Carl Djerassi - Der Schattensammler

  • Worum es geht

    Seinen 90. Geburtstag vor Augen, hat sich Carl Djerassi, einem breiten Publikum gewiss als "Vater der Pille" bekannt, entschlossen, drei autobiografischen Arbeiten noch eine vierte hinzuzufügen. In dieser allerletzten Autobiografie, wie es im Untertitel heißt, konzentriert sich der Autor darauf, die realen und imaginären Schatten in seinem Leben aufzuspüren, das er auch nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt, sondern in jedem Kapitel bestimmte Schwerpunkte setzt.
    Als einziges Kind eines jüdischen Arztehepaares wird Carl in Wien geboren, verbringt seine Kindheit in Bulgarien, der Heimat seines Vaters, und kehrt nach der Scheidung seiner Eltern mit der Mutter nach Wien zurück. Hier lebt er in einem matriarchalisch geprägten Haushalt, ehe er als Heimatvertriebener 1938 über Bulgarien nach Amerika auswandert. Nach seinem Chemiestudium nimmt er 1949 eine Stelle bei der Firma Syntex in Mexiko an. 1951 gelingt Djerassis Team erstmals die Synthese von Norethisteron, einer Substanz, die die biologische Wirkung des weiblichen Sexualhormons Progesteron nachahmt. Die dadurch möglich gewordene Entwicklung steroidaler oraler Kontrazeptiva sollte schließlich durch die weltweit hohe Akzeptanz der "Pille" rund 10 Jahre später zur sexuellen Revolution führen und die Gemüter bis heute erhitzen. 1952 beginnt Djerassis akademische Laufbahn an der "Wayne University" in Detroit, ehe er 1959 an die Stanford University berufen wird.
    Eine zweite Karriere als Schriftsteller startet der leidenschaftliche Kunstsammler Mitte der 1980-er Jahre, als eine Krebserkrankung diagnostiziert wird. Mehr Ruhe gönnt sich der Workaholic dennoch nicht. Lesereisen und die Aufführung seiner dramatischen Werke führen ihn um die halbe Welt. Schatten fallen aber auch immer wieder auf Djerassis Privatleben, wie der Freitod seiner Tochter Pamela, zwei gescheiterte Ehen und der Tod seiner geliebten dritten Frau, der Literaturwissenschaftlerin und Biografin Diane Middlebrook.
    Trotz aller Aktivitäten leidet Djerassi an der Einsamkeit, die das hohe Alter mit sich bringt, und sehnt sich dennoch nach einer weiteren arbeitsreichen Dekade bis zur Vollendung seines 100. Lebensjahres.


    Wie es mir gefallen hat
    Wer kennt ihn nicht, diesen wohl berühmtesten "Vater der Pille", dessen Namen sicher für immer mit seinen genialen Leistungen auf dem Gebiet der Chemie in Verbindung gebracht werden wird. In seinen Lebenserinnerungen räumt Carl Djerassi diesem Teil seiner Biografie aber nur wenig Raum ein, obwohl auch seine großen beruflichen Erfolge ihre Schatten geworfen haben.
    Sehr intensiv hingegen befasst er sich mit seiner zweiten Karriere als Schriftsteller, zu der er sich erst relativ spät berufen fühlte, als dem über 60-jährigen die Diagnose Krebs gestellt wurde. Seine Kurzgeschichten, die 5 Romane und 9 Dramen haben hauptsächlich ein Ziel, einem breiten Publikum naturwissenschaftliche Themen schmackhaft zu machen. Mich konnte Djerassi mit seinen literarischen Arbeiten, von denen es im vorliegenden Buch zahlreiche Kostproben gibt, stilistisch leider überhaupt nicht beeindrucken, weil mir seine bevorzugte Form, der Dialog, in Romanen ein Gräuel ist.
    In anderen Kapiteln befasst sich der begeisterte Theaterbesucher sehr intensiv mit seiner jüdischen Identität, er berichtet ausführlich von der Versöhnung mit seinem Geburtsland Österreich, erzählt von seinen Ehen, seiner engagierten Lehrtätigkeit als Professor an der Stanford University, und seiner Leidenschaft für die Bildende Kunst, vor allem für den Maler Paul Klee.
    Was ich an der Person des Autors sehr schätze ist seine Vielseitigkeit, sein großes Allgemeinwissen, sein disziplinenübergreifendes Denken, sein pädagogisches Geschick, mit dem er seine Studenten zum selbständigen Arbeiten anleitet, seine stetige Auseinandersetzung mit den Folgen und Auswirkungen der hormonellen Geburtenkontrolle, auch in moralischer und ethischer Hinsicht, und seine ungebrochene Neugier, die ihn bis ins hohe Alter unermüdlich antreibt.
    Ein Leben lang muss sich der hochintelligente Chemiker den Vorwurf gefallen lassen, dass er sich ungehörigerweise in den Vordergrund gedrängt habe, seien doch auch noch andere Forscher an der Arbeit beteiligt gewesen. Als Antwort erinnert Djerassi in seinen Publikationen an die Leistungen längst vergessener Vordenker, wie die des Physiologen Ludwig Haberlandt, den er als "Großvater der Pille" bezeichnet.
    Bescheidenheit wiederum dürfte dennoch nicht zu Djerassis Tugenden gehören, meinte ich in seinen Ausführungen doch einen ausgesprochenen Hang zu Beachtung und Anerkennung entdeckt zu haben.
    Den Neid vieler Zeitgenossen erweckt der Autor sicher auch mit seinem zwar moderat, aber immerhin doch zur Schau gestelltem Reichtum, der sich in mehreren Wohnsitzen in Amerika und Europa manifestiert, aber auch an seinen Kunstsammlungen, Schenkungen und Stiftungen erkennbar ist.
    Djerassis autobiografische Betrachtungen finde ich sehr interessant und durchaus lesenswert, wenn sie manchmal auch an das Schwadronieren eines alten Mannes erinnern. Den Titel halte ich hingegen für wenig passend, weil sich dieses Leben meiner Meinung nach doch hauptsächlich auf der Sonnenseite abgespielt hat, bei dem die Schatten kaum ins Gewicht fallen.
    Umso gespannter warte ich nun darauf, dass sich ein Biograf dieser beeindruckenden Persönlichkeit annimmt, und das nicht nur in materieller Hinsicht reiche Leben des Carl Djerassi so objektiv wie möglich zu Papier bringt.


    Carl Djerassi verstarb etwa 18 Monate nach Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe dieses Buches am 30. Januar 2015 im 92. Lebensjahr.