Benedict Wells - Vom Ende der Einsamkeit

  • Darum geht's:


    Jules und seine Geschwister Marty und Liz sind grundverschieden, doch ein tragisches Ereignis prägt alle drei: Behütet aufgewachsen, haben sie als Kinder ihre Eltern durch einen Unfall verloren. Obwohl sie auf dasselbe Internat kommen, geht jeder seinen eigenen Weg, sie werden sich fremd und verlieren einander aus den Augen. Vor allem der einst so selbstbewusste Jules zieht sich immer mehr in seine Traumwelten zurück. Nur mit der geheimnisvollen Alva schließt er Freundschaft, doch erst Jahre später wird er begreifen, was sie ihm bedeutet - und was sie ihm immer verschwiegen hat. Als Erwachsener begegnet er Alva wieder. Es sieht so aus, als könnten sie die verlorene Zeit zurückgewinnen, doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein.


    Der erste Satz:


    Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.


    Meine Meinung:


    »Nur gemeinsam können wir die Einsamkeit besiegen.«


    Nach dem Zuklappen des Buches bleibt ein überwältigendes Gefühl zurück ... Ich bin überwältigt von all den tiefsinnigen Gedanken darin, von der Sprache, die von einer zarten Melancholie geprägt ist und von den bewegenden Schicksalsschlägen der Protagonisten.
    »Vom Ende der Einsamkeit« ist nach »Fast genial« mein zweites Buch von Benedict Wells, aber das erste von ihm, das von mir den Lieblingsbuch-Status erhält.


    ~ Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird? ~
    (S. 11)


    Jules Moreau erzählt hierin die Geschichte seines Lebens mit all seinen Höhen und Tiefen und den Erkenntnissen, die er daraus zieht. Angefangen bei seiner Kindheit, seinen Eltern und dem schrecklichen Unfall, bei dem sie zu Tode kommen. Jules erzählt, was dieser Schicksalsschlag mit ihm und seinen beiden Geschwistern Marty und Liz angerichtet hat ...


    Jules ist ein Träumer, leidenschaftlicher Koch und fotografiert gerne. Aber vor allem - und das ist seine größte Leidenschaft - schreibt er unheimlich gerne (und gut). Die Einsamkeit und das Alleinsein spielt in seinem Leben seit dem Tod der Eltern eine sehr große Rolle. Auch Alva, ein Mädchen mit roten Haaren, das er ›danach‹ in der Schule kennenlernt, nimmt Raum in Jules Leben und Gedankenwelt ein. Mit Alva entwickelt sich eine der schönsten, aber auch tragischsten Liebesgeschichten, die ich jemals gelesen habe ...


    ~ Zu Hause erwartete mich Stille, ein mir seit Jahren vertrautes Geräusch. Doch wie sehr war mir diese Einsiedlerexistenz
    inzwischen zuwider, diese Unfähigkeit, am Leben teilzunehmen. Immer nur geträumt, nie wirklich wach gewesen. Sieh dich

    an, dachte ich, was sehnst du dich in Gesellschaft so oft danach, allein zu sein, wenn du das Alleinsein kaum noch aushältst? ~
    (S. 162/163)


    Sich mit der Endlichkeit des Lebens auseinandersetzen, das ist es, was Jules in seinem Leben tun muss. Erkenntnisse, wie dass im Leben nicht immer alles gerecht abläuft oder dass man sein eigenes Dasein/seine Gedanken und Handlungen selbst in der Hand hat, sprich, dass man selber dafür verantwortlich ist, was für ein Leben man führen möchte, sind ebenfalls Dinge, die Jules im Laufe der Zeit zu verstehen beginnt und annimmt.
    Jules hat wirklich kein leichtes Leben gehabt, umso interessanter fand ich seine Entwicklung, die durch seine Erzählungen der Vergangenheit gut zu verfolgen war. Er macht sich oft Gedanken über die Zeit, Erinnerungen und die Vergangenheit - das Buch hat für mich also sehr viele zum philosophieren einladende Fragen bereitgehalten, die das Ganze zu einem Lesegenuss der besonderen Art gemacht haben.


    ~ Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren.
    Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. ~

    (S. 299)


    Ich mochte an dieser Geschichte einfach alles: die Sprache, die Protagonisten, den Verlauf, die Tiefgründigkeit, die Tragik und vor allem wie all das enorm bewegende Gefühle in mir hervorrufen konnte.
    Wer Bücher mit Tiefgang mag und einer flüssig-fesselnden Geschichte mit viel Liebe und Tragik nicht widerstehen kann, sollte UNBEDINGT zu »Vom Ende der Einsamkeit« greifen. Ich war und bin nach wie vor ziemlich ergriffen davon!


    (Weitere lesenswerte Buchzitate findet ihr HIER!)


    5 :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::love: !

  • Meine Meinung:


    Also erstmal muss ich ja sagen, dass der Autor Benedict Wells wirklich gut schreiben kann, auch wenn diese Art von Thema wohl nie zu meinen Lieblingsbüchern werden wird. Es ist definitiv ein berührender Roman und auch ein stückweit trauriger und tragischer Roman, aber niemals so richtig deprimierend und auswegslos, sondern immer mit einer Prise Zuversicht und Hoffnung. Ein Buch über Verlust und Einsamkeit und natürlich über das Leben an sich mit all seinen positiven und negativen Facetten. Definitiv Empfehlenswert.


    Fazit:


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: 13 Gebote (Mortimer Müller) 274 / 426 Seiten

    :study: Einfach Mensch sein (Sy Montgomery) 32 / 208 Seiten


    SUB: 857

  • Jules ist mit seinen zwei älteren Geschwistern sehr behütet als Sohn eines deutsch-französischen Ehepaares aufgewachsen, mit sommerlichen Frankreichurlauben bei der Oma und den üblichen Geschwisterkabbeleien. Ausgerechnet nach einem Streit mit seinem Vater passiert die Katastrophe: die Eltern kommen bei einem Autounfall ums Leben, die drei Kinder landen in einem Internat und sind beim Versuch, den Verlust zu verarbeiten, fast komplett auf sich gestellt. Außer der Tante, die sie in den Ferien aufnimmt, gibt es niemanden mehr, der sich um Liz, Marty und Jules kümmert.


    Die künstlerisch begabte Liz kompensiert das Loch in ihrem Leben mit Jungsgeschichten und dem Konsum diverser Rauschmittel, während Marty, der klassische Computernerd, sich am liebsten programmierend im stillen Kämmerlein einschließt.


    Jules, der Erzähler, driftet verloren durch seine frühen Jugendjahre und entwickelt sich vom furchtlosen Kind zum verunsicherten, etwas eigenbrötlerischen Teenager. Nachdem er lange Zeit der Außenseiter in der Klasse war, freundet er sich schließlich mit Alva an, die ebenso wie er anders zu sein scheint als die Mitschüler und ihre eigene schwierige Familiengeschichte geschickt vor der Öffentlichkeit verbirgt.


    Wir begleiten Jules durch mehrere Jahrzehnte seines Lebens, vom siebenjährigen Jungen bis zum Mann in den Vierzigern, der nach einem schweren Unfall im Krankenhaus liegt und rückblickend über alles sinniert, was ihn letztendlich dorthin gebracht hat.


    Dabei werfen sich viele Fragen auf, die man sich selbst vielleicht auch schon gestellt hat. Wann, wodurch und warum verliert man die kindliche Unbeschwertheit? Was macht es mit einem Menschen, früh geliebte Angehörige zu verlieren? Gibt es im Leben eine Balance zwischen positiven und negativen Erfahrungen oder ist ausgleichende Gerechtigkeit nur Wunschdenken?


    Das Schöne an Wells' Art zu schreiben ist, dass er nicht pseudophilosophisch herumschwurbelt, sondern diese Überlegungen als Gedankengänge eines Menschen wie du und ich darstellt, so dass sie stets zugänglich und greifbar bleiben und einfach ein Teil der Handlung werden, dieses Lebensweges, der von einem frühen, harten Einschnitt geprägt ist und auch später nicht immer einfach ist.


    Großes Augenmerk liegt auf der Geschwisterdynamik, die Wells ausgezeichnet beobachtet und beschreibt. Drei ganz verschiedene Charaktere, die sich sehr unterschiedlich entwickeln, sich oft nicht gut verstehen, sich gegenseitig genauso oft wehtun, wie sie sich unterstützen, und trotzdem immer verbunden bleiben durch die gemeinsamen Wurzeln.


    Ein wunderschön lebensnah geschriebenes Buch über Liebe, Familie, Geheimnisse und Verlust, das mir sehr gut gefallen und mich berührt hat.

  • 43 eher sehr gute Bewertungen und « nur » drei Kommentare. Doch wenn ich so drüber nachdenke erstaunt es nicht ganz : Das Buch gebe unter (sehr guten) Freunden wahrscheinlich sehr viel Stoff zum Austausch. Ihr habt es ja angesprochen, wie reich das Buch an Gedanken ist. Dennoch wird da etwas ganz Persönliches angezupft, ein Nerv getroffen. Zumindest empfand ich das so. Ich merkte wie Erlebtes und Empfundenes hochkamen, und Benedict Wells dem wirklich einen tollen Ausdruck geben konnte. Er wählte hier einen Protagonisten, der gute zehn Jahre älter ist als er selbst. Aber es gelingt ihm gut, so manche typische Atmosphäre zB der 80iger einzufangen.


    Fast « zu zart », um davon zu sprechen ? Manchmal kam mir das schon zu dicht vor, eine Spur zu viel. Doch der Autor hat echt was drauf, und ich bin mal gespannt, was ich später noch von ihm entdecken werde. Ich denke, dass ich es mit Hard Land versuchen werde.


    Wells wurde für dieses Buch mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet.


    AUTOR :

    Benedict Wells (* 29. Februar 1984 in München) ist ein deutsch-schweizerischer Schriftsteller.

    Mit sechs Jahren kam Wells ins Grundschulheim Grunertshofen. Seine Schulzeit verbrachte er anschließend ausschließlich an Internaten. Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin, wo er sich gegen ein Studium entschied und mit dem Schreiben begann. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs, laut seinem Verlag Diogenes arbeitete er zwischendurch auch als freier Redakteur beim Fernsehen.


    Wie erst nach dem Erfolg seines dritten Romans und gegen seinen Willen bekannt wurde, ist Wells der Enkel Baldur von Schirachs, der Sohn des Schriftstellers Richard von Schirach und Bruder von Ariadne von Schirach. Der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach ist sein Cousin. Um sich von der Vergangenheit seiner Familie zu distanzieren und eigenständig aufzutreten, ließ Wells seinen bürgerlichen Namen nach seiner Schulzeit amtlich ändern. Sein Nachname ist insofern kein Künstlername oder Pseudonym, sondern sein offizieller Name. Er hat den Nachnamen Wells als Hommage an die Romanfigur Homer Wells aus John Irvings Buch Gottes Werk und Teufels Beitrag gewählt. Irvings Romane waren auch der Grund, weshalb Wells mit dem Schreiben begann.


    Wells lebt nach einigen Jahren in Barcelona inzwischen wieder in Berlin und Bayern und ist Mitglied der deutschen Fußball-Autorennationalmannschaft Autonama. Er besitzt als Sohn einer Luzernerin neben der deutschen auch die schweizerische Staatsbürgerschaft.

  • Mich hat das Buch auch auf einer ganz persönlichen Ebene sehr berührt, und meinem Mann hat es ein ganz klein wenig geholfen, den plötzlichen Tod seines Vaters zu verarbeiten. Was der Verlust der Eltern mit den "Kindern" egal welchen Alters machen kann, hat Wells ganz wunderbar einfühlsam eingefangen.

    Er hat den Nachnamen Wells als Hommage an die Romanfigur Homer Wells aus John Irvings Buch Gottes Werk und Teufels Beitrag gewählt. Irvings Romane waren auch der Grund, weshalb Wells mit dem Schreiben begann.

    In einer der Kurzgeschichten in "Die Wahrheit über das Lügen" gibt es auch eine kleine Anspielung auf "Gottes Werk und Teufels Beitrag" :love:

  • Was der Verlust der Eltern mit den "Kindern" egal welchen Alters machen kann, hat Wells ganz wunderbar einfühlsam eingefangen.

    Ich unterschied noch andere (mögliche) Themen:

    - letztlich ist es ja fast ausschließlich ein Familienroman, bzw die Beschreibung der Entwicklungen nicht nur von Jules, sondern auch seiner Geschwister. Und ihrer Beziehungen zueinander.


    - was mich ebenfalls, oder vor allem, berührte war die "Hartnäckigkeit" einer Jugendliebe, die wiederkommt und sich durchsetzt. Die Liebesgeschichte zwischen Jules und Alva hat mich ziemlich berührt. Und was dahintersteckt (weniger die sentimentalen Dramen)...


    In einer der Kurzgeschichten in "Die Wahrheit über das Lügen" gibt es auch eine kleine Anspielung auf "Gottes Werk und Teufels Beitrag" :love:

    Wie oft ich doch hier im BT dem Irving über die Wege laufe. Und ich vermeide ihn geschickt in meinem Leserdasein. Wahrscheinlich müsste ich das "irgendwann mal" ändern...

  • ich vermeide ihn geschickt

    :shock: Warum denn? :shock:


    Normalerweise empfehle ich "Garp und wie er die Welt sah" als Einstieg in Irvings Werk, DIR lege ich "Owen Meany" ans Herz. Wenn Du es gelesen hast, weißt Du, warum. :wink:

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ich unterschreibe vollumfänglich bei Marie :)


    tom leo : ja, es steckt einiges an Themen in diesem Buch. Die Geschwisterdynamik fand ich auch sehr interessant. Das ist ja auch so etwas, das einen durchs ganze Leben begleitet und auch fürs Leben prägt.

  • Er hat den Nachnamen Wells als Hommage an die Romanfigur Homer Wells aus John Irvings Buch Gottes Werk und Teufels Beitrag gewählt. Irvings Romane waren auch der Grund, weshalb Wells mit dem Schreiben begann.

    Langsam wird er kitschig, der Herr Wells. Ich meine, dass er mich mit dem ersten Satz von "Hard land" so sehr gefangen genommen hat, dass ich schon überlegt habe, mir Urlaub zu nehmen, damit ich nicht dauernd durch Arbeit vom Lesen abgehalten werde, ist ja schon bemerkenswert. Dass er dann noch seinen Namen nach einer Figur eines meiner absoluten Lieblingsautoren ändert ... ja, wie gesagt, fast nicht zu glauben.


    Bir mir ist es übrigens genau andersrum: Ich habe mit Schreiben wieder aufgehört, nachdem ich "Bis ich dich finde" gelesen habe, weil ich mir dachte, das kann ich sowieso nicht.

    Wie oft ich doch hier im BT dem Irving über die Wege laufe. Und ich vermeide ihn geschickt in meinem Leserdasein. Wahrscheinlich müsste ich das "irgendwann mal" ändern...

    Ja genau, wie Marie völlig zurecht fragt: Warum?! Meine Einstiegsdroge war "Owen Meany". (Ich habs inzwischen dreimal gelesen) und viele weitere folgten. Gib ihm eine Chance - er ist großartigst!

  • *unterschreib*

    Ich würde eher bei >Letzte Nacht in Twisted River< unterschreiben, aber wie auch immer;

    Irving ist und bleibt großartig. :bounce:

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Haruki Murakami - Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

    :study: Joseph Roth - Hiob (MLR)

  • "Vom Ende der Einsamkeit" war mein erstes Buch von Benedict Wells und es hat mich tief berührt. Am Ende sogar so sehr, dass ich regelrecht etwas Angst vorm Weiterlesen hatte. Wie der Protagonist mit seiner Trauer umgeht und darüber spricht hat mich sehr bewegt. Die Geschichte war nicht lang und trotzdem bekommt man einen Eindruck, die Figuren sehr, sehr gut kennengelernt zu haben. Manchmal liest man viel längere Bücher und bekommt trotzdem nicht mal ansatzweise derartige greifbare Figuren.

    Wenn ich die anderen Meinungen so lese, sollte ich es wohl doch langsam mal mit einem Buch von Irving versuchen...

    Für dieses wunderbare Buch gibt es jedenfalls eine hohe Wertung:

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb: