Garth Risk Hallberg - Ein Naturführer der amerikanischen Familie / A Field Guide to the North American Family

  • Der Autor (Wikipedia): Der 1978 in der Nähe von Baton Rouge, Louisiana geborene Garth Risk Hallberg ist ein US-amerikanischer Schriftsteller. Seine Eltern waren Lehrer. Sie ließen sich scheiden, als ihr Sohn 13 Jahre alt war. Hallberg wuchs in Greenville in North Carolina auf, wo er als 16-jähriger Jugendlicher bei einem Schreib-Workshop an der Duke University mit Literatur in Kontakt kam und in der Folgezeit zu schreiben begann. 1996 fuhr er zum ersten Mal nach New York City, eine Stadt, die inzwischen seine Heimat wurde. Hallberg beendete seine Studien mit einem Master of Fine Arts an der New York University. Hallberg veröffentlichte sein erstes Buch im Jahr 2007 und ist bis heute der Autor von Beiträgen und Kritiken in verschiedenen US-amerikanischen Zeitschriften wie "The Millions". In seinem zweiten Roman "City on Fire" aus dem Jahr 2015 befasst er sich mit dem Blackout in New York City im Jahr 1977. Der Autor lebt mit Ehefrau und zwei Kindern im New Yorker Stadtteil Brooklyn.


    Inhalt (Amazon): Die Hungates und die Harrisons sind Nachbarn in einem New Yorker Vorort. Jack und Frank leihen einander ihr Werkzeug, Marnie und Elizabeth verbringen die Nachmittage gemeinsam am Pool, die Kinder sind im gleichen Alter. Manchmal trifft man sich auch am Wochenende zu einem Barbecue. Kurzum, die nachbarlichen Verhältnisse könnten nicht besser sein. Doch nach dem plötzlichen Tod von Frank Harrison gerät die Welt aus den Fugen. Die Hungates lassen sich zur großen Überraschung aller Nachbarn scheiden, und Frank Harrisons Tochter Lacey verliebt sich in deren Sohn Gabriel, was eine Reihe von Verwicklungen auslöst, die in einer Katastrophe enden. Mit großer Beobachtungsgabe schaut Garth Risk Hallberg hinter die brüchigen Fassaden der amerikanischen Familie und erzählt eine berührende Geschichte über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und das flüchtige Glück des Erwachsenseins. Ein faszinierender, ungewöhnlicher Roman in Form eines Naturführers, der dem interessierten Leser die Möglichkeit gibt, die vom Aussterben bedrohte Spezies der amerikanischen Familie in ihrem natürlichen Habitat zu beobachten. Mit farbigen Bildtafeln, Bestimmungsschlüssel und Schlagwortregister. Für den Laien ebenso geeignet wie für den wissenschaftlichen Gebrauch.


    Bei dem Titel erwartet man möglicherweise ein humoriges Buch, das versucht, mit Analogien zwischen tierischem und menschlichem Verhalten und einer möglichst komischen Imitation von Ton und Aufmachung bekannter Naturführer eingängige und plakativ ironische, dabei jedoch im Grunde einfach gestrickte Witz-Unterhaltung zu liefern. Weit gefehlt: Das Buch will weder witzig sein, noch ist es eine billige Imitation von Naturführern. Stattdessen handelt es sich um ein literarisches Experiment, das in einer sehr anregenden Nebeneinanderstellung von künstlerisch anspruchsvollen Fotografien diverser Künstler und Kürzest-Erzählungen bzw. literarischen Skizzen von Garth Risk Hallberg eine eigenwillige Annäherung sowohl an die amerikanische Familie mit all ihrem Schrecken und all ihren Klischees, als auch an den amerikanischen Familienroman versucht.


    Aufgemacht wie ein nach (unsortierten) Schlagworten angeordnetes Lexikon werden in den größeren Abschnitten „Wandertiere“, „Vom Aussterben bedroht“, „Kuriositäten, Mischformen und einige weitverbreitete Schädlinge“ und „Fleischfresser“ pro Doppelseite ein Schlagwort (u.a. Freiheit; Untreue; Trauer; Fragen, quälende; Tradition), ein erzählerischer Text aus der Sicht unterschiedlicher Figuren aus den zwei handelnden Familien, dessen manchmal erst zu erschließender Bezug zum Schlagwort schon so manche Erkenntnis liefern mag, ein Foto mit Bildunterschrift, die - am ehesten einen Naturführer imitierend - das Schlagwort in „seinen Lebensraum“ verortet und gegebenenfalls eine Aussage über das häufige Auftreten des durch das Schlagwort bezeichneten Phänomens im Leben der Menschen liefert, sowie Verweise auf sinnvoll verwandte Schlagworte aufgeführt, die ansonsten in diesem Buch enthalten sind. Wer mag kann also, anstatt einfach umzublättern, an einer der hier empfohlenen, thematisch benachbarten Stellen weiterlesen. So lassen sich diverse Zugänge zum Buch und zur amerikanischen Vororthölle finden.


    Im Ganzen ist das mit Fug und Recht als Roman bezeichnete Buch (ein Roman, wenn es auch in einzelne Abschnitte zerfällt) künstlich auf alt und gelesen getrimmt, wie ein altes Leihbuch aus der Bibliothek, mit wechselndem Seitenlayout, das mal wie ein Schreibheft, mal wie zerknittertes Papier, mal wie ein Tagebuch mit Eselsohren ausschauen soll. Die Schrifttype ähnelt dem Schriftbild einer Schreibmaschine, was dem Buch einen intimen Anstrich verleiht. Vorangestellt ist ein Zitat des früh verstorbenen US-Schriftstellers James Agee: „Ein Teil des Körpers an den Wurzeln ausgerissen trifft es vielleicht besser.“ Ähnlich kryptisch wie der Bezug hierbei, werden auch so manche Bezüge im sich anschließenden "Naturführer der amerikanischen Familie“ sein.


    Das Original „A Field Guide to the North American Family“ erschien 2007 bei Mark Batty Publisher in New York mit 63 von verschiedenen Künstlern angefertigten fotografischen Bildtafeln: Fotografien, die die Künstler auf Einladung des Autors zu einem bestimmten Schlagwort des Buches, nicht aber konkret zur Handlung, aus ihrem eigenen Werk ausgewählt haben. Die deutsche Übersetzung aus dem Englischen besorgte Matthias Müller. Die deutsche Ausgabe erschien 2010 als Hardcover bei der Verlagsbuchhandlung Liebeskind in München. Sie umfasst wie das Original 144 Seiten.


    Es sind Schlaglichter, Bausteine einer Romanerzählung, die einen teilweise sehr hellsichtigen, Brüche und Knackse bloßlegenden Blick auf den profanen Alltag und auf die Menschen werfen, Menschen voller Selbstvorwürfe und nicht eingestandener Probleme, die mehrheitlich Trauerarbeit leisten oder Abschied nehmen müssen von einem geliebten Menschen oder einem eingefahrenen Lebensstil; in unaufgeregtem, erwachsenem Tonfall dargeboten. Niemals kam mir der Gedanke, hier wolle ein Jungspund-Autor Erfahrung oder Bedeutung antäuschen, indem er einen hochtrabenden Ton anschlägt. Die Haltung ist ehrlich und tiefsinnig, die Sprache klar und im Grunde einfach. Dass die Geschehnisse manchmal kryptisch und verklausuliert wirken, liegt wenn überhaupt an den Lücken der Erzählung, an der fragmentarischen Form, die nicht alles berichtet und manches im Raum stehen lässt.


    Garth Risk Hallberg versammelt lauter Klischee-Situationen von amerikanischen Vorstadtfamilien und konfrontiert sie mit diversen tragischen Schicksalsschlägen, die alle mit dem Rissigwerden familiärer Fassaden und dem Auseinanderbrechen bestehender Verhältnisse zu tun haben, auf dass diese Klischees schließlich bis zur Farce überdehnt werden, aus der wiederum Erkenntnis, Einsicht oder Mitgefühl entsteht. Weniger Mitgefühl mit den handelnden Figuren, sondern echtes Mitgefühl für echte Menschen im wirklichen Leben. Ein Einfühlen in Situationen, in denen man an Grenzen stößt oder in denen Bestehendes in Frage gestellt wird. Wie liest man an einer Stelle: "So etwas wie gute Gewohnheiten gibt es nicht." (S. 52). Wäre das Buch als klassischer Familienroman geschrieben, wäre die Ansammlung von Schicksalsschlägen nicht anders als unfreiwillig komisch zu nennen. Durch das reine Anticken von medialen Klischees, die episodenhafte oder fragmentarische Lückenhaftigkeit sowie die ungeordnete und in der Zeit springenden Abfolge, die eine gewisse Eigenleistung des Lesers im Zusammensetzen der Geschehnisse erfordert, vermeidet der Autor die Rührseligkeit eines Schicksalsromans und schafft Nähe und Tiefe.


    Nach und nach ergibt sich ein Gesamtbild zweier benachbarter Familien, die fast gleichzeitig und vielleicht einander bedingend auseinanderbrechen. Trotz aller Lücken fühlte ich mich den Figuren sehr nahe. Anders gesagt appellieren die Schilderungen der Vorgänge, des Verhaltens und der Gefühle der Figuren an eigenes Verhalten und eigene Gefühle. Einige wichtige Themen sind unterschiedliche Arten der Trauerarbeit, die Suche nach Lebenssinn und Anerkennung durch andere, die Schrecken des Erwachsenwerdens und die sackgassige Langeweile in Midlife-Krisen sowie das Wegbrechen sicher geglaubter Lebenswelten. Die Darbietung des Romans in unverbundenen, nicht chronologischen Bröckchen ist also keine ästhetische Spielerei, kein verkaufsförderndes Alleinstellungsmerkmal und kein schöntuendes Buhlen um Aufmerksamkeit. Es ist nicht der cleverer Kniff eines narrativ gescheiterten Autoren, um eine langweilige Geschichte schick zu verkaufen oder einen nicht zu bändigenden Wust von einzelnen Episoden doch noch unter die Leute zu bringen. Stattdessen nähern sich die Brüchigkeit von Familie und der Romanform einander an. Nicht alles kann der gefällige Roman glätten, was innerlich schon zerbrochen ist.


    Das Buch ist ein großer Wurf, der zum Mehrfachlesen geradezu einlädt. Am Ende ist man nicht schlauer, aber sehr angeregt. Und vor allem: berührt! Für Freunde gesellschaftskritischer Familienromane aus US-amerikanischen Vororten ein ebenso großes Vergnügen wie für Liebhaber literarischer Spielereien und wirklich schön aufgemachter Bücher.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Das amerikanische Original von 2007. Es wird als "illustrated novella" angepriesen, nicht als "Roman" wie in der deutschen Ausgabe. (Interessanterweise wird das zweite Buch des Autors, der 1000-Seiten-Romanwälzer "City on Fire" mehrheitlich als Debütroman vermarktet, wohl da er der geschlossenen Form halber mehr als das "Field Guide" wie ein waschechter Roman wirkt.)

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


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