Thomas Pynchon - Die Enden der Parabel / Gravity's Rainbow

  • Die Prämisse ist so bescheuert wie genial: Immer, bevor die deutschen V2-Bomben fallen, bekommt der in London stationierte GI Tyrone Slothrop eine Erektion. Das ist ganz praktisch, da die V2-Raketen mit Überschall unterwegs sind – wenn man sie hört, ist man schon tot. Während London im Winter 1944 im deutschen Bombenhagel versinkt, zeigt daher eine ganze Reihe von Organisationen Interesse an Slothrops „Fähigkeit“. Bald schon sieht sich Slothrop in ein großes Komplott der Geheimdienste verstrickt. Alle sind hinter ihm her: Spione, übersinnlich begabte Medien, Pawlow-Anhänger, attraktive holländische Undercover-Agentinnen, ein Oktopus, u.s.w. Slothrop entwischt und bricht auf zu einer Odyssee durch das kriegsgebeutelte Deutschland, auf der Suche nach einer besonders mysteriösen Rakete – auf die es die alten Häscher ebenso abgesehen haben wie Dutzende weitere Gestalten.
    Und ja, das ist alles genauso albern, wie es klingt.


    So, das war also mein erster Pynchon... Sein Opus magnum wird vielfach als unlesbar bezeichnet. Dem kann ich nicht zustimmen, es ist lesbar, q.e.d.
    (Allerdings: Bei der Lektüre des englischen Originals hilft es ungemein, Englisch und Deutsch zu beherrschen. Englische Muttersprachler ohne Deutschkenntnisse stehen vermutlich vor dem Buch wie Nicht-Lateiner vor Der Name der Rose - vor einer Ausgabe ohne Übersetzungen im Anhang. Für deutsche Leser sollten sich diese Schwierigkeiten erübrigen. Dafür fallen einem dann die ständigen Grammatikfehler auf. Die nerven echt.)


    Pynchon kann unzweifelhaft grandios mit Sprache umgehen (mit der Englischen zumindest), und das ganz ohne „Schau mal, ich hab einen Thesaurus auswendig gelernt“-Attitüde. Mal manisch getrieben, mal technisch genau springt er hin und her zwischen den verschiedenen Prosa-Stilen und treibt den Leser unerbittlich durchs Buch.
    Die Geschichte wird nicht linear erzählt, sondern nimmt unzählige Abschweifungen und folgt einer großen Anzahl von Personen. In einem je nach Ausgabe 760 - 902 Seiten währenden Bewusstseinsstrom wechselt Pynchon fließend zwischen den Erzählperspektiven, zwischen den Zeitebenen, zwischen Realität, Traum und Halluzination. Das gleicht einem dieser Filme, die komplett ohne Schnitt gedreht sind. Tatsächlich ist Pynchon deutlich vom Film inspiriert, verwendet aus dem Film und dem Musical entlehnte Stilmittel, die in Buchform eher ungewöhnlich wirken. Oder an Melville erinnern. Mal wieder (bei Melville war es natürlich das Theater, nicht der Film). Dabei reitet Pynchon durch ein Sammelsurium an Themen (Paranoia, Besessenheit, Eros, Thanatos, Paranoia, Tod und noch etwas mehr Paranoia), Motiven (aus Mystik und Esoterik ebenso wie aus der Wissenschaft) und Referenzen (Nabokov, Lewis Carroll, der bereits erwähnte Melville, Rilke, Fritz Lang, Stanley Kubrick, Superhelden-Comics, Grimms Märchen, u.s.w.). Darauf möchte ich gar nicht im Einzelnen eingehen, das findet am besten jeder für sich selbst heraus. Einige seiner zentralen Bilder reitet Pynchon dabei leider auch zu Tode, etwa das Bild des weißen Wals (nun ja) Todes. Oder das Bild der Rakete als Phallussymbol, Freud lässt herzlich grüßen. Sonderlich subtil ist er dabei nicht. Immerhin: Fast alle historischen und wissenschaftlichen Fakten halten einer Überprüfung stand.
    Seine Charaktere dienen derweil eher als Personifikationen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale und -störungen denn als wirkliche Persönlichkeiten. Einige sind bis ins Comichafte überzogen, um dann plötzlich doch überraschende Tiefe zu zeigen. Das soll wohl typisch für diesen Autor sein, sagte man mir.


    Die fließende Erzählweise machte es für mich zu Beginn manches Mal nötig, zurückzublättern und zu schauen: Wo bin ich hier eigentlich, wann bin ich und mit wem bin ich hier? Darin liegt aber auch der große Reiz dieses Buches: im Sich-mitreißen-lassen und einfach mal schauen, was passiert. Dann bleibt nur noch die Frage: Was und wie viel passiert wirklich und was ist irgendjemands Traum oder paranoide Drogenfantasie?


    Seine größte Stärken zeigt Pynchon dann, wenn er komplett ins Surreale abgleitet. Das wird manchmal ziemlich eklig – Irvine Welshs dreckigste Toilette Schottlands ist nichts gegen Slothrops Suche nach seiner Mundharmonika – aber Pynchon schreibt in diesen Passagen mit einer verspielten, extrem unterhaltsamen Leichtigkeit. Und wer schon immer einmal ein Kapitel über größenwahnsinnige, unsterbliche Glühlampen lesen wollte: bitte sehr, gibt’s hier auch. Ebenfalls stark sind die Passagen, in denen er sämtliche Albernheiten mal beiseite lässt und tatsächlich über den Krieg schreibt. Nicht über bestimmte Ereignisse, sondern über die Auswirkungen des Krieges auf die Menschen.


    Der Humor – ja, den Humor muss man mögen. Relativ oft bewegt die Komik sich auf dem Level alter Film-Klamotten und auf dem Niveau von „Hihi, er hat 'Erektion' gesagt!“ In gewisser Weise ist Das Buch ist ein 902 Seiten langer Peniswitz. Die Pointe kann man blöd finden.


    Schwächen gibt es auch: Manche Passagen wirken leider so, als hätte Pynchon sie nur eingefügt, um möglichst schräg zu sein, oder möglichst provokativ. Was fährt er nicht alles auf: S&M, Pädophilie, Koprophilie, Sodomie, Zoophilie - fast jede Sexualpraktik, die den Leser eventuell abstoßen könnte, findet sich in diesem Buch. Das ist so unoriginell wie langweilig und sehr 1960er/1970er, ebenso wie die Besessenheit mit bewusstseinsverändernden Substanzen (hey, es soll immerhin Timothy Learys Lieblingsbuch gewesen sein).


    Fazit:
    Ich lese zur Unterhaltung, die einzige Frage, die mich nach Lektüre eines Buches interessiert, ist: Hat es mich unterhalten? Im Falle von Gravity's Rainbow lautet die Antwort „überwiegend ja“. Leider ist der Ruf des Buches etwas größer als das eigentliche Werk. Das Buch wird so kontrovers diskutiert, so sehr geliebt und so abgrundtief gehasst – ich hatte mehr erwartet. Mehr Skurrilität. Mehr Wahnsinn. Mehr Herausforderung. Oder vielleicht auch weniger: Weniger Struktur. Weniger Lesbarkeit. Weniger Konformismus. Was ich bekommen habe, ist ein gut geschriebener, US-amerikanischer PoMo Roman aus den 1970ern, teilweise sehr vorausschauend, aber eben nicht zeitlos. Und doch sehr in der Tradition von Melville, Joyce, Nabokov.
    Was ihn positiv von anderen, späteren post-modernen Romanen unterscheidet, ist vielleicht die Menschlichkeit und die damit verbundene Wut gegenüber Ungerechtigkeiten, die hier bei aller Screwball-Comedy von Zeit zu Zeit durchscheint. Der weitestgehende Verzicht auf Zynismus und Misanthropie. Andere, „professionelle“ Kritiker haben Pynchon bzw. Gravity's Rainbow häufig Kälte vorgeworfen – ein Vorwurf, den ich absolut nicht bestätigen, den ich nicht mal nachvollziehen kann!


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:


    Über den Autor
    :pale: --> so sieht Thomas Pynchon bei den Simpsons aus.
    Geboren 1937 auf Long Island, New York, ist Pynchon heute bekannt als Autor postmoderner Romane und dafür, dass er sich seit Erscheinen seines Debütromans V. im Jahr 1963 von der Öffentlichkeit abschottet. Er hat zunächst Physik studiert, dann Literatur an Cornell University, bei Nabokov übrigens. Kurzzeitig musste er sein Studium unterbrechen, um zur Navy zu gehen. Die Enden der Parabel / Gravity's Rainbow erschien 1973 als Pynchons dritter Roman und gilt bis heute als sein Hauptwerk.


    Ich hab die englische Originalausgabe gelesen, zur Übersetzung kann ich nichts sagen.

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño

  • Hier noch die Ausgabe, die ich gelesen habe - die 902-seitige.


    Das ist übrigens eines der wenigen Bücher, bei denen ich mir wirklich gerne das Hörbuch antun würde. 30 Stunden! 30! Der arme Kerl, der das eingelesen hat. Ich hoffe, er hat ausreichend Geld dafür bekommen.

    "Selber lesen macht kluch."


    If you're going to say what you want to say, you're going to hear what you don't want to hear.
    Roberto Bolaño