Anthony Powell, Ein Tanz zur Musik der Zeit - kennt das jemand?

  • Von diesem Autor gibt es einen hochgelobten, zwölfbändigen Zyklus, der auch in "Die Zeit" besprochen wurde. Nun liegen in deutscher Übersetzung die ersten drei (vier?) Bände vor, jedoch ziemlich teuer. Die Rezensionen haben mich sehr neugierig gemacht, allerdings scheue ich etwas davon zurück, gleich 22.- Euro für einen Band auszugeben, ohne die leiseste Ahnung zu haben, ob mir das Ganze zusagt. In Bibliotheken ist nichts von dem Autor zu haben, es gibt weder ebooks noch deutsche Ausgaben, und ich kann nicht genügend Englisch, um zu versuchen, irgendwo eine englische Ausgabe aufzutreiben bzw. zu lesen.


    Kennt von euch schon jemand etwas von ihm, eventuell diejenigen hier, die viel auf Englisch lesen, und kann mir seinen Eindruck dazu schildern?


    Ah, ich sehe gerade, dass es im Forum Leser des Buches gibt, allerdings noch keine Rezension dazu. Vielleicht mag einer der beiden Leser etwas dazu schreiben? Es würde mich wirklich interessieren.

  • Hallo @Mirielle! Ich habe den ersten Band vor etwa einem Jahr gelesen und er hat mir sehr gut gefallen, ein elegantes, sehr britisches Sittenbild der höheren Gesellschaft aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Allerdings ist es offensichtlich einer der Romane, deren Inhalt ich schon nach kurzer Zeit wieder völlig vergessen habe. (Kennst Du das auch? Von manchen Bücher - ob gut oder schlecht - bleibt wenig hängen. Ich würde gerne wissen, woran das liegt.) Insofern kann ich jetzt leider nichts Tiefgründiges dazu schreiben. :uups:


    Ich bin auf den Roman aufmerksam geworden, als ich in meinem Lexikon "Great British Fictional Villains" von Russell James geblättert habe, in dem hauptsächlich Bösewichte aus der Kriminalliteratur notiert sind. Allerdings wird auch die Figur des Widermerpool, eines faszinierend zwielichtigen Charakters aus Anthony Powells Roman erwähnt. Das wollte ich doch mal genauer wissen. Und war sehr angefixt, dass es da offensichtlich einen Romanzyklus geben soll, der in Deutschland fast völlig unbekannt ist, wo er in der angelsächsischen Welt doch groß gefeiert wird.


    Damals konnte ich den ersten Band noch für etwa 7 Euro antiquarisch als dtv-Taschenbuch bekommen. Jetzt sehe ich tatsächlich nur noch die teure Neuauflage. Ansonsten hätte ich Dir geraten, nach dem alten Taschenbuch mit dem schönen Umschlagbild Ausschau zu halten.


    Hast Du den Textauszug auf der Seite vom Elfenbein-Verlag gesehen? Der gibt einen ganz guten Eindruck vom Stil des Erzählers:


    Zitat

    Die endlos langen, trostlosen Sonntagnachmittage in der Universitätsstadt wurden etwas erträglicher, wenn man Sillerys Teegesellschaften besuchte, wo jeder nach halb vier hereinschauen konnte. Das Wirken eines mathematischen Gesetzes der Serie regulierte die Zahl der Anwesenden bei diesen Zusammenkünften immer auf zwischen vier und acht Personen — die meisten von ihnen Studenten, aber gelegentlich befand sich auch ein Dozent unter ihnen. Ich wurde etwa Mitte meines ersten Trimesters durch Short, einen sanften Studenten in seinem zweiten Jahr, der zu Sillerys College gehörte und sich für Politik interessierte, in sie eingeführt. Short erklärte mir, dass Sillerys Gesellschaften seit Jahren eine fest etablierte Rolle in dem Leben der Universität spielten und dass die Trockenheit des Gebäcks, das ein äußerst wichtiges Element dieser Nachmittagspartys bildete, zu einem so abgedroschenen Thema akademischen Humors geworden sei, dass selbst Sillery manchmal auf die anhaltend ungenießbare Qualität dieser aus einer vergessenen Kuchenwelt herübergeretteten Fossilien an­spiel­te.­ Bei­ diesen­ Gelegenheiten­ pflegte­ Sillery­ seine­ Gäste­ an­ die spaßigen oder absonderlichen Bemerkungen zu erinnern, die von früheren Generationen junger Männer, die in längst vergangenen Tagen den Tee bei ihm eingenommen hatten, über das Gebäck fallengelassen worden waren; und er zitierte dabei besonders gern die glänzende Schar seiner Bekannten unter den ehemaligen Studenten, die ­im­ späteren­ Leben zu ­gewissen ­Würden ­aufgestiegen ­waren — ­eine­ Klasse, der er unverhohlene Hochachtung entgegenbrachte.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • @Jean van der Vlugt


    Vielen Dank für deine ausführliche Antwort! Ich habe mir inzwischen den ersten Band gekauft, wenn auch mit etwas Zähneknirschen, denn ich finde den Preis für das relativ dünne Bändchen doch ganz schön happig. Trotzdem haben mich die Rezensionen darüber so neugierig gemacht, dass ich mir den Band geleistet habe. Ich mag solche ruhig erzählten Gesellschaftsromane sehr gern, muss jedoch in der Stimmung dafür sein. Oder ich schiebe schnell mal einen Krimi zwischendurch ein, wenn es mir zu ruhig wird. :lol:


    Ja, das kenne ich auch, dass man Bücher gelesen hat, die einem gut gefallen und dennoch keinen bleibenden Eindruck in einem hinterlassen haben. Oder nur eine leise Spur von Eindruck in dem Sinn, dass man sich irgendwann wieder ihrer erinnert und sich denkt, ach, das könnte ich nochmal zur Hand nehmen und ein zweites Mal lesen.


    Nun bin ich sehr gespannt auf Anthony Powell, der aber noch ein bißchen auf dem SUB liegen muss, weil ich gerade von Joan Aiken "Königliche Krankheit" (ein bescheuerter Titel, aber ein schönes, leises, interessant erzähltes Buch) lese, mit fast 600 Seiten, auch ein Gesellschaftsroman, der teilweise in der heutigen Zeit, teilweise im viktorianischen England spielt. Danach brauche ich noch ein bißchen Abwechslung mit Fantasy oder Ähnlichem, um den Kopf vom all dem Gesellschaftlichen freizukriegen, und dann kommt Anthony Powell dran. :wink:

  • Dann wünsch ich Dir viel Spaß mit dem Buch, @Mirielle! Und wenn Du Dir den Powell dann vornimmst, vielleicht schreibst Du, wenn Du magst, was darüber im Ich-Lese-grade-Thread. Ich würde das jedenfalls gerne mitlesen. :wink: (Und dann steig ich auch vielleicht wieder mit ein. Immerhin habe ich mir seinerzeit schon mal eine alte Ausgabe des dritten Bandes geschnappt... ). :winken:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Ich melde mich dann auch mal, ich hatte mir das Buch ebenfalls gekauft (mich hatte der Vergleich mit Marcel Proust gereizt) und ich habe es auch noch nicht gelesen.
    Und ich hatte auch mit mehr Umfang gerechnet, 22 EUR für so ein kleines Bändchen finde ich happig.
    Ich bin schon sehr gespannt darauf, habe im Moment allerdings nicht die Ruhe, das Buch zu lesen - vielleicht zu Weihnachten?

    Lesen ist wie Reisen, ohne dass man dabei einen Zug oder ein Schiff besteigen müsste. Es eröffnet neue, unbekannte Welten. Es bedeutet, ein Leben zu führen, in das man nicht hineingeboren wurde, und alles mit den Augen eines anderen zu sehen. Es bedeutet, zu lernen, ohne mit den Konsequenzen der eigenen Fehler leben zu müssen.

    Madeline Martin, Der Buchladen von Primrose Hall