Alain Robbe-Grillet - Die Niederlage von Reichenfels / Dans Le Labyrinthe

  • Der Autor (anhand Wikipedia): Der französische Schriftsteller und Filmemacher Alain Robbe-Grillet (geboren am 18. August 1922 in Brest, gestorben am 18. Februar 2008 in Caen) studierte Agrarwissenschaften und arbeitete zunächst am Nationalinstitut für Statistik in Paris. Während des Zweiten Weltkriegs musste er 1943 ein Jahr lang Arbeitsdienst in Nürnberg leisten. Durch seine Literatur gilt Robbe-Grillet als einer der Väter des Nouveau Roman, ein Begriff, der auf seinen Essay "Pour un Nouveau Roman" zurückgeht. Diese nicht-realistische Stilrichtung will weder die Wirklichkeit spiegeln, noch Botschaften übermitteln, sondern literarische Formen und deren Entwicklung abbilden. Sinneseindrücke gehen ineinander über, zusammenhängende narrative oder Sinnstrukturen gibt es dagegen kaum, so dass diese Literatur auch der Aufmerksamkeit des Lesers Streiche zu spielen vermag.


    Leicht gekürzter Inhalt (nach dem Umschlag der Hanser-Ausgabe von 1960): Eine von ihren Bewohnern fast ganz verlassene Stadt erwartet den Einmarch feindlicher Truppen. Ein abgekämpfter Soldat irrt, ein Paket unter dem Arm, durch die öden Straßen, vorbei an Häuserfronten. Er sucht den Treffpunkt, an dem er das Paket, die Hinterlassenschaft eines toten Kameraden, übergeben soll. Markierung ist eine Kreuzung, eine Laterne. Welche Kreuzung? Welche Laterne? Wer ist der Empfänger? Was birgt das Paket? Ist es ein Auftrag, und welcher? Der Soldat kann sich nicht genau erinnern. Mehrmals kommt er irgendwo an: in einem Haus, bei einer Frau, die ihn mit wenigen Gesten umsorgt, in einer Gaststube, einer Krankenstation; ein scheuer Junge wird ihm Begleiter und stummer Freund. Überall wird ihm Auskunft zuteil, empfängt er Teilnahme, aber das Ziel bleibt entfernt wie je.


    Der Roman wurde 1959 im Original unter dem sinnigen Titel "Dans le labyrinthe" in Paris veröffentlicht (bei den Editions de Minuit) und erschien ein Jahr später in der Übersetzung von Elmar Tophoven unter dem Titel "Die Niederlage von Reichenfels" im Carl-Hanser-Verlag in München. Das 200-seitige Taschenbuch kostete damals stolze 12,80 DM.


    Dem Roman geht diese Vorrede des Autors voraus, die den Leser auf den Stil und die Haltung des Romans einstimmen möchte:

    Zitat

    Diese Erzählung ist frei erfunden, sie ist kein Tatsachenbericht. Sie schildert keine Wirklichtkeit, die notwendigerweise mit der übereinstimmt, die der Leser persönlich erfahren hat: so wie es nicht zutrifft, dass die Infanteristen der französischen Armee ihre Stammrollennummer auf ihren Mantelkragen tragen. Auch wurde in der neueren Geschichte Westeuropas keine bedeutende Schlacht in Reichenfels oder seiner Umgebung verzeichnet. Und doch handelt es sich hier um eine streng materielle Wirklichkeit, die also keinen Anspruch auf irgendeinen allegorischen Wert erhebt. Der Leser wird daher gebeten, nur die Dinge, Gesten, Worte und Ereignisse zu sehen, die ihm berichtet werden, ohne dabei zu versuchen, ihnen mehr oder weniger Bedeutung beizumessen als in seinem eigenen Leben oder bei seinem eigenen Tod.

    Ein sehr experimentelles Buch aus der literarischen Strömung des Nouveau roman, die viel Wert auf eine möglichst neutrale Erzählposition legt. Keine Psychologisierung, keine Einfühlung, keine Wertung, keine Erklärung. In diesem Roman werden die Geschehnisse quasi aus der Sicht der Dinge erzählt; Situationen, Gegenstände, Gesten und Konstellationen werden genauestens beschrieben. Das klingt beispielsweise so:

    Zitat

    An der nächsten Kreuzung, unter der Straßenlaterne, die an der Ecke des Gehsteigs steht, ist ein Kind stehengeblieben. Es wird durch die gusseiserne Säule halb verdeckt, deren verbreiterte Basis den unteren Teil seines Körpers sogar vollständig verbirgt. Es blickt zu dem näherkommenden Soldaten hin. Es scheint weder den Sturm noch den Schnee unangenehm zu finden, der seine schwarze Kleidung, den Umhang und die Baskenmütze, stellenweise weiß färbt. Es ist ein Junge von etwa zehn Jahren mit aufmerksamem Gesicht. Er dreht den Kopf in dem Maße, wie der Soldat voranschreitet, so dass sein Blick ihm folgt, während der Soldat die Höhe der Straßenlaterne erreicht und dann an ihr vorbeigeht. Da der Soldat nicht schnell geht, hat das Kind Zeit, ihn genau zu mustern, von oben bis unten: die schlechtrasierten Wangen, die sichtliche Müdigkeit, den schmutzigen, abgenutzten Militärmantel, den Ärmel ohne Rangstreifen, das Paket mit dem abgenutzten Papier unter dem linken Arm, die beiden in den Taschen steckenden Hände, die hastig, sehr unregelmäßig um die Waden gewickelten Gamaschen, die Ferse des Schuhs mit einer breiten Kerbe in Schaft und Absatz, die mindestens zehn Zentimenter lang und so tief ist, dass sie die ganze Dicke des Leders zu durchdringen scheint; der Schuh ist jedoch nicht aufgeplatzt, und der beschädigte Teil ist lediglich mit schwarzer Wichse bestrichen, die ihm nun die dunkelgraue Farbe der versehrten Oberflächen ringsherum verleiht.

    (S. 28f.) Das wirkt ein wenig wie eine akkurate Bild- bzw. Bewegtbildbeschreibung: Lässt man sich auf die Ausführlichkeit ein, tritt einem die geschilderte Szene direkt filmisch vor Augen. Warum der Junge steht und schaut, wo er herkommt, was er noch zu tun beabsichtigt, bleibt unerwähnt. Wie sich der Soldat fühlt, als er so von der Seite still beobachtet wird, ist unerheblich. Jedoch überträgt sich auf den Leser im besten Fall ein etwas unangenehmes Gefühl des Ausgeliefertseins, als würde man selbst beobachtet werden.


    Die Geschichte des namenlosen Soldaten eines nicht spezifizierten Krieges, der in der ihm unbekannten Stadt einen dubiosen Auftrag erfüllen soll, ist seltsam, rätselhaft und kafkaesk, von fiebriger Unsicherheit über die Vorgänge und die eigene Befähigung, mit ihnen klarzukommen. Die Fußmärsche des Soldaten durch die verschneiten, öden, sich gleichenden Straßen werden minutiös geschildert. Viele Begegnungen mit anderen Menschen bleiben rätselhaft. Hauptfigur und Leser sind Gefangene der Ungewissheit, laufen ständig in die Irre, nähern sich scheinbar und anscheinend dem Ziel: War man hier schon? Was will diese Person von mir?! Was ist mein Auftrag?! Kann ich ihn überhaupt erfüllen?!


    Ein großes Rätselraten für den Leser, der versucht sich zu orientieren. Eine ganz eigentümliche Leseerfahrung, über die hinaus dieses spröde Buch allerdings nur wenig Erkenntnisse bietet - aber auch nicht bieten will. Wie sagt man: Der Weg ist das Ziel?! :P


    Bekommt von mir gute 3,5 Sterne - kann mir aber vorstellen, dass ich die Wertung später noch höher ansetze ... :wink:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 57 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Die französische Originalausgabe von 1959, unter dem Titel 'Dans le labyrinthe" erschienen.

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  • @Marie: Von Kafka habe ich tatsächlich "nur" die - meist ja großartigen - Kurzgeschichten gelesen. Aber dieses Ausgeliefertsein einer Figur gegenüber einer Umwelt oder gegenüber Strukturen, die er nicht begreift, erinnert mich schon sehr daran. Der namenlose Soldat wandert herum, glaubt sich nahe am Ziel, irrt ab, trifft andere Leute, die ihm wieder andere Hinweise geben. Und die Suche nach dem Treffpunkt geht danach gewissermaßen wieder von vorne los. (Derweil immer stärker "den Auftrag" an sich anzweifelnd). Ich erinnere mich, dass Kafkas Schreibstil oft auch sehr knapp und sezierend war. Ob da aber noch weitere stilistische Ähnlichkeiten liegen, vermag ich gar nicht zu sagen. Jedenfalls glaube ich, eine solche "rein beschreibende" Literatur, wie in diesem Roman von Robbe-Grillet, noch nie vorher gelesen zu haben. Das ist manchmal anstrengend, schafft aber auch einen ganz besonderen Sog. Ich las tatsächlich immer sehr begierig weiter. Ein interessanter Nebeneffekt: Auch nach größeren Lesepausen, nach denen man sich bei anderen Romanen oft erst wieder "etwas hineinfinden muss" in die Geschehnisse, kann mir hier sofort wieder andocken! Und die Stimmung ist umgehend wieder da. Weil ja sowieso soviel im Ungewissen ist. Und alles in der Beschreibung liegt. Im Erwecken eines Gefühls. Interessant allemal.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (82/151)


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