Inhalt (Quelle: amazon):
Zusammengebrochen, verloren, für alle Zeiten von der politischen Landkarte Europas radiert. Die Geschichte Europas ist auch eine Geschichte verschwundener Reiche. Das stolze Alt Clud, heute ein heruntergekommener Landstrich in Schottland, das sagenumwobene Burgund oder das preußische Kernland der Prussen, im 12. Jahrhundert eine terra incognita, aber im Verlauf der Geschichte einer der einflussreichsten Staaten Europas: Norman Davies spürte 15 solcher Reiche vor Ort und in bisher vernachlässigten Quellen nach. In diesem politisch wie historisch aufrüttelnden und sprachlich virtuosen Standardwerk erzählt er ihre Geschichte von der Entstehung bis zum Untergang - und wie wenig von ihrer großen Vergangenheit heute in Erinnerung geblieben ist. Denn das kollektive Gedächtnis ist wichtig, um das heutige Europa zu verstehen.
Beschreibung:
Hält man das Buch zum ersten Mal in den Händen, bekommt man erst einmal ein kleinen Schock. Das Buch hat die Größe, das Format und das Gewicht einen großen Ziegelsteins und ist völlig ungeeignet, unterwegs, im Bett oder bequem auf der Couch gelesen zu werden. Man braucht einen Tisch als Unterlage, anders ist dieser literarische "Ziegelstein" nicht zu händeln. Es umfasst 926 Seiten, ist also auch eine intellektuell ziemlich anspruchsvolle Herausforderung. Der Autor, Norman Davies, ist emeritierter Professor für Geschichte an den Universitäten London, Harvard, Stanford und der Columbia University of New York. Diese Angaben lassen ungefähr erahnen, welches historische Fachwissen und Kaliber auf den Leser wartet.
Das Buch ist in fünfzehn Kapitel unterteilt, die völlig voneinander unabhängige Themen, sprich verschwundene Reiche, behandeln. Dazu kommen ein ausführlicher Anmerkungsteil, ein Register und zwei Farbteile mit Bildern und Fotos, eins nach Seite 128, das zweite nach Seite 800. Im Grunde genommen besteht das Riesenwerk aus fünfzehn einzelnen kleinen Werken, und man sollte es auch so lesen. Problemlos kann man dabei einzelne Länder oder Reiche herauspicken, die einen besonders interesssieren, man muss die Kapitel weder in der vorgegebenen Reihenfolge lesen noch benötigt man vorangegangene Kapitel zum Verständnis des nächsten oder übernächsten. Um einen kurzen Vorgeschmack zu bieten, nenne ich hier ganz kurz die einzelnen Überschriften der Kapitel: 1. Das Tolosanische Reich, 2. Alt Clud, 3. Burgund, 4. Aragon, 5. Historisches Litauen, 6. Byzanz, 7. Borussia, 8. Savoyen, 9. Galizien, 10. Etrurien, 11. Rosenau, 12. Montenegro, 13. Ruthenien, 14. Eire, 15. UdSSR.
Norman Davies zeichnet sich durch drei herausragende Eigenschaften aus: er hat die Gabe, komplizierte und komplexe Sachverhalte in klarer, einfacher Sprache für jeden verständlich dazulegen, er ist außerordentlich eloquent und schreibt wunderbar flüssig und unterhaltsam, und er besitzt ein schier unglaubliches Fachwissen. Dass einen dieses Wissen manchmal beinahe erschlägt, ist nicht Schuld des Autors, sondern mangelnde Aufnahmekapazität beim Leser. Man sollte es also ruhig angehen lassen, immer wieder beim Lesen verweilen, Pausen einlegen, nachdenken über das Gelesene, und sich Zeit lassen für dieses beeindruckende Werk. Dann wird es zum puren Genuß. Denn Norman Davies gehört zu der eher seltenen Species Historiker, die sich nicht auf kleine und feine Fachgebiete hochspezialisieren, sondern er vertritt die Überzeugung, dass es die vornehmste Aufgabe eines Historikers ist, gerade die Bereiche, Themen und Gebiete zu bearbeiten und zu erforschen, die nicht das schon Bekannte, die berühmten Frauen und Männer, die tausendfach erforschten Schlachten, politischen Entwicklungen und den Mainstream der Geschichte umfassen, also nicht wiederzukäuen, was schon zur Genüge erforscht, aufbereitet, bis ins kleineste Detail untersucht wurde, sondern sich auf die vergessenen, verborgenen, scheinbar unwichtigen Bereiche der Geschichte zu konzentrieren und dabei nie das Große, Ganze aus den Augen zu verlieren. Es ist ein faszinierender Ansatz, und besonders überzeugend ist Norman Davies bei seiner Erforschung des vergessenen Europas auch deswegen, weil er redlich und jederzeit klar und den Fakten verpflichtet dabei vorgeht. Unerforschtes, Unbekanntes, Vergessenes hat die Eigenschaft, sich nicht durch unzählige Belege, schriftliche Unterlagen oder sonstige Nachweise leicht erforschbar zu machen, so dass der Historiker dabei nur allzu leicht in die Versuchung kommen kann, die Lücken durch Interpretationen, Vermutungen, Phantasie und "so könnte es gewesen sein"-Thesen zu füllen und auszuschmücken, und das als die historische Wahrheit der Nachwelt zu präsentieren. Norman Davies tut dies nicht. Er erliegt zu keiner Zeit dieser Versuchung, sondern sagt klar und deutlich, wo Beweise fehlen, wo nichts vorhanden ist, aufgrund dessen man saubere Rückschlüsse ziehen könnte, und er zeigt auf, wie und auf welche Weise er zu seinen jeweiligen Thesen und Annahmen kommt.
Die Thematik, der er sich widmet, nämlich die vergessenen Reiche Europas, ist einfach nur faszinierend und hochinteressant. Man erfährt unendlich viel über Länder und Reiche, die man sogar schon etwas zu kennen glaubte, aber noch nie in dieser Tiefe und aus dieser Perspektive betrachtet hat. Europa, das historische Europa, bekommt für einen ein anderes Gesicht durch diese Lektüre, und damit auch das jetzige Europa. Was war, hat das, was jetzt ist, mitgestaltet, möglich oder unmöglich gemacht, und so sind es gerade die unbekannten Facetten und Entwicklungen in der Geschichte Europas, die einen manches in der Gegenwart anders sehen lassen.
Urteil:
Selten habe ich ein historisches Fachbuch gelesen, das mich dermaßen fasziniert, ja überwältigt hat, und das ich mit so großem Vergnügen gelesen habe, wenn ich auch nicht verschweigen will, dass das Lesen dieser Fülle an Wissen auch anstrengend und herausfordernd ist. Man kann dieses Buch nicht so nebenbei lesen. Und man tut gut daran, es nach einiger Zeit nochmals zur Hand zu nehmen und ein zweites Mal zu lesen, denn auch wenn man sich noch soviel Mühe gibt, entgeht einem beim ersten Lesen sehr viel, weil man einfach nicht alles auf einmal erfassen und verarbeiten kann. Für mich gehört dieses Werk zu den besten - und zwar mit Abstand besten - historischen Fachbüchern, die ich jemals gelesen habe. Aber gerade deswegen möchte ich auch an dieser Stelle eine kleine Warnung aussprechen: es ist ein Fachbuch, kein harmloses Sachbuch, und wer es sich vornehmen möchte, sollte über mehr als nur ein bißchen historisches Interesse verfügen und bereit sein, sich auf 926 Seiten geballtes Wissen einzulassen. Gerne historische Romane und auch mal ein Sachbuch über Wikinger oder Mittelalter oder die Tudors zu lesen reicht nicht als Voraussetzung aus, um mit diesem Buch glücklich zu werden. Man würde nicht über die ersten fünfzig Seiten hinauskommen und sich dann enttäuscht, frustriert und überfordert von dem Buch abwenden und es als schweren Fehlgriff verbuchen.
Wer aber historisch tiefergehend interessiert ist, und die Ausdauer mitbringt, sich nicht von dem Umfang des Buches abschrecken zu lassen, dem kann ich nur eine absolute, unbedingte Leseempfehlung geben. In meinen Augen war und ist das Werk von Norman Davies eine Sternstunde der historischen Forschung und der literarischen Aufbereitung des Erforschten.
Leider kann man offiziell nur fünf Sterne vergeben. Weil ich das Buch aber für so außergewöhnlich halte, bekommt es von mir noch einen inoffziellen, privat vergebenen sechsten Stern dazu:
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Verschwundene Reiche
- Norman Davies (Autor)
- Karin Schuler (Übersetzer)
- Norbert Juraschitz (Übersetzer)
- Hans Freundl (Übersetzer)
- Helmut Dierlamm (Übersetzer)
- Oliver Grasmück (Übersetzer)