Martina Winkelhofer - Adel verpflichtet

  • Worum es geht
    Martina Winkelhofer beschreibt in ihrem Buch die Situation der Aristokratie in der Donaumonarchie des 19. Jahrhunderts, und richtet dabei ihren Blick vor allem auf die weiblichen Mitglieder dieses Standes.
    Wie willkommen waren Mädchen in einer Familie, in der nur Männer erbberechtigt waren, wie sah die Erziehung der kleinen Komtessen aus, welche Heiratsmöglichkeiten taten sich auf, welche Alternativen hatten adelige Töchter, die keinen Ehemann fanden, welche Stellung nahm eine junge verheiratete Frau in der neuen Familie ein, wie sahen ihr Eheleben und ihr Alltag als Mutter, aber auch als Vorsteherin eines großen Haushalts aus? Gesellschaftliche Verpflichtungen und Wohltätigkeitsveranstaltungen gehörten ebenso zu ihrem Leben wie die obligatorische Sommerfrische, deren Organisation einen großen logistischen Aufwand erforderte. Viel Arbeit bereiteten der ersten Dame des Hauses auch die alljährlichen Jagdsejours, zu denen Verwandte und Freunde in großer Zahl eingeladen wurden.
    Aber auch die alte Aristokratin behielt ihren Platz in der Familie, ewige Jugend und Schönheit wurde von ihr nicht gefordert. Vielmehr hatte sie sich in ihren reifen Jahren eine Position erobert, die auch zu Kritik berechtigte, war sie doch die Bewahrerin alter Werte und Traditionen. Weil sich auch die in die Jahre gekommenen adeligen Damen aus der Gesellschaft nicht zurückzogen, war Vereinsamung ein so gut wie unbekanntes Phänomen. Ihre Situation konnte sich erst als Witwe ändern, war ihre Stellung doch immer an die ihres Mannes gebunden.
    Die Autorin befasst sich aber auch mit physischen und psychischen Erkrankungen ihrer Protagonistinnen, und den medizinischen Möglichkeiten der damaligen Zeit bei letalen Krankheiten. Einen kurzen Einblick erhält der Leser auch in die wirtschaftlichen Betriebe und Vermögensverhältnisse des Adels, sowie der Situation nachgeborener Söhne und ihren Schwierigkeiten, sich einen angemessenen Platz in der Gesellschaft, der sie angehörten, zu erkämpfen.
    Mit dem Ende des ersten Weltkrieges 1918 verlor der Adel nicht nur sämtliche Titel und Vorrechte, mit ihm ging auch die Lebensart eines Standes unter, die in der bekannten Form nie wieder auferstehen sollte.


    Wie es mir gefallen hat
    Der Ausspruch "Adel verpflichtet" ist sicher den meisten Lesern geläufig; die Autorin dieses informativen und gut strukturierten Buches, hinterfragt außerdem, wozu er denn nun eigentlich verpflichtet sei, und wie diese Verpflichtung, standesgemäß zu leben, umgesetzt wurde. Dabei befasst sie sich vor allem mit der Situation der Aristokratinnen im 19. Jahrhundert, und zeigt sehr deutlich, dass tatsächlich jeder Stand auch seine Last hatte.
    Von Kindesbeinen an lernten Adelige beiderlei Geschlechts, Contenance zu wahren, das bedeutet, in jeder Lebenssituation Haltung und Gleichmut zu zeigen. Trotz ihres behüteten und umsorgten Lebens wurden adelige Kinder keinesfalls verwöhnt; ein quengeliges oder arrogantes Kind war den Erwachsenen ein Gräuel, wurde dieses Verhalten doch stets mit dem von verzärtelten Bürgerskindern oder den Kindern der Neureichen gleichgesetzt, die zu adeligen Kreisen keinen Zugang erhielten. "Adel" assoziierte man nämlich durchaus nicht mit Vermögen, sondern vielmehr mit dem Bewusstsein, einer exquisiten Gesellschaftsschicht anzugehören, die sich durch dieselbe Erziehung, Ausdrucksweise und Konversation auszeichnete. Man kannte sich untereinander, sprach sich mit einem Kurznamen ("Petit Nom") an, der erst der eigentliche "Mitgliedsausweis" für die feinen Kreise war, und wusste von allen verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen. Selbst der mittelloseste Aristokrat lernte dieses spezielle Verhalten, das man sich später nicht mehr aneignen konnte, von Kindheit an, und war aufgrund dieses sozialen Grundkapitals ein gleichberechtigtes, akzeptiertes Mitglied seines Standes.
    Schwierig konnte das Leben der jungen Aristokratinnen erstmals werden, wenn sie auf den Heiratsmarkt geworfen wurden. Hier herrschte reges Gedränge um eine "gute Partie", möglichst mit dem Erben eines alten und reichen Geschlechts. Für alle weniger hübschen und begüterten Komtessen gab es nämlich keinen Plan B; ihr Leben war nur auf die Ehe und das Führen eines eigenen Haushalts ausgerichtet. Aber auch das Eheleben mit einem Mann, den man kaum kannte, in einer fremden Familie, die der neuen Schwiegertochter nicht immer wohlgesonnen war, wird anfangs oft nicht leicht gewesen sein. Da die Ehe als unauflösbar galt, mussten die Frauen schon froh sein, wenn statt der großen Liebe ein einigermaßen harmonisches Zusammenleben möglich war. Einen Ausweg aus diesem Leben gab es nicht; die Damen der Aristokratie mussten in jedem Fall durchhalten, gleichgültig, wie es ihnen dabei erging. Ohne Begleitung durften sie nicht einmal das Haus verlassen, geschweige denn auf Reisen gehen.
    Ihre Sicherheit und einziger Vorteil waren, dass keine Geliebte den Platz der Ehefrau je einnehmen konnte. Dennoch durfte über die eigenen Befindlichkeiten nicht geklagt werden, stets galt es die Haltung zu wahren. Das Tagebuch diente als einzige Kompensation, und so verwundert es den Leser auch nicht, dass Depressionen damals ein recht häufiges Krankheitsbild dieser Kreise waren, ohne als solche erkannt oder gar behandelt zu werden.
    Wohltätigkeit gehörte zu den ersten Pflichten einer Aristokratin, und doch konnten sich die meisten das Elend der Bevölkerung in den Städten gerade im ausgehenden 19. Jahrhundert gewiss nicht vorstellen. Einen Preis für ihr Leben im goldenen Käfig hatten aber auch sie zu bezahlen.
    Etwas mehr Freiheiten genossen die männlichen Mitglieder der Aristokratie, sie konnten sich auch als Junggeselle mit nur einem Kammerdiener im Schlepptau auf die sogenannte "Kavalierstour" begeben, um die Welt kennenzulernen. Bei Frauen hingegen galt es als besonders reizvoll, wenn sie möglichst naiv in den Ehehafen einliefen.
    Aber auch alle anderen Mitglieder der Adelskreise hatten so gut wie keine Wahlmöglichkeit, um ihre finanzielle Situation zu verbessern. Dazu gehörten unverheiratete Tanten und Schwestern genauso wie die nachgeborenen Söhne. Erwerbsarbeit als Einkommensquelle blieb ihnen allen verwehrt, und so waren sie allein auf das Wohlwollen des Familienchefs, der den Besitz der Familie verwaltete, angewiesen. Vermögen erwarb man als Adeliger nicht, man hatte es bereits, und lebte ausschließlich von den Erträgen des land- und forstwirtschaftlichen Betriebes. So wusste ich z. B. auch nicht, dass das Familienvermögen in einem sogenannten Fideikommis zusammengefasst war, und nichts davon veräußert werden durfte, nicht einmal das Mobiliar eines Wohnsitzes, um sich neu einzurichten.
    Wer sich das Leben der Aristokraten bisher als ungeheuer luxuriös vorgestellt hatte, die, frei von Verpflichtungen, tun und lassen konnten, was sie wollten, der wird mit dieser Lektüre eines besseren belehrt.
    In ihrem bemerkenswerten Buch hat die Autorin nicht nur viele Themenbereiche angesprochen, sondern diese auch sehr gut verständlich und ausführlich erklärt, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Ich habe nicht nur neue Erkenntnisse gewonnen, die viele Verhaltensweisen von Angehörigen der Aristokratie erklären, denen man in der Literatur immer wieder begegnet, sondern auch ein anderes Bild von den ganz eigenen Lasten, Pflichten und Freuden eines Standes, der selbst im Untergang noch Contenance zu wahren wusste.