Adrian Tomine - Sommerblond / Summer Blonde

  • Der Autor (anhand Wikipedia und Reprodukt.com): Der am 31. Mai 1974 im kalifornischen Sacramento als Sohn von Chris Tomine und Satsuki Ina geborene Adrian Tomine ist ein US-amerikanischer Comiczeichner, der vor allem für seine langlaufende Independent-Comic-Serie „Optic Nerve“, in der er Fiktion und Autobiografisches mischt, und seine regelmäßigen Illustrationen in den Magazinen „The New Yorker“ und „Time Magazine“. Außerdem fertigte er zwei Plattencover für die Band Eels. Seine ersten Comics veröffentlichte er mit 16 Jahren im Selbstverlag, seit 1995 wird „Optic Nerve“ vom kanadischen Comicverlag „Drawn and Quarterly“ herausgegeben. In den ersten acht Bänden wurden bis 2001 jeweils mehrere Kurzgeschichten zusammengefasst. Nach einer Pause, in der er ein Studium der englischen Literatur an der Universität Berkeley abschloss, arbeitet Tomine seit 2004 wieder an der Serie. Inzwischen gibt es 14 Ausgaben. 1996 erhielt er den Harvey Award in der Kategorie „Best New Talent“ und 2007 den Ignatz Award in der Kategorie „Outstanding Comic“ für Optic Nerve #11. Auf Deutsch sind bei Reprodukt einige Bände mit seinen Kurzgeschichten erschienen, die jeweils eine Sammlung mehrerer „Optic Nerve“-Ausgaben sind.


    Kurzbeschreibung (anhand Amazon und Reprodukt.com): Ein Außenseiter, der ohnmächtig mit ansehen muss, wie sein attraktiver Nachbar die von ihm krankhaft verehrte junge Frau ohne Anstrengung zu einer seiner Affären macht; eine Arbeitslose, die aus Langeweile fremde Leute anruft; ein introvertierter Junge, der sich an der High-School in ein extrovertiertes Mädchen verliebt. Die drei Geschichten, in denen Adrian Tomine hier die Generation X porträtiert, werden mit ihrer Einfühlsamkeit und zugleich Schonungslosigkeit keinen kalt lassen. Der Zeichner verschiebt darin die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion auf immer wieder überraschende Art. Keinem anderen Künstler ist es gelungen, die Eleganz und zugleich Subtilität amerikanischer Kurzgeschichten in das Medium des Comics zu überführen. “Sommerblond” machte bei seinem Erscheinen Adrian Tomine schlagartig international bekannt.


    Das Original „Summer Blond“ erschien im Juli 2003 bei „Drawn and Quaterly“. Diese Paperback-Ausgabe hat das Format 19,3 x 26,4 cm, umfasst 132 Seiten und enthält die vier Comic-Erzählungen, die in der Reihe „Optic Nerve“ in den Ausgaben fünf bis acht erstveröffentlicht wurden. Die deutsche Ausgabe unter dem Titel „Sommerblond“ erschien im August 2004 bei Reprodukt. Diese Softcover-Ausgabe hat das Format 17 x 26 cm, umfasst 104 Seiten und enthält nur die drei Comic-Erzählungen, die in der Reihe „Optic Nerve“ in den Ausgaben sechs bis acht erstveröffentlicht wurden. (Optic Nerve #5 "Alter Ago" von 1998 fehlt somit in der deutschen Ausgabe.) Die Übersetzung aus dem Amerikanischen besorgte Björn Laser, das Lettering Marion Gerth, Handlettering Dirk Rehm. Die Zeichnungen sind schwarz-weiß.


    Enthalten sind die Geschichten „Sommerblond“ (OT: "Summer Blonde" = Optic Nerve #7; 2000), „Trip nach Hawaii“ (OT: "Hawaiian Getaway" = Optic Nerve #6; 1999) und „Bombendrohung“ (OT: "Bomb Scare" = Optic Nerve #8; 2001). "Bombendrohung" wurde von Schriftsteller Dave Eggers in den vor allem an junge Erwachsene adressierten Sammelband "The Best American Nonrequired Reading 2002" aufgenommen, der interessante, amerikanische Kurzgeschichten präsentiert. Alle drei Geschichten der deutschen Ausgabe handeln von teilweise sehr beziehungsgestörten Außenseitern, die mit der Gesellschaft, ihrem direkten Umfeld oder ihrer Familie nicht zurecht kommen, und ihrem "sinnlosen" Streben nach Glück und Anerkennung.


    Zitat

    „Sie müssen mich wirklich … hassen.“
    „Ja … aber nicht mehr als jeden anderen auch.“ (S. 36)


    Die Titelgeschichte erzählt von dem schüchternen Neil, der große Schwierigkeiten hat, Frauen anzusprechen, unsterblich in die junge Verkäuferin einer Papierwarenhandlung verliebt ist, die natürlich bereits einen Freund hat, aber dennoch - wie es der Zufall will - obendrein von Neils neuem Mitbewohner Carlo, einem oberflächlichen Rockmusiker und Frauenverbraucher abgeschleppt wird. Neil missdeutet jedes freundliche Lächeln seiner Angebeteten. Eine harmlose Annäherung in dem Moment, als es ihr besonders dreckig geht, führt nur zu Unmut.


    Hillary Chan, die Hauptfigur der zweiten Geschichte, ist die älteste Tochter zweier in den USA lebender Chinesen. Sie ist menschenscheu, aber schnippisch, etwas übergewichtig und verliert ihren Call-Center-Job in der Bestellannahme eines Warenhauses, als sie einem anrufenden Prominenten zu witzig-kumpelhaft begegnet. Ihr Eltern finden, sie sollte mehr aus sich machen, und das Leben in die Hand nehmen. Auch ihre jüngere Schwester, die „gute Tochter“ der Familie, redet ihr unnötig ins Gewissen. Ihr Mitbewohner findet sie schwierig, ihr Date mit dem viel älteren Moderator eines Oldie-Radiosenders, bei dem sie wegen eines Gewinnspiels anrief, verläuft wenig beglückend. Aus purer Langweile ruft sie den öffentlichen Münzfernsprecher auf der ihrer Wohnung gegenüberliegenden Straßenseite an, um Passanten, die neugierig den Hörer abheben, zu ärgern, beleidigen oder zu ängstigen.


    Die dritte Geschichte handelt von dem schüchternen Teenager Scotty, der für schwul gehalten wird, da er immer mit Alex, dem interessanten Sonderling der Schule, abhängt. Bei seinem Schülerjob in einem Café lernt er seine Kollegin und Mitschülerin Cammie näher kennen, die mit dem Widerling der Schule, der auch Scotty terrorisiert, eine Affäre hat. Cammie trinkt gerne einen über den Durst, weswegen sie auf Partys schon oft in sehr schmächliche Situationen geriet, wodurch sie in der Gunst ihrer Mitschüler inzwischen recht tief gesunken ist. Als Scotty, der von sich behauptet, an Sexualität überhaupt kein Interesse zu haben, die homophoben Anfeindungen in der Schule zu viel werden, verbreitet er Lügen über Alex, um selber populärer zu werden. Gleichzeitig versucht er seine Freundschaft zu Cammie zu intensivieren, was anders endet, als gedacht.


    Adrian Tomine hat sehr niederdrückende Geschichten von unglücklichen, verschämten und gehemmten Menschen verfasst, deren Streben nach persönlichem Glück selten gelingt. Höhenflüge sind nicht zu erwarten, eher Ruhepausen, in denen die unübersichtliche moderne Welt kurz still hält und der stressige Umgang mit anderen Menschen zum Erliegen kommt. Oft verletzen die Protagonisten, so ungeschickt sie im Umgang mit anderen sind, bei ihrer Suche nach Ruhe, Glück, Liebe, Nähe und Anerkennung ihre Mitmenschen und die wenigen, die ihnen wohlgesonnen sind. Schonungslos stößt Tomine seine Figuren immer tiefer hinein in ihr Unglück, solange sie sich nicht selber aus dem Dreck ziehen. Doch der große Knall bleibt in den Erzählungen stets aus, obwohl alle Vorzeichen auf Sturm stehen: Am Ende kehrt Ruhe ein, wenn die Protagonisten außer Atem die Lage neu sondieren, nachdem so vieles auf dem Weg kaputtgegangen ist. Doch nichts ist wirklich besser geworden, außer, dass die eigenen Schwächen noch deutlicher zu Tage treten.


    Der Zeichenstil ist sehr nüchtern, mit klaren Linien, vielen schwarzen Flächen und immer recht nah an den Figuren. Er erinnert noch ein wenig an Daniel Clowes (was ja nicht die schlechteste Referenz ist). Der Zeichnung der Figuren liegt eine genaue Beobachtung der Menschen zugrunde: Mit leichter Hand werden innere Befindlichkeiten - in der Außenhaut durchschimmernd - kenntlich gemacht. Vor allem die Körperhaltung der Figuren ist außerordentlich aussagekräftig. Der Ton und die Erzählhaltung sind einfühlsam und lakonisch. Man kommt dem inneren Saustall der Menschen näher, als man es sich oft wünscht. Tomines Geschichten tun weh und lassen einen verwundet und leergepumpt zurück. Gut beobachtet, nicht zuletzt - wie oft bei Tomine - auch am Rande: Nicht nur die Hauptfiguren, auch die Nebenrollen und Seitenschauplätze sind mit der gleichen Sorgfalt erzählt und gestaltet, wie der Mittelpunkt der Erzählung: die einsame Mutter des einen, die seltsame Begegnung auf einer Party, der stille Freund eines Mädchens - viele traurige Gestalten. Es sind keine reinen Verlierergeschichten, die hier präsentiert werden, sondern eine ganze Welt aus stillem Leid und vergeblicher Hoffnung auf Besserung. Die eine Hälfte der Menschheit lässt sich gerne betrügen und die anderen resigniert und krankt an sich selbst.


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    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


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    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Die englische Ausgabe beim kanadischen Comicverlag "Drawn and Quarterly" von 2003, die als vierte Geschichte noch "Alter Ago" aus Optic Nerve #5 von 1998 enthält. Darum hat diese Ausgabe auch 132 Seiten.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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  • Da hat @Jean van der Vlugt wirklich nicht zu viel versprochen. Was er zum Inhalt geschrieben hat, passt wie die Faust aufs Auge. "Sommerblond" war einfach nur genial. Bemerkenswert fand ich, dass es nicht die typischen Außenseitergeschichten mit dem standardmäßig zu Unrecht geschassten Sonderling waren. Es waren Figuren, die man zunächst gern haben wollte, aber es einfach nicht konnte oder kann man Spanner, Lügner und Verräter uneingeschränkt mögen? Es waren also definitiv keine Sympathieträger, aber wahnsinnig interessante Personen, teilweise fast schon zu menschlich. Eine großartige Graphic Novel!
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