Katrin Unterreiner & Sabine Fellner - Frühere Verhältnisse

  • Inhalt
    Die beiden Autorinnen befassen sich im vorliegenden Buch mit Sitte und Moral in der Donaumonarchie im 19. Jahrhundert, und verweisen im Vorwort auf die Tatsache, dass damals jedes zweite Kind unehelich zur Welt kam. Die Frage, wie dies "in der guten alten Zeit" möglich war, als bereits ein entblößter Frauenknöchel zu einem Skandal führen konnte, versuchen Sabine Fellner und Katrin Unterreiner in ihrem lesenswerten Buch zu beantworten.
    Außereheliche Verhältnisse gehörten in Wien um 1900 in allen gesellschaftlichen Schichten zum Alltag. Während sich reiche Adelige aus unglücklichen Ehen flüchteten, indem sie sich eine Affaire leisteten, konnten die Angehörigen der untersten sozialen Schichten oftmals keinen eigenen Hausstand gründen. Dementsprechend hoch war die Zahl der ledigen Mütter. Frauen jeden Standes konnten die "Frucht ihres Fehltritts" im 1784 gegründeten Gebär- und Findelhaus gegen Bezahlung und unter Wahrung ihrer Anonymität zur Welt bringen. Von hier aus wurden die Kinder auf Kostplätze vermittelt, wobei wirtschaftlich schlechter gestellte Mütter durch die unzureichende Versorgung nicht selten den Tod ihres Kindes in Kauf nehmen mussten.
    Das Wissen um Verhütungsmittel war von Unkenntnis und Vorurteil geprägt, Abtreibungen verboten. Als sicheres, wenngleich sehr gefährliches "Mittel gegen Störungen" war der Schwangerschaftsabbruch dennoch oft der letzte Ausweg für viele verzweifelte Frauen.
    Anhand zahlreicher Beispiele aus Dichter- und Künstlerkreisen (Arthur Schnitzler, Felix Salten, Gustav Klimt), sowie etlichen Erzherzögen des Hauses Habsburg, untersuchen die beiden Historikerinnen die gesellschaftliche Akzeptanz der Geliebten, ihre finanzielle Situation, vor allem aber auch den Umgang mit den aus diesen Verbindungen hervorgegangenen Kindern.


    Mein Eindruck
    Mit diesem Buch habe ich einen sehr guten Griff gemacht, und konnte einen kritischen Blick auf die Schein- und Doppelmoral der sogenannten "feinen Gesellschaft" im Wien des 19. Jahrhunderts werfen.
    Diskretion hieß wohl ein wichtiges Zauberwort dieser Zeit, unter deren Deckmantel allerhand Verbotenes stillschweigend toleriert wurde. Männer konnten ihre "zweite Menage" mehr oder minder öffentlich leben, solange der Schein gewahrt blieb. Oftmals duldeten die von der Haushaltsführung und Kindererziehung ausgelaugten Ehefrauen eine Affaire ihres Angetrauten nicht nur, sondern förderten sie sogar. Doch wehe dem, der sich nicht an die gesellschaftlichen Spielregeln halten wollte, und aus den Normen auszubrechen versuchte. In solchen Fällen mussten vor allem Frauen (auch aus allerhöchsten Kreisen) damit rechnen, in eine Irrenanstalt eingewiesen zu werden (wie am Schicksal der belgischen Prinzessin Louise von Sachsen-Coburg eindrucksvoll dokumentiert).
    Wie sehr diese allen moralischen Grundsätzen widersprechende Lebensweise gang und gäbe war, wird auch am Beispiel eines sittenstrengen österreichischen Kaisers gezeigt. So forderte Franz Joseph I., der stets mit Argusaugen über standesgemäße Verbindungen in seinem Hause achtete, seine 18-jährige, geschiedene Geliebte Anna Heuduck, ganz ungeniert auf, ihn "ohne das lästige Mieder im Bett zu erwarten". Und auch über eine großzügige finanzielle Abfertigung dürfte sich die kaiserliche Geliebte nach Beendigung des Verhältnisses freuen.
    Besonders gut gefallen hat mir, dass auch auf die schwierige Situation der unverheirateten Dienstmädchen, Verkäuferinnen und Fabrikarbeiterinnen eingegangen wird. Das Bild vom "süßen Wiener Mädel" steht in krassem Gegensatz zum harten Alltag dieser Frauen, der bei einer ungewollten Schwangerschaft kaum noch zu bewältigen war, und nicht selten in einer Katastrophe endete.
    Die beiden Autorinnen verstehen ihr Wissen in einem flüssigen, gut lesbaren Stil zu vermitteln, weshalb ich diese Lektüre für alle an Milieu- und Sozialstudien Interessierten sehr gut geeignet finde.

  • Ich habe dieses E-Book gerade beendet und kann die Rezension von Sylli nur unterschreiben. Ein kurzes, aber sehr informatives Buch! Mir hat die umfangreiche Bibliographie im Anhang gefallen, da können Leser mit Interesse an den Habsburgern, bzw. an Leben und Sitten im Österreich des 19. Jahrhunderts einige interessante Anregungen finden.

    Etwas überraschend fand ich es, dass auch verheiratete Frauen der "besseren" Gesellschaft Affären haben durften, solange sie sich dabei diskret verhielten. Erst bei grober Indiskretion oder Scheidungsabsichten drohte die Unterbringung in der Irrenanstalt.

    Die beiden Autorinnen verstehen ihr Wissen in einem flüssigen, gut lesbaren Stil zu vermitteln, weshalb ich diese Lektüre für alle an Milieu- und Sozialstudien Interessierten sehr gut geeignet finde.

    Dieser Aussage schließe ich mich gern an, auch wenn ich mich bei der E-Book Ausgabe über allerhand Interpunktionsfehler (fehlende Kommata) geärgert habe.

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    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
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    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998