Aufständen 1968 bis zu Occupy Wall Street.(Quelle: Verlagsseite)


    Der Autor:
    Nathan Hill ist 38 und lebt in Chicago und St. Paul, Minnesota, wo er an der University of St Thomas Englische Literatur unterrichtet. Seine Erzählungen erschienen in zahlreichen Magazinen und Zeitungen, sie waren nominiert für den Pushcart und den Barthelme Preis. »Geister« ist sein erster Roman und wird derzeit in über zwanzig Sprachen übersetzt. (Quelle: Verlagsseite)


    Originaltitel: The Nix
    Übersetzt von: Katrin Behringer, Werner Löcher-Lawrence


    Mein Eindruck:
    Der Literaturprofessor Samuel Anderson wird von einer Anwaltskanzlei angerufen; er soll für seine Mutter Faye bürgen, die er viele Jahre nicht gesehen hat. Seine Mutter verließ ihn, als er noch ein Kind war.
    Faye wird vorgeworfen, den republikanischen Präsidentschafts-Kandidaten Packer angegriffen zu haben, indem sie mit Kieseln warf. Die Medien greifen den Vorfall nur zu gerne auf.
    Gleichzeitig wird Samuel von seinem Verlag, bei dem er in der Schuld steht, unter Druck gesetzt. Er soll ein Buch über den "Packer-Attacker" schreiben und so eröffnet sich für Samuel die Chance, ein Bestseller-Autor zu werden.
    So begibt sich Samuel auf Spurensuche, nach und nach erfährt er Wissenswertes und Erklärendes über seine Familiengeschichte.
    Es gibt eine Reihe von Verwicklungen und überraschenden Wendungen. Hintergrund des Romanes ist die Zeit von 1968 mit den Unruhen in Chicago bis zur Occupy Wall Street im Jahre 2011; Hauptaugenmerk ist jedoch der Mensch.
    Die Protagonisten werden lebendig und glaubhaft beschrieben. Da gibt es z.B.den computerspielsüchtigen Verlierer, den Polizisten, der sich nach Liebe sehnt oder auch die Studentin, die sich durch ihr Studium lügt und betrügt (und Samuel das Leben schwer macht...). Der Roman erzählt von Liebe, Verrat und von Hoffnungen.
    Hauptsächlich geht es in dem Roman um Lebensentscheidungen und ihre Auswirkung auf sich und andere. Was wäre gewesen, hätte der Protagonist sich anders entschieden?
    Trotz der verschiedenen Zeitebenen bleibt der Roman übersichtlich und spannend zu lesen. Für mich war er ein pageturner.

  • Vielen Dank für deine Rezi @Conor. Seid du das Buch positiv erwähnt hast, war ich schon gespannt auf deine abschließende Meinung. Und schawupp auf die Wunschliste!

    Für mich war er ein pageturner.

    Klingt gut!

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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  • Es ist einer dieser Vorfälle, die aus dem Nichts kommen und plötzlich eine ganze Nation bewegen. Faye Andresen-Anderson, eine unauffällig wirkende Mittsechzigerin, bewirft einen potentiellen Präsidentschaftskandidaten, der durch populistische Parolen und ein recht schlicht gestricktes Weltbild besticht (Ähnlichkeiten mit lebenden Personen rein zufällig?) aus heiterem Himmel mit Steinen. Die Nachrichtensender überschlagen sich in ihrer Berichterstattung und fördern schließlich heiße Informationen aus Fayes Vergangenheit zutage. Die harmlose ältere Dame soll in den Sixties eine glühende Radikale gewesen sein.


    Samuel Anderson erfährt erst von dem Vorkommnis, als er einen Anruf von Fayes Anwalt erhält, der einen Leumundszeugen für seine Klientin sucht, um das geforderte schwere Strafmaß abzuwenden. Wer wäre da wohl besser geeignet als der Sohn?


    Doch der hat seine Mutter seit Jahrzehnten nicht gesehen. Elf Jahre war er alt, als Faye die Familie ohne jegliche Vorankündigung verließ, und er hat ihr dieses Verschwinden bis heute nicht verziehen.


    Und noch eine überraschende Anfrage erreicht ihn: das Angebot, eine reißerische Enthüllungsbiographie über die Frau zu schreiben, die plötzlich in aller Munde ist und die er trotz der verwandtschaftlichen Nähe kaum kennt. Seiner stagnierenden Schriftstellerkarriere könnte das sicherlich auf die Sprünge helfen und ihn aus seinem eintönigen Leben zwischen Dozentenjob, Schreibblockade und Onlinespielen herausholen, doch Samuel ist nicht sicher, ob er das wirklich will.


    Ein Rezensent hat Nathan Hills Debütroman als "great American novel" gelobt und trifft damit ins Schwarze. Hill erzählt auf verschiedenen Zeitebenen (Gegenwart, Samuels Kindheit, Fayes Vorgeschichte) und deckt somit über 50 Jahre amerikanische Gesellschafts- und Politikgeschichte ab. Das Smartphonezeitalter, in dem Image alles ist und Realitätsflucht in Online-Games oder Social Media für viele das Mittel der Wahl ist, dem Alltagsstress zu entrinnen, bringt er dabei ebenso messerscharf auf den Punkt wie die Spießigkeit, Prüderie und den Rassismus der Nachkriegszeit, die schließlich den massiven Protest der 68er-Generation auf sich zogen.


    Selbsttäuschung ist immer wieder ein Thema des Buches - wie sich Generation um Generation die Welt zurechtargumentiert, im tiefsten Inneren wohl wissend, dass man sich in die Tasche lügt, das Hin- und Hergerissensein zwischen anerzogenen traditionellen Werten und dem, was man wirklich will. Aufbegehren gegen soziale Missstände und sinnlose Kriege spielen sowohl 1968 eine Rolle als auch in Samuels Gegenwart zur Zeit der Occupy-Bewegung. Hill legt den Finger in zahlreiche Wunden und macht schmerzhaft deutlich, dass sich in vielerlei Hinsicht nicht sehr viel geändert hat seit "damals".


    Zunächst fragt man sich beim einen oder anderen Handlungsstrang, wie das bitteschön ins Gesamtbild passen soll, doch in diesem Buch sitzt alles, nichts wird ohne Grund erwähnt, nicht viele Themen ausgelassen, aber überfrachtet wirkt es nie, alles hat seinen Platz im Gesamtgefüge. Und für mich, die grob in Samuels Alter ist, war es sehr spannend, ein Buch über die Zeit zu lesen, in der ich selbst lebe bzw. aufgewachsen bin.


    Der Roman ist wirklich eine "Great American Novel" im besten Sinne und ein facettenreiches, mitreißendes Buch mit tollen Figuren, dem ich viele Leser wünsche. Dass es hier und da einen kleinen Schuss Hollywood abbekommen hat, ist dabei absolut verzeihlich.

  • Zunächst fragt man sich beim einen oder anderen Handlungsstrang, wie dasbitteschön ins Gesamtbild passen soll,

    Das ging mir auch so.


    Hill entwirft einige Spannungsfelder, die er an einzelnen Personen vorführt und ungemein geschickt miteinander verknüpft.

    Einige Beispiele:


    Da ist Laura Pottsdam, die Studentin, die wegen eines Plagiats durchfallen soll und deswegen zur Furie wird. Sie ist verlogen-rabulistisch und will daher Präsidentin werden, und daher belegt sie die Fächer Politik und Schauspielerei.


    Oder Samuel, die Hauptfigur selber. Er ist nicht unbedingt ein Sympathieträger und verstrickt sich in "Elfscapes" (der Autor scheint sich sehr gut auszukennen...?), mit dem er dem wirklichen Leben aus Frust entflieht. Er weiß, dass er sein Leben ändern muss und will das auch - aber immer erst morgen. Sein Mitspieler Pwnage bewertet das Computerspiel als schöner als das wirkliche Leben - ein faszinierendes Kapitel, fand ich.


    Das Leben der Mutter und ihrer norwegischen Vorfahren ist ein weiteres großes Spannungsfeld, das der Autor mit dem Problem der transgenerationalen Traumatisierung verknüpft - da spukt immer wieder der Nix herum, der die Sünden der Väter weiter trägt.


    Eine faszinierende Figur ist auch Periwinkle, eine schillernde Gestalt, und im Lauf der Geschichte zeigt sich erst, wie sehr er die Fäden in der Hand hält, wie Kommerz und Politik zusammenlaufen. Mich hat er an die Märchenfigur des Teufels erinnert, der den Menschen - dessen Seele er will - nicht aus dem Pakt entlässt.


    Zusammengehalten werden diese und andere Spannungsfelder durch das Leitmotiv der Demonstrationen, und deren Schilderungen lassen einem das Blut in den Adern gefrieren: wie Hill die "perfekte Schwungtechnik" des Schlagstocks beschreibt und damit die Prügeleien der Polizei als sportliches Ereignis vorführt, wie er die Onkel vor dem Fernseher die Ereignisse kommentieren lässt...


    Das Buch setzt mit seinen fast 900 Seiten ein gewisses Durchhaltevermögen voraus; einige Längen verzeiht man dem Autor gern. Ein beeindruckendes Buch.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Zunächst fragt man sich beim einen oder anderen Handlungsstrang, wie dasbitteschön ins Gesamtbild passen soll,

    Das ging mir auch so.

    Vor allem bei Pwnage hab ich mich lange gefragt, wieso wir den jetzt so ausführlich kennenlernen müssen (auch wenn ich seine Kapitel gern gelesen habe). Aber das hatte tatsächlich alles irgendeine Art von Bewandtnis - ziemlich genial.

  • Vor allem bei Pwnage hab ich mich lange gefragt, wieso wir den jetzt so ausführlich kennenlernen müssen

    Ich fand die Schilderung seines Sterbens bzw. seines Versuches sein Leben zu ändern - virtuell und im wirklichen Leben -

    quälend. Am liebsten hätte ich in die Geschichte helfend eingegriffen. Hill liefert hier einen wirklich dramatischen Einblick in eine Sucht als Flucht vor der Realität - und damit war man wieder beim Thema, das Hill beschäftigt. Aber diese Sucht bildet eine Gemeinschaft, die helfend eingreifen kann - das fand ich schön beschrieben. Und ausgesprochen originell fand ich den Bericht des Retters: den verstand ja nur ein Mitspieler! Wie sich hier die beiden Welten überlappen - schön beschrieben!


    Aber auch wenn dieser übergeordnete thematische Zusammenhang nicht gewesen wäre: ich hätte es ihm gerne verziehen. Ich mag einfach diese opulente Art des Erzählens und verweile gerne bei Nebenfiguren, um mich dann hinterher vom Erzähler wieder zur eigentlich zentralen Handlung zurückführen zu lassen.


    Trotzdem klangen gerade die Passagen um Pwnage so, als ob Hill mit dieser Sucht gut bekannt wäre.

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich habe mich auch gefragt, wie viel hier wohl autobiographisch gefärbt sein mag. Zumindest scheint er sich sehr eingehend mit der Gamer-Szene beschäftigt zu haben.


    Und auch beim Thema Nebenhandlungsstränge bin ich ganz bei Dir - ich lese Abschweifungen durchaus gerne, wenn sie gut gemacht sind. Wenn sie wie hier tatsächlich in den Gesamtkontext passen, umso besser.

  • Zunächst fragt man sich beim einen oder anderen Handlungsstrang, wie dasbitteschön ins Gesamtbild passen soll,

    Das ging mir auch so.

    Da reiche ich euch die Hände. Es dauerte sage und schreibe 11 Monate, bis ich mich vollständig eingelesen hatte und dann war der Roman nach einer Woche durchschmökert. Während des Lesens war ich an den Stil von John Irving, Steve Toltz oder auch Jeffrey Eugenides erinnert.


    Eine Empfehlung für alle, die komplexe Familiengeschichten mögen, und sich nicht daran stören, dass viele - anfangs - unverknüpfte Charaktere und Handlungsstränge nur langsam zu einander kommen. Sehr interessant fand ich vor allem die Erzählungen aus den 60ern, die Doppelmoral und gesellschaftlichen Unruhen im Chicago 1968 und ihre Auswirkungen auf die Charaktere, vor allem Samuels Leben in der Gegenwart.


    Obwohl ein ernstes Buch, liegt über allem doch auch ein Hauch Absurdität und Ironie.

    Hoffentlich nicht Hills letztes Buch!

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Ich musste dieses Buch leider abbrechen - es war mir seinerzeit einfach emotional zu sehr an die Nieren gegangen. :pale:

    Vielleicht gebe ich ihm irgendwann später nochmal eine Chance.

    :study: Sabine Rennefanz - Kosakenberg

    :musik: Oyinkan Braithwaite - Meine Schwester, die Serienmörderin (Re-???)

    :montag: Sally Coulthard - Am Anfang war das Huhn





  • Das hoffe ich doch auch sehr!

    Ja, ich auch, aber es ist nichts in Sicht.

    Mein Mann liest das Buch gerade - ihm gefällt es genau so gut wie mir.

    Wir sind uns nicht immer einig :rambo: :eye: !

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  • Ich musste dieses Buch leider abbrechen - es war mir seinerzeit einfach emotional zu sehr an die Nieren gegangen. :pale:

    Danke für diese Meldung.:friends: Ich finde es schön, auch solche eher negativ geartete Meldungen zu lesen. Das Buch macht mich neugierig. Danke. Ich wollte gerade das Buch vorbestellen, ist aber nicht da. Muss ich schauen, wie ich dran komme.

    P.S.ich konnte es bei einem Anbieter gerade bestellen

    2024: Bücher: 65/Seiten: 28 761

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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    Mein Blog: Zauberwelt des Lesens
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    "Das Nicht-Wahrnehmen von Etwas beweist nicht dessen Nicht-Existenz "

    Dalai Lama

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    Lese gerade:

    Midwood, Ellie - Die Violinistin von Auschwitz

  • Emili So negativ war es gar nicht gemeint gewesen. Es ist bestimmt ein tolles Buch. Aber wenn man privat gerade viel um die Ohren hat, was einen emotional angreift, finde ich es manchmal schwierig, dann gleichzeitig auch noch emotional stark aufwühlende Bücher zu lesen. Und in dieser Hinsicht fand ich "Geister" wirklich sehr heftig! Es war für mich absolut der falsche Zeitpunkt für sowas. Ich habe damals etwa ein Viertel des Buches gelesen und es dann zugunsten eines "Wohlfühlbuches" weggelegt. :lol:

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  • So negativ war es gar nicht gemeint. Es ist bestimmt ein tolles Buch.

    mach dir da keinen Kopf. :friends: Ich ziehe es eh vor, meine eigene Meinung zu den Bücher zu bilden. Ich fand die Gespräche über das Buch spannend. Das gefiel mir. Alles andere findet sich. :winken:

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  • Nun habe ich den Roman auch gelesen, in wenigen Tagen, denn kurzweilig ist er. Nur in Begeisterung kann ich nicht so recht ausbrechen.

    Zunächst einmal die positiven Dinge: es gibt mehrere ganz tolle Passagen, die ich gerne mehrmals gelesen habe, seien sie so lustig wie bspw Samuels Gespräch mit der Studentin, die er durch die Prüfungen fallen lassen will, oder spannend wie die Unruhen in Chicago 1968. Ganz hervorragende Abschnitte!

    Aber dann auch zähe Abschnitte. Nicht etwa die einzelnen Handlungsstränge haben mich gestört, auch nicht die Wechsel zwischen 1968, 1988 und 2011. Nein, mich hat vielmehr gestört, dass alles irgendwie erklärt werden soll, mit psychologischen oder sonstigen Argumenten, die ich nicht so recht nachvollziehen vermag. Die Gründe weswegen Faye ihre Familie verließ, weshalb ihr Vater so stoisch und stur ist, weshalb Samuel so träge ist, weshalb der Polizist so rachsüchtig ist - es gibt Erklärungen, aber es hätte doch auch andere Möglichkeiten der Reaktion gegeben?! Die Handlungsstränge, die am Ende zusammenlaufen, erscheinen mir auch sehr konstruiert. Und die Wichtigkeit von Pwnage habe ich auch nicht verstanden; die Geschichte wäre ohne ihn doch genauso ausgegangen. (Samuel hätte nur selbst darauf kommen müssen, seinen Opa zu besuchen).

    Hinzu kommt, dass hier sehr viele Themen angesprochen werden, aber für meinen Geschmack viel zu oberflächlich: neben diverser Eltern-Kind-Herausforderungen und zeitlichen Parallelen von Demonstrationen auch Kindesmissbrauch, Spielsucht, Liebe und Verrat, und und und.

    Auf das große Aha-Erlebnis habe ich vergebens gewartet; ganz nett das Ganze, aber für mich nicht der "große Gesellschaftsroman"

  • Ich kann mich Nungesser in allen Punkten nur anschließen. Sprachlich und formal ist der Roman konventionell gehalten, sieht man mal vom Erzählen auf verschiedenen Zeitebenen ab, was mittlerweile aber schon zum guten Ton gehört. Aber auch ich fand die Geschichte sehr kurzweilig zu lesen. Gerade die erste Hälfte ist, wie Conor sagt, ein richtiger Pageturner, und es gibt einige glänzend geschriebene Passagen, wobei mir neben der Beschreibung der Studentenproteste in Chicago besonders auch die Stellen gefallen haben, in denen Pwange über die Schönheit der virtuellen Spielewelt sinniert.


    Aber das Problem des Romans ist, dass er zu viel will. Er erzählt zu viel und er erklärt auch zu viel. Dadurch lässt er dem Leser praktisch keinen Raum für eigene Überlegungen und Schlussfolgerungen, etwas, was meiner Meinung nach eines der Kennzeichen eines wirklich guten Romans ist. Außerdem führt ein solches Vorgehen fast zwangsläufig zur Banalisierung. Nungesser hat schon darauf hingewiesen, dass der Autor zu viele Themen in seinem Roman anschneidet, die dann entsprechend oberflächlich abgehandelt werden. Ebenso möchte er die Entwicklung seiner Figuren transparent machen, indem er für jede Wirkung die dazugehörige Ursache liefert, was zur Folge hat, dass die Lebenswege dieser Personen merkwürdig einspurig erscheinen, als ob sie keine anderen Möglichkeiten gehabt hätten, trotz der falschen Entscheidungen ihr Leben einigermaßen glücklich zu gestalten. Denn das Leben verläuft doch nicht linear, sondern auf vielen Seitenwegen. Deswegen kann ich, genau wie Nungesser , auch nicht verstehen, warum die falschen Entscheidungen der Protagonisten mit so einer Ausschließlichkeit bei allen ein durch und durch unglückliches Leben nach sich gezogen haben. Die parodistische Zuspitzung einiger Figuren, wie zum Beispiel Periwinkle, Bethanys Verlobter Peter, teilweise Pwange und natürlich die Studentin Laura, nimmt ihnen jegliche Komplexität. Auf mich wirken sie wie Fallbeispiele, die einen bestimmten Typus bzw. Aspekt der modernen amerikanischen Gesellschaft illustrieren sollen.


    Wie nahezu gewaltsam es der Autor zu den falschen Entscheidungen seiner Protagonisten kommen lässt, zeigt das Beispiel von Samuel und Bethany.

    Der Roman mündet dann in ein versöhnliches Wohlfühlende. Ob der Autor dem Wunsch vieler Leser nach einem „befriedigenden Schluss“ nachkommen wollte oder sich hier der nicht unsympathische amerikanische Optimismus Bahn gebrochen hat, weiß ich nicht. Mir ist das Ende zu konstruiert und vor allem zu pädagogisch. Die Protagonisten haben ihre Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen analysiert und begriffen, nun können sie es besser machen. Wie in der Schule.

    Trotzdem: Auch wenn das Buch für mich kein großer Roman ist, ist es doch ein unterhaltsamer, intelligenter Schmöker für gemütliche Lesestunden.

    :study: Denis Diderot- Jakob und sein Herr

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    :study: James Wood - Die Kunst des Erzählens