Otto Nagel - Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck

  • Kurzmeinung

    SiriNYC
    Ganz nah dran am Elend in Berlin zu Zeiten der Weimarer Republik.
  • Der Autor (nach Wikipedia, einige Informationen aus dem Text „"Grauer" oder "roter" Wedding“ von Jens Thiel): Der Berliner Maler Otto Nagel wurde als Sohn eines sozialdemokratischen Tischlers am 27. September 1894 in Berlin-Wedding geboren. Nach der Volksschule begann er in einer Mosaik- und Glasmalereiwerkstatt eine Lehre zum Glasmaler, die er nicht abschloss, und arbeitete später als Transportarbeiter. Er engagierte sich früh in der Arbeiterjugend und trat 1912 in die SPD ein. Er leistete zunächst Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg, kam dann aber wegen Kriegsdienstverweigerung in das Straflager Wahn bei Köln. 1920 wurde er Mitglied der KPD. Er war eng mit Heinrich Zille und Käthe Kollwitz befreundet, deren Nachlass er ordnete. Nagel gab zahlreiche Schriften über ihr Werk heraus. Von 1928 bis 1932 war er Herausgeber und Redaktionsleiter der Satirezeitschrift Eulenspiegel. Über seine Arbeit für die „Künstlerhilfe“ der „Internationalen Arbeiterhilfe“ kam er auch mit Filmkreisen in Kontakt: Für die Prometheus-Film, die einige proletarische Milljöh-Filme zu verantworten hatte, war er in unterschiedlichen Bereichen tätig, vom Drehbuchschreiben über den Produktioner und bis hin zum Location Scout. Und so war er ebenfalls an der Filmproduktion des bekannten Spielfilms „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ von 1929 von Phil Jutzi nach einer Idee von Heinrich Zille beteiligt, im Jahr des „schwarzen Börsenfreitags“, das die Weltwirtschaftskrise einläutete. In diesem Jahr starben sowohl Nagels Mutter, als auch seine heranwachsende Tochter, die sich während der Filmdreharbeiten das Leben nahm. 1933 wurde Nagel zum Vorsitzenden des Reichsverbandes der Bildenden Künstler Deutschlands gewählt. Die Wahl wurde einen Tag später von den Nazis annulliert. Hausdurchsuchungen und Inhaftierungen (unter anderem im KZ Sachsenhausen 1936/1937) folgten, Nagel erhielt Malverbot im Atelier. Zahlreiche seiner Bilder wurden als „entartet“ eingestuft und vernichtet. Nach dem Krieg gehörte er zu den Mitbegründern des Kulturbundes und wirkte unter anderem von 1956 bis 1962 als Präsident der Akademie der Künste der DDR. Er starb am 12. Juli 1967 in Berlin-Biesdorf.


    Inhalt (Klappentext): „Das nasse Dreieck“, eine Kneipe im Berliner Bezirk Wedding, ist ein Sammelpunkt für die Stadtstreicher, die Fechter und Stromer. Hier finden sie Verständnis, Geborgenheit und einen warmen Kaffee, ehe sie ausziehen, um ihren Lebensunterhalt zu „stoßen“. Sie verlangen vom Leben nicht mehr als ein Butterbrot. In dem Roman erzählt Otto Nagel die Geschichte einer Berliner Kneipe um die wechselvollen Erlebnisse dieser Fallengelassenen mit Sympathie und Klassensolidarität. Alle diese Menschen – Deklassierte und aus der Bahn Geworfene – gehören zur Masse der Opfer der Weltwirtschaftskrise von 1929. Einer geht vor die Hunde! Wilhelm Thiele, die Zentralfigur des Buches, rutscht auf der sozialen Stufenleiter immer tiefer, bis er – allen Bemühungen um ein sinnvolles Leben zum Trotz – an den unerträglichen Verhältnissen scheitert.
    Der Roman des bekannten proletarisch-revolutionären Malers wurde zwischen 1930 und 1932 geschrieben. Das Manuskript erfuhr ein wechselvolles Schicksal. Von dem Verleger Bruno Cassirer zum Druck genommen, nahm der es bei der Emigration 1933 mit ins Ausland. Dort konnte es nicht publiziert werden. Erst 1940 erreichte es auf abenteuerlichen Wegen wieder den Verfasser. Er musste es bei Freunden verstecken, um es vor dem Griff der Gestapo zu bewahren. 1945 nach der Befreiung tauchte es wieder auf … um dann wieder auf dem Postweg zu verschwinden. Doch das Manuskript wurde wiederentdeckt und wurde Mitte der Siebzigerjahre von der Witwe Otto Nagels der Akademie der Künste der DDR übergeben.



    Der Roman „Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck“ wurde zwischen 1930 und 1932 (mit Vorarbeiten schon ab 1928) geschrieben, konnte aber erst 1978 beim Mitteldeutschen Verlag in der DDR erscheinen – die Höhen und Tiefen der Editionsgeschichte werden im Vorwort nachgezeichnet. Diese Ausgabe von 228 Seiten mit Illustrationen des Verfassers und einem Vorwort von Walli Nagel erschien auch 1979 als Lizenzausgabe in der „Kleinen Arbeiterbibliothek“ des Damnitz Verlages in München. Der Roman ist auch online im „Sozialistischen Archiv für Belletristik – Nemesis“ einzusehen.
    1982/83 wurde der Roman von Hans Knötzsch mit Peter Reusse, Jenny Gröllmann, Kurt Böwe und Henry Hübchen als „Es geht einer vor die Hunde“ für das DDR-Fernsehen verfilmt.



    Roman über die randständigen, abgehängten Menschen, die die schäbige Kneipe "Das nasse Dreieck" im Berliner Arbeiterbezirk Wedding (unter neuer Bewirtschaftung in "Die weiße Taube" umbenannt) zu Beginn der Weltwirtschaftskrise bevölkern, ein Treffpunkt für Obdachlose und Bettler, die sich wiederum in Klopper (Bettelei an Wohnungstüren), Ladenstoßer (Bettelei in Geschäften) und Stucker (Bettelei auf der Straße sitzend) unterteilen. Alle „fechten“ um ihr Auskommen.


    Die Sprache und der Tonfall, auch, wie der Berliner Dialekt eingefangen ist, sind sehr authentisch und dabei erstaunlich modern. Schnodderig und derb, manche Kraftausdrücke sind heute gängiger Sprachschatz. Die Figuren stammen alle aus dem Milieu der proletarischen Unterschicht, sind durch Arbeitslosigkeit in die Armut entlassene Kleinbürger oder langjährige Stadtstreicher und Dachbodenschläfer, Menschen, die sich moralische Bedenken nicht mehr leisten können, sich prostituieren oder auf Diebestouren gehen, ohne davon jemals leben zu können. Doch in keiner Sekunde werden ihre Schicksale überdramatisiert, das Elend des Arme-Leute-Berlins wird nicht zur bloß schockierend-anrüchigen Unterhaltung gehobener Leserschichten instrumentalisiert. Das ist auch gar nicht notwendig, um das Skandalöse der Umstände zu vermitteln.


    Das Kommen und Gehen verschiedener Figuren rund um den Tresen im „Nassen Dreieck“ von Inhaberin Muttchen ist genau beobachtete Sozialkritik, manchmal anekdotenhaft, mit einem bitteren Zug ins Humoreske, niemals kitschig oder rührselig, vielmehr wütend und ernsthaft, mit großem Interesse an den Figuren, Einblicke in psychologische und soziale Untiefen suchend, doch dabei immer auch unterhaltsam, wie mit leichter Hand hingehuscht (das ist immer das Schwerste in Kunst und Literatur), der moralische Zeigefinger bleibt unten, während das klassenbewusste Herz laut schlägt.


    Länger verfolgt wird der desaströse Werdegang der Hauptfigur Thiele, wie er sich ans Betteln gewöhnen muss, zunächst mit einem Stadtstreicher-Pärchen herumhängt, später eine neue Liebe und Ehefrau findet, sich mühsam monatlich Geld für eine eigene Bleibe zur Untermiete zusammenstottert, zu allem Unglück ein Kind in die Welt setzt - und wie bei allem Bemühen dann doch alles den Bach runter geht. Ein Lauf im Hamsterrad, Wasser schöpfen mit löchrigem Eimer, eine systematische Abwärtsspirale - und nur ein Schicksal von Millionen, umgeben von Menschen, die ein Almosen erst dann herausrücken, wenn man vor Schwäche auf der Straße zusammenbricht. Derweil sterben Nebenfiguren beim Altmetallklau, erhängen sich am Fensterrahmen, werden verprügelt, rausgeworfen und eingesperrt – oder sind einfach nicht mehr da, und keiner weiß jemals, was mit ihnen geschehen ist ...


    Warum sich die Verlage dieser Tage nicht auf diesen Roman stürzen, um ihn als Wiederentdeckung in die Regale der Buchhandelsketten zu hieven, ist mir ein Rätsel. Warum er nicht eh schon in den literarischen Kanon der modernen, proletarischen Literatur aus der Zeit der Goldenen Zwanziger und Schrecklichen Dreißiger eingereiht ist, gar zur Schullektüre erhoben wurde, als die er sich hervorragend eignete, - fragt mich nicht! Ein erschreckendes, lebendiges, unterhaltsames Buch, das heute, wo die Armut in Deutschland sprunghaft ansteigt und jeder Fünfte von Armut bedroht ist, so wichtig und wahrhaftig ist, wie vor 80 Jahren.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (15/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 56 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Schön ist, dass der Roman seit letzten Herbst auch wieder regulär im Buchhandel erhältlich ist, als erster Band der Reihe "Wedding-Bücher" im Verlag Walter Frey.:thumleft:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (15/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 56 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Gestern kam meine Ausgabe von 1987 hier an. Röderberg Verlag - nie gehört. Sieht jedenfalls so aus, als hätten andere Menschen vor mir das Buch auch gerne gelesen. Bis vor einigen Jahren mochte ich nie (von Fremden) gebrauchte Bücher lesen, inzwischen ist mir das schnuppe.


    Mir ist gerade noch ein Roman über das Berlin der Weimarer Republik eingefallen, das auch (vor ca. einem Jahr) neu aufgelegt wurde und auf meiner Wunschliste steht.