Frederick Barthelme - Zweitehe / Second Marriage

  • Der Autor (nach Wikipediatexten): Frederick Barthelme, geboren am 10. Oktober 1943 in Houston, Texas, ist ein US-amerikanischer Schriftsteller. Er ist der Bruder von Donald und Steve Barthelme, die ebenfalls beide bekannte Schriftsteller sind. Ursprünglich strebte er eine Karriere als bildender Künstler an und verdiente sich seinen Lebensunterhalt unter anderem als Architekturzeichner, Assistent eines Galeriebesitzers und Kreativdirektor in einer Werbeagentur. Außerdem war er 1966 Gründungsmitglied der Psychedelic-Rockband „The Red Krayola“, verließ aber die Band nach ihrem ersten Album. Trotz ersten Erfolgen als Künstler wandte er sich bald von der Kunst ab, veröffentliche Kurzgeschichten und machte 1977 seinen Professor für Kreatives Schreiben an der University of Southern Mississippi. Er war und ist sowohl als Hochschullehrer an den Tulane- und Johns-Hopkins-Universitäten, als auch beim Film und als Herausgeber literarischer Magazine tätig. Barthelme betrachtet sich selber als Architekt, Künstler und Schriftsteller.


    Seine Kurzgeschichten und Romane zeichnen sich durch zumeist parataktischen Satzbau, also miteinander verbundene Hauptsätze, eine lineare, wenn auch mit Auslassungen arbeitende, also elliptische Erzählstruktur, und große Lakonik aus. Daher wird er von der Kritik gemeinsam mit Raymond Carver zum literarischen Minimalismus gerechnet, möchte jedoch, wie andere Minimalisten auch, nicht als solcher bezeichnet werden. Eine andere Schublade, in die er gesteckt wird, ist „Dirty Realism“ oder „K-Mart Realism“. Diese literarischen Strömungen widmen sich häufig dem Alltag arbeitender, "einfacher" Leute in lieblosen, eher vom Konsum als von Geist durchdrungenden Settings wie Einkaufszentren, Fast-Food-Restaurants oder Autobahnmotels. Sie zeichnen sich durch eine sparsame, schmucklose Sprache, detailreiche Beschreibungen und einen Blick auf die düster-gewöhnlichen Seiten des alltäglichen Lebens aus. Andere Vertreter sind unter anderem Tobias Wolff, Richard Ford, Larry Brown, Cormac McCarthy, Pedro Juan Gutiérrez, Fernando Velázquez Medina, Jayne Anne Phillips, Curtis Sittenfeld, Ann Beattie, Mary Robison und Amy Hempel. Im Grunde kann man auch Charles Bukowski und Carson McCullers dazurechnen.


    Werke (Auswahl): 1983: Moon Deluxe/Moon Deluxe (Stories), 1984: Second Marriage/Zweitehe, 1985 Tracer/Leuchtspur, 1987: Chroma/Koloraturen (Stories), 1988, Two Against One, 1989: Natural Selection, 1993: The Brothers, 1995: Painted Desert, 1997: Bob the Gambler, 2000: The Law of Averages (Stories), 2003: Elroy Nights, 2009: Waveland, 2014: There Must Be Some Mistake.


    Der Roman „Second Marriage“ von 1984 wurde 1992 in deutscher Übersetzung von Peter Bartelheimer unter dem Titel „Zweitehe“ als Suhrkamp Taschenbuch st1874 veröffentlicht. Diese Ausgabe umfasst 271 Seiten. 1985 verfasste Barthelme basierend auf seinem Roman ein Drehbuch, das nicht verfilmt wurde. Der deutsche Titel „Zweitehe“ gefällt mir nicht besonders, handelt es sich doch nicht um eine "Zweit"ehe neben eine bestehenden Ehe, sondern einfach um eine zweite Ehe.


    Inhalt (Klappentext): Das Haus im Vorort ist kaum bezogen, da unternimmt Henrys zweite Frau Theo bedeutungsschwere Grabungen im Vorgarten. Seine Exfrau Clare sucht im neuen Heim Zuflucht vor Joel, dem derzeitigen Mann an ihrer Seite. Zurück von einem fluchtartigen Trip nach Colorado, beschließen die beiden Frauen Henrys Auszug. Theos dreizehnjährige Tochter Rachel, die Teenies Kelsey und Winnie, die bizarren Nachbarn, Henrys neuer Vermieter Nassar mit seinem Ägypten-Tick und seine rothaarige Frau Mariana ziehen Henry in einen Reigen, der ihn zu Theo zurückführen soll. Zwischen Vorortgrün und Fastfood-Ketten nehmen die Verhängnisse des „American Dream of Life“ ihren hoffnungslos unernsten Lauf. Henry kommt sich vor wie in einem dieser Filme, „wie man sie seit ein paar Jahren macht, in denen das alltägliche Leben durch den Kakao gezogen und gleichzeitig als herrliches Rätsel geschildert wird."


    Ich liebe es geradezu, wie die handelnden Figuren in diesem Roman miteinander reden. Die Dialoge sind superb und absolut stimmig für jeden Charakter notiert, sei es die etwas altkluge 13-jährige Stieftochter, sei es der 50-jährige Nachbar, der noch mit seiner Mutter zusammen wohnt. Auch die Art und Weise, wie die Redevorgänge eingefangen werden, zeigt, wie genau der Autor das Verhalten seiner Mitmenschen studiert hat. Tatsächlich kam mir beim Lesen die Vermutung, Barthelme würde sich beim Schreiben die Körperbewegungen seiner Figuren filmisch vorstellen, um dann ihre redebegleitenden Handbewegungen, Körperhaltungen, Ausfallschritte, Übersprungshandlungen oder Ticks zu beschreiben. Da werden Halskettenschnüre um die Finger gezwirbelt, bis die Kuppen rot anlaufen (S. 82), oder silberne Kaugummipapiere aus der teppichverkleideten Furche zwischen Autositz und Türschwelle geklaubt (S. 173). Hier wird einerseits Wert auf hochgradige Akkuratesse gelegt, andererseits werden diese Beschreibungen so beiläufig präsentiert, dass sie fast unbewusst wahrgenommen werden. Barthelme geht es dabei nicht um ein perfektes Ausleuchten des Interieurs, sondern um menschliches Verhalten. Darum, wie sich verborgene Gefühle leiblich äußern. Es wird nicht mit Schriftstellerstolz auf die tollen Formulierungen hingewiesen, vielmehr wirken sie wie kleine Seitenblicke oder vorbeihuschende Informationen, Mosaikteilchen, die mit der Zeit angesammelt ein ganzes Bild der Personen ergeben.


    Und tatsächlich ist man vor allem bei der Hauptfigur Henry auf solche Momentaufnahmen angewiesen, um aus seinem Verhalten Rückschlüsse auf seine Gedanken zu ziehen. Ist er doch ein passiver, fast ambitionslos wirkender Mann Mitte Dreißig, der so wirkt, als sagte er zu allem Ja und Amen. Dabei ist er einfach jemand, der seine Ansichten nicht laut in die Welt hinausschreit. Jemand, der auch mal schweigt, bevor er in das ständige Geplapper seiner Umgebung einstimmt. Bevor er auf seine eigene Meinung pocht, wägt er erst einmal die Meinung seines Gegenübers ab. Er scheint große Skepsis zu empfinden, mit Worten bei seinen Mitmenschen einen tiefgreifenden Eindruck zu hinterlassen – oder mit Sprache überhaupt die Handlungen anderer zu beeinflussen, Entscheidungen, die über seinen Kopf hinweg getroffen wurden, noch einmal in seinem eigenen Sinne herumzureißen. Was "sein Sinn" ist, darüber muss er sich überhaupt erst einmal klar werden. Alles so lassen, wie es ist? Er ist pragmatisch und vielleicht im Grunde realistisch, macht ganz sicher nicht die Pferde scheu, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, auch wenn er dabei – als Folge seiner eingeschliffenen Genügsamkeit - oft übersieht, dass das Kind noch quicklebendig am Brunnenrand sitzt. So lässt er sich treiben, auf die Spur gesetzt von willensstarken (oder willensstark erscheinenden) Frauenfiguren. So ergibt sich für ihn alles irgendwie - wie zufällig und dabei auch irgendwie bedeutungslos: Der Freund seiner Exfrau verschafft ihm eine Junggesellenwohnung, als er zuhause ausziehen soll - ein paar Sachen für den Umzug hat ihm seine Ehefrau schon in eine Kiste gepackt -, die Frau seines neuen Vermieters verschafft ihm ein aussichtsreiches Vorstellungsgespräch, sein Vermieter vermittelt ihm einen Bekannten, der sich um sein kaputtes Auto kümmern soll, seine selbstmordgefährdete Nachbarin bringt ihm selbstgemachtes Essen vorbei, ein anderer Nachbar ist mit guten Tipps zur Stelle. Und mit irgendeiner Schwester ergibt sich ein Verabredung, andere Frauen werfen sich ihm geradezu an den Hals. Das Leben ist doch gut, wie es ist, oder? Nur, wie er sich in Bezug auf seine „wie aus dem Nichts“ zerbröselnde Ehe verhalten soll, sagt ihm keiner. Oder der eine so, der andere so. Da muss er wohl selbst den ersten Schritt wagen ...


    Ein überraschender, leichtfüßiger Roman über sehr gegenwärtige Menschen, die mit Beziehungsproblemen, Einsamkeit und Unentschlossenheit zu kämpfen haben. Die Männer erscheinen hilf- und ziellos, wie verunsichert. Selbstbewusste Frauen ordnen für sich und für die Männer den Alltag – oder suchen für sich ganz allein einen Ausweg aus einem Leben, das gezeichnet ist von essenzieller Entfremdung, fehlenden Illusionen, ständigem Geplapper und alltäglicher Funktionskommunikation zwischen Eheleuten, zwischen Verkäufern und Käufern, das aber tiefgehende Kontakte vermissen lässt.


    Die große Qualität des Romans ist für mich, dass er in einer Zeit, in der in den Medien Alltag allerorten überdramatisiert wird, die Schlichtheit des normalen Lebens bestehen lässt, was bitte nicht mit Beliebigkeit, Langeweile und Oberflächlichkeit verwechselt wird. Ihn bevölkern keine Figuren, die wild mit den Armen rudernd irgendwelche Konflikte austragen, gegen alle Widerstände für ihre Überzeugungen und ihre Idee vom Glück kämpfen und sich selbst verwirklichen wollen. Es wird nicht groß herumgeschrien oder mit Türen geknallt wie in Daily Soaps. Aber bloß, weil die Figuren eher schlecht über ihre Gedanken und Gefühle reden können, nur schwierig ihre eigenen Wünsche zu artikulieren wissen, heißt es nicht, dass sie keine vielgestaltige Gefühlswelt haben. Und plötzlich brechen einem mitten im Gespräch die Tränen aus ...


    Literatur, so unnahbar und überraschend wie das wirkliche Leben, nicht so dramaturgisch vorgeformt, wie es Romane so oft sind. Barthelme schreibt über lebensechte Figuren, deren Verhalten mich immer wieder in Erstaunen gesetzt hat. So schmucklos dargeboten, dass man es fast für unkünstlerisch halten könnte. Ich sage: Gerade das ist große Kunst - und bin schwer beeindruckt!

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Der Roman, im Original "Second Marriage" benannt, in einer Ausgabe von "Grove Press" vom September 1995.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


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