Joyce Carol Oates - Meine Zeit der Trauer / A Widow's Story

  • Klappentext:
    Joyce Carol Oates und Raymond Smith waren über ein halbes Jahrhundert ein Paar. Im Moment seines Todes ist Oates nicht nur dem Schmerz des Verlustes und dem Alleinsein ausgesetzt, sondern auch der Tatsache, weiterleben zu müssen. Wie sieht ein Leben aus, wenn der Mensch nicht mehr da ist, mit dem man in Freundschaft und Liebe, in Höhen und Tiefen alles geteilt hat? Nie zuvor hat Oates so tiefen Einblick in ihr Innerstes gegeben. Hier tut sie es, bewegend, klug und überraschend. Wir lernen eine andere Joyce Carol Oates kennen: eine starke Frau, die am Ende sagen kann »Dies ist jetzt mein Leben«. (von der Fischer-Verlagsseite kopiert)


    Zur Autorin:
    Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport (New York) geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. Joyce Carol Oates lebt in Princeton (New Jersey), wo sie Literatur unterrichtet. (von der Fischer-Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:
    Originaltitel: A Widow’s Story
    Erstmals erschienen 2011 bei HarperCollins Publishers, New York
    Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz
    Autobiographische Erzählung in Ich-Perspektive
    86 Kapitel auf 495 Seiten


    Persönliche Meinung:
    Sie waren über 40 Jahre verheiratet, arbeiteten in ähnlichen Berufen, und man sah sie nur zu zweit: Joyce Smith (in der Öffentlichkeit: Joyce Carol Oates) und Raymond Smith. Er stirbt kurz vor seinem 78. Geburtstag im Februar 2008. Plötzlich und unerwartet. Sie, die zwar nach außen eine selbstbewusste und erfolgreiche Schriftstellerin und Professorin ist, im Grunde aber von ihm beschützt und von den alltäglichen Widrigkeiten abgeschirmt wurde, muss sich einem Leben ohne ihren Mann stellen.


    Im Allgemeinen lese ich die Romane nicht, in denen jemand sein schreckliches Schicksal beklagt und als Buch unters Volk bringt. Bei Joyce Carol Oates habe ich es riskiert, weil ich sie als Autorin sehr schätze und eine andere Art von literarischer Verzweiflung erwartete. Aber allzu groß sind die Unterschiede nicht. Abgesehen von dem brillanten Stil und der ausgefeilten Sprache, mit der Oates auch in diesem autobiographischen Roman wieder glänzt.


    Insofern lässt mich das Buch ratlos und zweifelnd zurück. Über ihren Schmerz, ihre Todessehnsüchte und ihre Depressionen habe ich nicht zu urteilen, doch das Buch wirft einige Fragen auf:
    Oates spricht immer wieder die tiefe Liebe und Freundschaft an, die sie mit ihrem Mann verband, betont gleichzeitig, dass sie einander nie mit negativen Nachrichten, mit Kummer und verletzten Gefühlen belastet haben. Widerspruch?
    Dass alle verstorbenen geliebten Partner nach ihrem Tod wie Heilige dargestellt werden, weiß man. Nur kann ich als Leser, der den Toten nicht kennt, mir kein wahrhaftiges Bild von ihm machen. Worauf kommt es also an?
    In Gesellschaft anderer Menschen, sowohl ihrer Schüler als auch ihrer Freunde, bei beruflichen und privaten Anlässen geht es ihr besser. Ist es also Raymonds Tod, der ihr zu schaffen macht? Oder ist es das Leiden an der Einsamkeit?


    Es geht ihr immer schlechter und schlechter; sie kann nicht mehr schlafen, nimmt Schlaftabletten und Antidepressiva in der ständigen Angst, abhängig zu werden, bekommt eine Gürtelrose, und auf einmal, nach 6 Monaten etwa, hat sie es anscheinend geschafft. Sie schläft, sie isst wieder, sie hat die schlimmste Zeit ihres Lebens überwunden – aber wie?
    Während Oates detailliert jede Gefühlsregung und jeden Gedanken schildert, ihren Abgrund vor dem Leser ausbreitet, wird die Heilung in wenigen Abschnitten als Ergebnis abgehandelt.
    Ob es der neue Mann war, der sie gesund machte, und den sie ein Jahr nach dem Tod von Raymond Smith heiratete?


    Es bleibt die Frage, warum eine scheue und zurückhaltende Frau wie Joyce Carol Oates das intime Gefühl ihrer Trauer, zugegeben auf eine exquisite literarische Art zu Papier gebracht, in einem Buch öffentlich macht?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Inhalt

    Joyce Carol Oates war fast 50 Jahre lang mit Ray Smith (*1930) verheiratet, der mit ihr gemeinsam die renommierte Literaturzeitschrift "Ontario Review" herausgab. Das Paar war selten länger als einen Tag voneinander getrennt. 2008 verstarb Ray Smith überraschend nach einer Sekundärinfektion, die er sich im Krankenhaus zugezogen hatte. Wer schon einmal mit einem plötzlichen Todesfall konfrontiert wurde, kennt die Selbstvorwürfe, die Oates in wiederkehrenden Zyklen plagen. Immer wieder durchlebt sie in Gedanken die letzten Stunden, bevor sie ihren Mann mit einer schweren Lungenentzündung in die Notaufnahme des Krankenhauses brachte. Er hatte eigentlich keine Zeit krank zu sein, Termine drängten und Ray Smith war überzeugt davon, in wenigen Tagen wieder als Herausgeber arbeiten zu können. Was wäre, wenn ich meinen Mann in ein anderes Krankenhaus gefahren hätte oder wenn in der Nacht seines Todes nicht nur Assistenzärzte Dienst gehabt hätten; warum konnte ich den Tod, den ich als sinnlos empfinde, nicht verhindern? Oates Selbstzweifel reichen noch tiefer; denn nur ein Jahr zuvor überlebte das Paar mit viel Glück einen Autounfall. Du hast kein Recht zu trauern, du hättest bei dem Unfall sterben können, wirft sich die Witwe nun vor. Auch in der Anspannung, die unmittelbar auf die Todesnachricht folgt, dem äußerlichen Funktionieren und automatischen Erledigen in diesem Moment sinnloser Hausarbeiten, werden sich viele Betroffene wiedererkennen können. Das leere Zuhause ist plötzlich kein Zuhause mehr und sogar die Katzen reagieren verstört. Gerade noch Mrs. Smith, nun plötzlich die Witwe, realisiert Oates, dass ihr Ehemann Ray der Hüter von Haus und Garten war und das Paar alle Entscheidungen stets gemeinsam traf. Ohne Ray wird nun alles zusammenbrechen. Nachlass- und Erbschaftsangelegenheiten sind zu erledigen. Der nötige Behördenmarathon konfrontiert die frisch verwitwete Autorin damit, dass für andere Menschen der Tod Routine ist.


    Oates und Smith waren sich als Paar und in ihrer Leidenschaft für die Literatur innig verbunden. Da Ray Smith die Bücher seiner Frau und die Kritiken anderer darüber meist nicht las, bewahrte sich in dieser Autoren-Beziehung jeder einen abgeschiedenen persönlichen Bereich, zu dem der Partner keinen Zugang hatte. Ray Smith hinterließ ein unvollendetes Romanmanuskript, das er zugunsten seiner Lektorentätigkeit aufgab. Seine Witwe fragt sich nun, ob sie wissen möchte, was sie bisher nicht über ihn wusste? In ihren Erinnerungen bewegt sie sich weit zurück in die Zeit als Ray und sie sich kennenlernten. Ständig treffen für den Herausgeber Ray Smith weiter Manuskripte zur Veröffentlichung oder zur Begutachtung ein; plötzlich sind Texte, die vorher Smiths ganzes Leben ausmachten, nur noch Dinge. Mit der Erkenntnis, dass die Zeitschrift eingestellt werden muss, endet eine Ära. Schließlich wird aus der frisch verwitweten Mrs. Smith erneut Joyce Carol Oates, die ihre Lehrtätigkeit wieder aufnimmt und während ihrer Vorlesungen für kurze Zeit ihre Verzweiflung ablegt. Schlaflosikgiet, Selbstmordgedanken, Medikamentenmissbrauch wechseln ab mit dem Wunsch, den sich sorgenden Freunden keine Last sein zu wollen.


    Fazit

    Joyce Carol Oates unternimmt in ihren Erinnerungen an Ray Smith eine Pilgerreise. Tiefe Verzweiflung wechseln ab mit Phasen des Galgenhumors gegenüber den Widrigkeiten des Alltags und mit tiefer Dankbarkeit für die außergewöhnliche Partnerschaft. Die Autorin beschreibt, stellenweise scharfzüngig, die eigene Verwandlung zur verwitweten Mrs Smith und wieder zurück. Oates protokolliert ihre Gedanken und Gefühle akribisch; die äußere Form des Texts aus kurzen Szenen, Gedankensplittern und Auszügen aus ihrer Korrespondenz spiegelt ihre innere Situation wider. Kursiv gesetzte Kommentare über "die Witwe" deuten den bevorstehenden Ausgang der Ereignisse an. Schließlich tauchen diese Kommentare nicht nur am Ende der Kapitel sondern auch direkt im Text auf. So taktvoll Oates sich über ihren Mann äußert, überschreitet ihr persönlicher für die Nachwelt festgehaltener Trauerprozess in seiner Ausführlichkeit doch Grenzen. Nicht jeder Leser, der sich für biografische Details aus dem Leben eines prominenten Paars der amerikanischen Literatur-Szene interessiert, möchte so akribisch über den Vorrat an Schlaf- und Beruhigungsmitteln im Haus unterrichtet werden. Oates dokumentierter Trauerprozess beeindruckt durch exakte Beobachtung und besonders durch Auszüge ihrer Korrespondenz mit Freunden. Auch die Ära ausführlicher persönlicher Briefe steht kurz vor ihrem Ende.


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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow