Szilárd Borbély - Die Mittellosen/ Nincstelenek

  • Inhalt:
    Als der Ladenbesitzer Mózsi von der Zwangsarbeit ins Dorf zurückkehrt, hat er keine Ähnlichkeit mehr mit einem Juden. Er wird nie wieder einen schwarzen Kaftan tragen. Auch kein weißes Hemd. Er fragt nicht, wohin seine Ware sich verflüchtigt hat: »Aus dem Haus sind die Möbel verschwunden, aus den Regalen die Bücher, aus den Herzen das Erbarmen.«
    In diesem Dorf wächst Jahrzehnte später, in den 1970er Jahren, ein Junge auf, der Erzähler des Romans. Der Elfjährige muss schwere körperliche Arbeit verrichten, er friert und hungert. Nur in der Beschäftigung mit den Primzahlen findet er sich selbst – und etwas wie das Glück der Distanz. Mit seiner älteren Schwester versucht er, die Mutter vom Suizid abzuhalten. Der Vater, Traktorist in einer LPG, versäuft das Geld und prügelt. Die Familie ist stigmatisiert. Über die Vergangenheit darf nicht geredet werden. Sind sie Juden? Aus Rumänien vertrieben orthodoxe Christen? Warum werden sie ausgegrenzt?
    (Quelle: Verlagsseite)


    Der Autor:
    Szilárd Borbély, 1964 in Fehérgyarmat im nordöstlichsten Winkel Ungarns geboren, debütierte 1988 als Lyriker und veröffentlichte rund ein Dutzend Gedicht- und Prosabände. Er war Hochschullehrer in Debrecen und übersetzte Lyrik aus dem Deutschen und Englischen, u.a. von Monika Rinck, Robert Gernhardt und Durs Grünbein. Mit seinem Romandebüt Die Mittellosen hat er sich an die Spitze der ungarischen Gegenwartsliteratur geschrieben. Im Februar 2014 nahm er sich das Leben.
    (Quelle: Verlagsseite)


    Mein Eindruck:


    "Wir gehen und schweigen. Dreiundzwanzig Jahre trennen uns. Die Dreiundzwanzig kann man nicht teilen.Die Dreiundzwanzig ist nur durch sich selbst teilbar. Und durch eins. So ist die Einsamkeit zwischen uns. Man kann sie nicht in Teile zerlegen. Man schleppt sie als Ganzes mit sich."


    Damit beginnt der semi-autobiografische Roman des Lyrikers Szilárd Borbély, der sich 2014 das Leben nahm.
    Angesiedelt ist der Roman im ungarischen Nordosten in einem kleinen Dorf am "Waldrücken".
    Der junge Ich-Erzähler ist fasziniert von den Primzahlen - bei ihnen findet er Halt in einer archaischen Gesellschaft, in der seine Familie und er Außenseiter sind aufgrund ihrer Herkunft. Zugewandert aus Rumänien, sprechen sie ein anderes Ungarisch.Der Vater gilt als Kulakensohn und uneheliches Kind des Dorfjuden.
    Zu fünft teilen sie sich ein Zimmer mit nacktem Erdboden. Der Vater verliert seine Arbeit bei der LPG und muss dann nach einer Morddrohung aufgrund seiner Herkunft ins Nachbardorf ziehen.
    Die Mutter bleibt mit den drei Kindern im Elend zurück und versucht diese durchzufüttern. Die Kinder passen auf ihre Mutter auf, da sie immer wieder Todesgedanken verfällt und mit Selbstmord droht. Ihre Laune wechselt ständig, doch oft herrscht Stille und die ist unerträglich. Die Kinder müssen die Eltern siezen; lernen früh, den Schlägen auszuweichen und wie man Hühner schlachtet.
    Grausam ist man auch gegenüber Tieren, die nicht zum Spielen und Streicheln da sind. Jungkatzen und Jungvögel müssen getötet werden; Bauernkindern wird das Träumen abgewöhnt, indem man Kätzchen neben den Schlafenden langsam zu Tode schlägt. Aberglaube, Erbarmungslosigkeit , Trunksucht herrschen, das Gesetz des Stärkeren zählt.
    Aus kindlicher Sicht werden einzelne Szenen erzählt, der Alltag im Dorf, in der Kneipe, bei den Großeltern.
    Mit dem Roman geht Szilárd Borbély den Verwüstungen nach, die Krieg, Nazikollaboration und Kommunismus angerichtet haben.
    Im Anhang befinden sich zwei Essays des Autoren, in denen er über Sprache und Erinnerung schreibt. In ihm sind viele Fragen aufgekommen, seit seine Mutter Opfer von Raubmördern wurde. Auch sein Vater konnte keine Antwort geben. Die gemeinsame Sprache war bis dahin schon längst verloren.Szilárd Borbély fragt sich, warum seine Eltern zu Opfern wurden. Außerdem kann man im Anhang Erinnerungen der Übersetzer Heike Flemming und Lacy Kornitzer an Begegnungen mit Szilárd Borbély lesen.
    Der Roman hat mich noch nach dem Beenden beschäftigt und nicht nur wegen der Gedanken über die Auswirkungen auf die kindliche Psyche bezüglich der Selbstmordgedanken der Mutter oder auch solcher Sätze wie "Ich habe dich rausgeschissen. Ich werde mich doch nicht mit meiner Scheiße streiten." (S. 169)

  • Vielen Dank für Deine Eindrücke, Conor. Seitdem das Buch letztes Jahr hier in Frankreich eine gute Rezeption erlebt hat steht es auf meiner Wunschliste... Es wurde viel dazu geschrieben, in allen wesentlichen Literaturbeilagen und Zeitungen.

  • Im o.g. Zitat hat sich der Fehlerteufel eingeschlichen. Könnte einer der Mods vielleicht berichtigen? (Versehentlich doppelt: "Und durch eins. So ist die Einsamkeit zwischen uns") Danke!

  • Das hört sich zunächst interessant an, aber es ist sicher kein Buch, das man zu jeder Zeit oder zur Entspannung lesen kann. Ich setze es ganz vorsichtig auf die Wunschliste.


    Danke, @Conor.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)