Beth Nugent - Mädchen zum Anfassen / Live Girls

  • Autorin (Wikipedia und Klappentext): Die 1954 oder 1958 in Syracus im US-Bundesstaat New York als Tochter eines US-Air-Force-Piloten geborene und in der Provinz von Virginia und Ohio aufgewachsene Beth Nugent ist eine amerikanische Schriftstellerin und Hochschullehrerin, über deren Leben wenig bekannt ist und die leider auch nur zwei Bücher herausgebracht hat. 1982 machte sie ihren MFA an der University of Iowa, veröffentlichte Kurzgeschichten in den Magazinen „New Yorker“ und „Grand Street“ sowie 1992 den Kurzgeschichtenband „City of Boys“ (dt. „Stadt voller Jungs“, 1995, wobei die inhaltsgleiche Erstauflage anscheinend noch „Kleine Lügen“ hieß) und 1996 den Roman „Live Girls“ (dt. „Mädchen zum Anfassen“, 1997). 1998 wurde sie Associate Professor of Writing am Art Institute of Chicago. Danach (?) lehrte sie an der University of Denver.


    Kurzbeschreibung (Klappentext): Familie und College hat Catherine schon längst aufgegeben. Das Mädchen strandet als Kassiererin in einem schäbigen Pornokino irgendwo in Ohio. Gespenster aus der grauen Kindheit und bunte Zukunftsvisionen verschmelzen in den Träumen, die sie Tag für Tag mit dem Leben verwechselt. Eines Tages klaut sie ein Auto - Ziel ihrer Flucht ist die Traumstadt Hollywood.


    Der Roman „Live Girls“ erschien im amerikanischen Original 1996 bei Alfred A. Knopf in New York. 1997 kam bei Rowohlt die deutsche Übersetzung von Thomas Gunkel als Taschenbuch unter dem Titel „Mädchen zum Anfassen“ auf den Markt. Diese Ausgabe umfasst 220 Seiten.


    Der Roman einer jungen Frau ohne Eigenschaften, die eine religiöse Schule verlässt und antriebslos als Kartenverkäuferin in einem Pornokino (in der Zeit vor Youporn) versackt, ihre desaströse Familienvorgeschichte mit einer äußerst garstigen Schwester, deren trauriges Schicksal lange Zeit nicht enthüllt wird, ihre von ihrem ambitionierten, aber aufs Versagen abonnierten Chef Dave vermittelte Bekanntschaft mit seinem Neffen Danny, einem Langweiler, der für die Stadtverwaltung Tauben tötet, ihr nächtliches Leben im Kreis von Nachtschwärmern, Versagern, Huren und Fieslingen, ihre deprimierend einsamen Flurnachbarn in dem Hotel, in dem sie untergekommen ist, ihre völlig zusammengelogenen Briefe an ihre Eltern, die sie allerdings nie abschickt - gewissermaßen zwei mentale Mauern zwischen sich und der Wirklichkeit -, und ihre Gespräche mit ihrem "besten Freund" Jerome, einer selbstverliebten Drag Queen, die sich von Matrosen aufgabeln und verprügeln lässt, die sie im letzten Drittel des Romans unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu einem gemeinsamen Ausbruchsversuch ins Nirgendwo überredet.


    Ich habe mich entschlossen, den Roman, der mir ein wenig wie eine in die Depression verlängerte Ghost-World-Geschichte von Daniel Clowes vorkommt, prima zu finden, obwohl er einiges dafür tut, ihn abzulehnen. :P Aber wie die apathische Hauptfigur Catherine in Gedanken diverse Lebensentwürfe "ausprobiert", hat mir doch sehr gut gefallen. Unter anderem durchdenkt sie bei ihren Treffen mit dem Langweiler bereits ihr späteres Leben als Ehefrau an seiner Seite, wie sie sich stundenlang über Nichtigkeiten unterhalten, sich nie festlegen und dabei fast glücklich scheinen könnten. Besucht sie die Essenseinladung ihres Chefs und seiner Ehefrau, die sich ihr Plastik-Hausfrauendasein mit Nippes, Kochrezepten aus Zeitschriften und zu vielen süßen Cocktails erträglich macht, spielt Catherine das Heileweltspiel anstandslos mit und überlegt, wo sie wohl diese süßen Plastik-Äffchen herbekommt, um mit ihnen auch ihre eigenen Longdrinkgläser zu schmücken. Das eine Leben ist so schrecklich wie das andere! Da sie sich kaum ein eigenes Glück vorstellen kann, borgt sie es sich aus Magazinen, aus fremden Leben und Klischees - und hängt ihre schwach flatternde Fahne in den Wind anderer Lebenslügen, Vorstellungen und Hoffnungen. Ausgerissene Porträtfotos aus Zeitungen, die sie an die Wand ihres Kassenhäuschens klebt, ersetzen die Fotos von Familienangehörigen. Besonders fasziniert ist sie von dem Bericht einer Frau, die sich zu Forschungszwecken ein Jahr in einem Keller einschließen ließ, und die sich kurz nach ihrer "Entlassung" an die Erdoberfläche das Leben nahm, da sie es jetzt frei nicht mehr ertrug. Was die Tragweite des Abscheus vor der Welt, den die Hauptfigur empfindet, und den Schmerz, den sie fühlt, aber nicht herauslässt, recht deutlich macht.


    Schwarzer Humor, Lakonie, Tristesse, Lebenslügen. Verweigerung als (selbstzerstörerische) Kampfansage an das "falsche Leben". Und das wirkt fast nie aufgesetzt. Die wenigen Manierismen verzeihe ich gerne. Solche „leeren“, spirituell armen Figuren sind in Romanen sonst eigentlich immer männlich. Schön, auch mal eine apathische, lebensuntüchtige, sich selbst verlierende Antiheldin serviert zu bekommen. Eine Hauptfigur, die den Kampf um das eigene Glück im Grunde schon mit Anfang 20 aufgegeben hat, umgeben von Menschen, die ebenfalls kaum Hoffnung in sich tragen, die nicht an ihre Möglichkeiten denken möchten und sich kaum noch anstrengen, glücklich zu werden. Und wer noch strampelt, wie ihr Chef Dave, der Pornokinobetreiber, der lieber anspruchsvoll erotische Filme zeigen würde als die schmierigen Sexfilmchen, der jeden Monat akribisch die Filmverleihliste durcharbeitet, um einen Funken Qualität zu entdecken, und der den vielfach an ihn herangetragenen Rat, sein Schaugewerbe nur mit "Live Girls", lebendigen Mädchen zum Anfassen, beleben zu können, immer wieder von sich weißt, ist zum Untergang verdammt. Ein nihilistischer Abgesang auf die gern geglaubte Lüge, man könne es schon schaffen, wenn man es nur wirklich wollte. Den Roman werden viele hassen. Ich war aber sehr gebannt von der trübsinnigen Atmosphäre - und bewerte "im Zweifel" lieber besser als schlechter. :thumleft:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Hier eine englische Ausgabe unter dem Originaltitel "Live Girls" als Vintage-Taschenbuchausgabe von 1997 mit 208 Seiten.

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  • Wer mag: Es gibt auch eine schwedische Übersetzung von Margareta Tegnemark, die 1999 unter dem Titel "Live Girls" im Albert Bonniers Förlag erschienen ist. :wink:

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