Monika Held - Trümmergöre

  • Kurzmeinung

    nordlicht
    Sehr interessant, wie sich Kindheitserlebnisse auf das gesamte Leben auswirken können, sehr lesenswert
  • Kurzmeinung

    aida2008
    kurze knappe Kapitel, gut geschrieben,
  • Klappentext:
    Jula ist ein kleines Mädchen in der Hamburger Nachkriegszeit. Für sie sind Trümmer und halbe Häuser normal. Sie spielt "Der Russe kommt", "Wir bauen ein KZ" oder "Opa hat sein Bein verloren". Am liebsten ist sie auf dem Platz, wo ihr Onkel Gebrauchtwagen verkauft, ihre Schularbeiten macht sie in der Kneipe auf der Reeperbahn. Als sie zwölf wird, holt sie ihr Vater - der im diplomatischen Dienst und deshalb abwesend war -, um aus der "versauten Göre" eine höhere Tochter zu machen. Und Jula beginnt ein perfektes Doppelleben zwischen Alstervilla und Ganovenkiez. (Amazon)


    Zur Autorin:
    Monika Held: Aufgewachsen in Hamburg und Cuxhaven. Lehre als Verlagskauffrau, Volontariat bei der Hannoverschen Presse. Arbeit fürs Radio, Autorin der Zeitschrift Brigitte. Für ihre publizistische Arbeit über das Kriegsrecht in Polen und die Hilfstransporte zu den Überlebenden von Auschwitz wurde sie mit der polnischen Solidarnosc-Medaille ausgezeichnet. „Der Schrecken verliert sich vor Ort“ ist ihr dritter Roman. Bei Eichborn erschienen „Augenbilder“ und „Melodie für einen schönen Mann“. Monika Held lebt in Frankfurt am Main. (Eichborn-Verlagsseite)


    Allgemeine Informationen:
    Rahmenerzählung der erwachsenen Jula, in die ihre Kindheitserinnerungen eingebettet sind;
    Ich-Erzählung
    237 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Die Fahrlehrerin Jula, wohnhaft in Hamburg, führt seit einigen Jahren mit einem schwäbischen Zahnarzt eine Fernbeziehung; sie suchen nach einer Möglichkeit, zusammen zu ziehen, als Jula zufällig in der Zeitung auf eine Annonce stößt, in der die Wohnung angeboten wird, wo sie ihre Kindheit verbrachte.
    Vom Vater wurde sie mit vier Jahren bei der Großmutter abgesetzt, weil er – verwitwet – im auswärtigen Dienst von Land zu Land geschickt wurde. Julas Oma lebte zusammen mit ihrem zweiten Sohn in der Wohnung, aber so, dass beide sich nie begegneten. Erst am Ende des Buches erfahren Jula und der Leser, warum.
    Acht Jahre später holt der Vater sie wieder zu sich. Er ist nun sesshaft und wünscht, dass seine Tochter fleißig, ehrgeizig und bürgerlich wird. Doch Oma und Onkel habe sie zu sehr geprägt.


    Vor dem Auge des Lesers ersteht Hamburg zur Nachkriegszeit, verwüstete Straßenschluchten, Häuserruinen, Schutt, Steine, Müll durchsetzt mit Überbleibseln aus Haushalten und Einrichtungen. Aber die ersten Gewinner des Chaos treten bereits auf und bereiten sich auf das vor, was später „Wirtschaftswunder“ genannt werden soll.
    Die Großmutter achtet auf Jula, sorgt sich um sie und bietet ihr ein Zuhause. Doch wirklich zuhause ist das Mädchen bei seinem Onkel, der mit einem Gebrauchtwagenhandel viel und schnell Geld verdient, kennt nach einiger Zeit Automarken und Innenleben der verschiedenen Wagen. Gegenüber der Freiheit ist Schulwissen zweitrangig.
    Das soll sich beim Vater ändern. Nach schmerzhaftem Abschied von der Großmutter, dem Onkel und dessen zwielichtigen Freunden gelingt es Jula, ihren Tag zwischen dem Vater und dem Autohandelsplatz aufzuteilen. Bis der Onkel anfängt, seltsam zu werden.


    Großmutters alte Wohnung wird für Jula zum Inbegriff der Erinnerungen, der schönen und der wehmütigen. Zugleich verfängt sie sich auch in ihnen, kann immer noch nicht loslassen. Noch ist nicht jeder Punkt geklärt – mancher wird es nie – und noch immer geistert das Wort „Warum“ durch Julas Kopf, obwohl die Großmutter ihr den Spruch „Schutzengel beantworten keine Warum-Fragen“ mitgegeben hatte.


    Es geht letztlich darum, ob Jula es fertig bringt, mit ihren Erinnerungen so zu leben, dass sie nicht zu einer Last für ihre und die mögliche gemeinsame Zukunft mit Erik werden. Ob sie akzeptieren kann, dass manche Geheimnisse im Dunkeln bleiben, und ob sie verzeihen kann.


    Nach ihrem Buch „Der Schrecken verliert sich vor Ort“, in dem es um das Überleben nach Auschwitz geht, hat Monika Held auch mit diesem Roman wieder ein sehr lesenswertes Buch geschrieben, in dem es auch um ein Überleben in einer schweren Zeit geht und um Protagonisten, die es trotz (oder wegen?) ihrer Vergangenheit schaffen, ein gutes Leben zu führen, zu arbeiten, zu lieben und sich selbst treu zu bleiben.


    Empfehlenswert!


    Link zu einem Interview mit der Autorin über dieses Buch.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • @Marie hat ja bereits eine schöne Rezi geschrieben, deshalb betreibe ich eher etwas brainstorming


    Mein zweites Buch von Monika Held, das ich vor etwas mehr als einer Woche beendet habe, hat mir gezeigt, dass mir der Stil der Autorin liegt, weshalb ich auch zukünftig nach anderen Romanen von ihr Ausschau halten werde.


    Besonders faszinierte mich in "Trümmergöre" die Figur des Onkels Hans und die Auswirkungen seiner Eigenarten auf seine unmittelbare Umgebung. Hans' persönliche Kriegserlebnisse führen bei ihm zu Zwangshandlungen. Deren Beschreibungen entfalten eine starke Sogwirkung und erinnerten mich auch an eigene, als Kind vorgenommene, Zwangshandlungen wie das bekannte "Nicht auf die Ritzen im Gehsteig treten, sonst passiert etwas schreckliches". Vielleicht entwickelt jeder Mensch solche Rituale in Zeiten, in denen er besonderen Halt braucht?


    Sehr gut nachvollziehbar war für mich außerdem die Auseinandersetzung Julas mit dem Haus, in dem sie quasi aufgewachsen ist und der Frage, ob sie als Erwachsene wieder dort einziehen soll. Wie sich das Leben ab 1948 in dieser Hamburger Wohnung abspielte, in der drei vom Krieg gezeichnete Menschen miteinander klar kommen (müssen), wird in der Rückblende aus Julas Sicht sehr anschaulich beschrieben.


    Den halben Stern Abzug habe ich tatsächlich für die Komponente vorgenommen, die mich (abgesehen von Maries Empfehlung) dazu gebracht hatte, den Roman zu lesen und zwar das "Doppelleben" Julas im zwielichtigen Milieu des Onkels: Die Episoden auf seinem Auto(schrott)platz haben mir gut gefallen, allerdings fragte ich mich, ob ein Kind wirklich so "unbeschwerte" Stunden in den einschlägigen Kneipen auf der Reeperbahn verbringen würde. Kurz vorher habe ich zufällig die Rezis hier im BT zum "Goldenen Handschuh" gelesen und die Aussagen, wie menschenunwürdig die Atmosphäre in diesen Spelunken teilweise war bzw. ist. In einer ähnlichen Kneipe sitzt Jula, macht ihre Hausaufgaben und sieht sogar den Mörder Honka ein ums andere Mal.
    Auch die Prostituierten scheinen für sie, bis auf ihre armseligen Unterkünfte, relativ wenig bis gar nicht mit Gewalt konfrontiert zu sein. Die Zuhälter, die Schieber, diese Welt war für meinen Geschmack einen Hauch zu "romantisiert". Im Gegensatz zu der sonstigen Trümmerwelt des zerstörten Hamburg und seiner Einwohner, deren Darstellung mich betroffen machte.
    4,5 Sterne.

  • Inhalt

    Jula ist vier Jahre alt, als ihr Vater sie auf einem Schlitten durch das verschneite Hamburg zieht, um sie bei ihrer Großmutter abzuliefern. Der Vater geht, ohne sich noch einmal umzublicken. Kein Wort über ihre verstorbene Mutter, kein Wort über die Zukunft. "Du bist jetzt vier und sehr vernünftig", heißt es. Mit der Großmutter in einer Wohnung, doch in einer völlig getrennten Welt, lebt Onkel Hans, der jüngere Bruder des Vaters. Hans kocht für sich allein, die Erwachsenen reden kein Wort miteinander, gehen sich mithilfe geheimnisvoller Zeichen bewusst aus dem Weg. Hans findet sofort Zugang zur vom Trennungsschock verstörten Jula und bringt ihr sehr bald bei, dass sie besser nicht über die Dinge spricht, die sie tagsüber gehört und erlebt hat. Details eines Kinderlebens unter Kiezgrößen und Prostituierten erfährt die Großmutter zum Glück nie, die schon immer tagsüber als Näherin gearbeitet hat.


    Onkel Hans handelt mit Gebrauchtwagen und Autoteilen, bildet mit Trümmer-Otto und Schuten-Ede ein geschäftlich außerordentlich erfolgreiches Trio. Jula verbringt ihre Tage wie Hans Maskottchen auf dem "Platz", putzt Auto-Kennzeichen und lernt außer Buchstaben und Zahlen dabei von ihm, was es über Menschen und Autos zu wissen gibt. Zahlen werden zu einem Bindeglied mit tragischer Bedeutung zwischen Onkel und Nichte. "Bummeln mit Onkel Hans war Heimatkunde ohne Schule", wird Jula als Erwachsene rückblickend feststellen. So wie Jula ihre Umwelt mit den Augen in Tischhöhe wahrnimmt, genau so fühlt es sich an, vier Jahre alt zu sein. Aus erwachsener Perspektive von heute ist die Diele von Schulturnhallen-Größe zu einem winzigen Flur geschrumpft.


    Bei jedem Gang mit der Großmutter in den Keller begegnet Jula der Krieg. Der ehemalige Luftschutzkeller trägt noch Spuren aus der Zeit der Luftangriffe auf Hamburg. Die Großmutter als großartige Geschichtenerzählerin verpackt die Bombennächte in Abenteuergeschichten. Jula erfährt, dass das merkwürdige Verhältnis zwischen Hans und seiner Mutter u. a. in Erlebnissen in diesem Keller begründet liegt. Mit 8 Jahren wird sie sich allmählich Hans auffallender Ordnungsliebe, seiner Ängste und Zwänge bewusst. Der Onkel fühlt sich beobachtet und verfolgt; kaum verwunderlich bei jemandem, der als Jugendlicher Krieg und Nationalsozialismus erlebt hat. Zwanzig Jahre später, als aus Jula längst wieder Juliana geworden ist, konfrontiert ein Verkaufsangebot für eine Wohnung im Haus ihrer Kindheit Juliana mit ihrer Nachkriegskindheit.


    Jula balanciert elegant zwischen mehreren Welten, eine für Zeiten des Umbruchs, in denen die Erwachsenen mit sich und dem Überleben beschäftigt waren, absolut treffende Wahrnehmung. Ein wichtiges Thema des Buches sind die Versuche der Erwachsenen, Kinder vor vermeintlichen Gefahren zu schützen. Was ist wirklich gefährlich, das Bekannte oder das Unbekannte? Sind Erfahrungen Erwachsener in der Gegenwart überhaupt noch anwendbar? Schützt Verschweigen Kinder? Sehr authentisch wird dieser Konflikt deutlich im auf der Straße aufgeschnappten Lied- und Versgut jener Zeit, das Peter Rühmkorf später "das Volksvermögen" nennen wird.


    Fazit

    Monika Helds großartiger, berührender Roman wirkt zunächst tragikomisch durch die Perspektive eines Kindes, das noch nicht einordnen kann, was es von den Erwachsenen aufschnappt. Erzählt wird von der Icherzählerin im Rückblick mit dem Wissen der Gegenwart. Mit Julas allmählicher Annäherung an Hans Kriegstrauma entwickelt sich die Kindheitsgeschichte zum Roman einer Generation, die über ihre Erlebnisse nicht sprechen und deshalb keine therapeutische Hilfe finden konnte.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow