• Marilynne Robinson, geboren 1943, gilt seit langem als eine der besten Schriftstellerinnen Amerikas. Die Protagonisten ihrer Bücher zeichnen sich durchweg aus durch eine Fähigkeit zur Empathie, die selten ist, und wie nicht von dieser Welt.



    So auch die Menschen, die in dem Roman „Lila“ beschrieben werden. „Lila“ bildet den Abschluss einer Trilogie, deren beiden ersten Teile „Gilead“ (2004) und „Home“ jeweils mit Preisen überhäuft wurden.



    Lila ist zur der Zeit, in der die Haupthandlung des Buches spielt, Anfang der 50 er Jahre – die USA führen Krieg in Korea - eine erwachsene Frau, die es irgendwann in den kleinen Ort Gilead in Iowa verschlägt. Mit diesem Ort und den Menschen, die dort wohnen, erinnert Marilynne Robinson an die vergessene Geschichte des Mittleren Westens der USA. Hier in Gilead wird sie von dem gütigen, weit über 70 Jahre alten Prediger John Ames aufgenommen. Er heiratet Lila und zeugt einen Sohn mit ihr, den sie auch glücklich zur Welt bringt. Das alles weiß der Leser des Romans schon nach wenigen Seiten.



    In zwei Zeitebenen, der Gegenwart des neuen Lebens von Lila mit dem alten Prediger in Gilead und ihrem Versuch, die Güte und den für einen calvinistischen Theologen erstaunlich offenen und zweiflerisch-philosophischen Glauben ihres Mannes zu verstehen und anzunehmen, und der Vergangenheit Lilas in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wird die Geschichte Lilas erzählt.



    Von der Zeit, als sie als Findelkind von der Wanderarbeiterin Doll mitgenommen wird. Doll schließt sich einer Gruppe von Wanderarbeitern unter der Führung von Doane an. Acht Jahre lang ziehen sie mit ihm und seinen Leuten durchs Land, doch wegen einer großen Dürre und wegen der im Crash von 1929 gipfelnden Wirtschaftskrise finden sie bald keine Arbeit mehr bei den Farmern.



    Nachdem Doll mit ihrem Messer einen Mann getötet hat (war es Lilas Vater?) sieht sie sich auf sich allein zurückgeworfen und muss sich fortan unter anderem in einem Hurenhaus in St. Louis allein durchs Leben kämpfen. Als sie von dort weggeht, findet sie unterwegs eine alte Hütte, in der sie unterschlüpft und wo sie nach wenigen Tagen von John Ames gefunden wird.



    Langsam werden dem Leser in zahlreichen Rückblenden das Leben und das Schicksal Lilas vor dieser Zeit beschrieben. Immer wieder zweifelt sie, was sie davon ihrem Mann, der sich rührend um sie kümmert, offenbaren kann und was sie lieber für sich behält, zumal sie als Frau des Pfarrers in dessen Gemeinde nun eine öffentliche Person ist.



    Ganz am Ende, der Sohn ist geboren und hat nach einer kurzen lebensbedrohlichen Schwäche nach der Geburt überlebt, nach vielen Gesprächen darüber, dass Lila angesichts des hohen Alters ihres Mannes noch vor dem Erwachsenwerden des Kindes wieder alleine sein wird, ist ihr Vertrauen und ihre Liebe zu dem alten Mann so stark geworden, dass die Autorin sicher ist: „Eines Tages würde sie ihm sagen, was sie wusste.“



    Für mich stehen die zahllosen Gespräche von John Ames und Lila Dahl, wie man sie bald bei den Wanderarbeitern nannte, über theologische und philosophische Fragen im Mittelpunkt eines Buches, von dem die Autorin Zsuzsa Bank, die in ihrem Entwicklungsroman „Die hellen Tage“ 2012 auf ähnliche Weise das Erwachsenwerden dreier vom Schicksal schwer getroffener Kinder beschrieb, sagt:
    „Etwas zutiefst Tröstliches liegt in dem Wissen, das zwei sich nicht nur finden können – sondern auch schützen und halten. Diese Annäherung wird so zurückgenommen, so tastend behutsam erzählt, dass man sich ein wenig schämt, wenn man Lila und John weiter beobachtet, während sie reden, sich öffnen und bekennen.“



    „Lila“ ist so etwas wie der andere Zwilling von „Gilead“, wo die Geschichte von John und Lila aus einem anderen Blickwinkel erzählt wird, steht aber als Buch völlig für sich. Es ist ein Buch, das in die Tiefe geht und den Leser dort auch ansprechen will.

  • Das trifft sich! Ich wollte in diesen naechsten Tagen mit Gilead anfangen, das mir von verschiedenen Freunden aus demamerikanisch-englischen Kulturkreis angepriesen wurde... Von Gilead gibt es hier nur eine eher nuechterne Bewertung. Vielleicht dazu spaeter von mir eine Rezi...

  • Verlagstext

    Unbestritten gilt Marilynne Robinson als eine der größten Schriftstellerinnen ihres Landes. Ihre Bücher gelten als Klassiker, deren Helden unvergesslich und deren Empathie eine Tiefe erreichen, die wie aus der Welt gefallen scheint.

    Lila ist ein Findelkind, das von einer Landstreicherin und Überlebenskünstlerin aufgegriffen wird. Als ungleiche Geschwister ziehen sie durch Amerikas harte Jahre, als Dürre und Hunger das Leben zeichnen. Bis eines Tages Lila im Regen unerwartet ein Dach über dem Kopf findet. Und mehr als das - nach Jahren der Entbehrung wird sie mit der Sorge und Zartheit eines Mannes konfrontiert, der ihr Leben und alles, was sie bisher erfahren hat, auf den Kopf stellen wird.


    Die Autorin

    Marilynne Robinson, geboren 1943, ist eine preisgekrönte ameri-kanische Autorin und Essayistin. Ihr Roman „Housekeeping“ (1980) wurde mit dem PEN Award ausgezeichnet, „Gilead“ (2004) mit dem Pulitzer Prize (Fiction) und dem National Book Critics Circle Award. „Home“ (2008) erhielt den Orange Prize for Fiction. Ihr neuer Roman „Lila“ (2014) bildet den Abschluss der Trilogie, war »New York Times«-Bestseller, wurde mit dem National Book Critics Circle Award 2015 ausgezeichnet und für den Man Booker Prize 2015 nominiert. Marilynne Robinson lebt in Iowa und lehrt am Writers‘ Workshop der University of Iowa.


    Trilogie (?)

    Reihenfolge des Erscheinens: Gilead, Zuhause, Lila

    Zeitliche Reihenfolge der Handlung: Lila, zeitlich etwa parallel Gilead und Zuhause

    Zuhause kann als Band 2 der Gilead-Serie gesehen werden, aber auch als Einzelband mit Fokus auf eine weitere Person.


    Artikel im Guardian zu den religösen, historischen und literarischen Bezügen


    Inhalt

    Als die Wanderarbeiterin Doll das verschüchterte kleine Mädchen auf ihre Hüfte hob und mit ihm davonging, ließ die Kleine ihren gesamten Besitz auf der Terrasse eines heruntergekommenen Hauses zurück: ihre Puppe aus einer Kastanie und einem Stück Stoff. Das Kind ist krank, verschüchtert und vernachlässigt. Obwohl sie selbst auf der Straße lebt, versorgt Doll die Kleine liebevoll. Selbst darüber, wie sie Lila den Schulbesuch ermöglichen kann, hat Doll nachgedacht. Sie und das zunächst noch namenlose Mädchen fühlen sich wie die beiden einsamsten Menschen der Welt. Wanderarbeiter wie Doll ziehen in Gruppen durchs Land auf der Suche nach Tagelöhner-Arbeit auf Farmen und in Privathäusern. Um beim Leben auf der Straße Schutz für sich und das Findelkind zu finden, schließt Doll sich einer Gruppe von Wanderarbeitern mit ihrem Anführer Douane an. Acht Jahre lang ziehen Doll und Lila mit Douanes Leuten durchs Land. Doch viele Farmer müssen aufgrund der Dürre aufgeben und können keine Tagelöhner mehr beschäftigen.


    Die Handlung spielt in den USA in den 20ern des letzten Jahrhunderts während der Wirtschaftskrise und einer katastrophalen Dürreperiode. Ereignisse der Gegenwart und Lilas Erinnerungen auf zwei verschiedenen Zeitebenen wechseln sich ab. Heute ist Lila erwachsen und erinnert sich ohne Groll an ihre Kindheit. Sie lebt zu Beginn der 50er Jahre zusammen mit John Ames, dem Prediger, der in „Gilead“ als 75-Jähriger als Vermächtnis für seinen kleinen Sohn Rechenschaft über sein Leben ablegt. Der Ort Gilead in Iowa steht für die vergessene Geschichte des mittleren Westens der USA. Lila erwartet John Ames Kind, aber sie ist sich noch lange nicht klar darüber, ob sie bleiben oder weiterziehen wird. Sie spürt die Verpflichtung, ihrem Kind einmal alles über den Vater zu erzählen und damit Wissen mitzugeben, das in ihrem Leben fehlt. Johns erste Frau, sein Kind und seine im Kindesalter verstorbenen Geschwister liegen in Gilead begraben. Indem sie sich um die Gräber der Ames und um Johns Garten kümmerte, hat Lila das Herz des betagten Predigers erobert. Dennoch kann Ames nicht sicher sein, ob sie und das erwartete Kind bei ihm bleiben werden. Das Mädchen von der Straße und der Geistliche sprechen völlig konträre Sprachen und können einander deshalb nur schwer einschätzen. Wenn man weiß, wann gesät und geerntet wird und dass in den Häusern am Montag Waschtag ist, wozu braucht man noch die Religion des alten Mannes, fragt Lila sich. Für ein Leben als Pfarrersfrau hat Lila auf der Straße nichts gelernt. Ames bemüht sich, ihr alle Freiheiten zu lassen, doch die Damen der Gemeinde beginnen, Lila ihren Vorstellungen von einer Pfarrersfrau anzupassen. Wie kann Lila zu sich selbst finden, wenn sie und das Kind Besitz der Gemeinde sind? Lila taktiert sehr genau, welches Wissen über ihr Leben sie öffentlich macht und welchen Teil sie für sich behält.


    Fazit

    Aus "Gilead" habe hatte ich bereits eine konkrete Vorstellung von John Ames und seiner Beziehung zu Lila, da das Buch den Focus auf John legt. Die Handlung beider Romane fügt sich nun zu einem Gesamtbild zusammen. In diesen beiden Bänden der Gilead-Reihe findet der entscheidende Teil der Geschichte im Kopf des Lesers statt. Selten habe ich so lange über das nachgedacht, was in einem Roman nicht ausgesprochen wird. Was ist vor Lilas Zusammentreffen mit Doll passiert? Woher wusste Doll instinktiv, was ein kleines Kind brauchte? Kann ein Kind wie Lila die Defizite aus seinen ersten Lebensjahren je wieder aufholen? Wie ein Positiv aus einem Negativ entstehen würde, so stellt Marilynne Robinson grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Nähe und Sicherheit den Folgen gegenüber, wenn diese Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden. Unabhängig von der literarischen oder spirituellen Bedeutung des Buches wird hier allein auf der Ebene der Einfühlung in die Figuren in origineller, in die Zeit der Handlung passender Sprache von zwei ungewöhnlichen Menschen erzählt.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ein Mädchen mit Prokura

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Würdest du denn empfehlen, "Lila" zuerst zu lesen?

    :study: Seishi Yokomizo - Mord auf der Insel Gokumon

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :musik: Satoshi Yagisawa - Die Tage in der Buchhandlung Morisaki

    :montag: Dietrich Krusche (Hg.) - Haiku (Reread)

    :montag: Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Reread)





  • Schwierig zu sagen, ich habe mit Gilead angefangen. Vielleicht entscheidest du, ob du zuerst über den alten Mann oder zuerst über die junge Pfarrersfrau lesen möchtest.

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  • Diese Entscheidung fällt mir nicht schwer. :D

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