Viktor Pelewin - Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin / DPP Dialektika Perechodnogo Perioda iz Niotkuda v Nikuda

  • Zum Autor (Quelle Verlagsseite Luchterhand):


    Viktor Pelewin wurde 1962 in Moskau geboren. Er studierte zunächst Elektrotechnik, wechselte aber bald zum Moskauer Literaturinstitut. Seit 1990 arbeitet Pelewin als freischaffender Autor. Details seiner Biographie gibt Pelewin nur ungern preis, Journalisten gegenüber erfindet er sich immer wieder neu. In Russland verweigert Pelewin Lesungen, Interviews und Fernsehauftritte, seine Leser, für die er längst zum Kultautor geworden ist, kommunizieren eifrig im Internet mit ihm. Bisher sind sieben Romane und ca. 50 Erzählungen von Pelewin erschienen, seine Bücher sind in über 10 Sprachen übersetzt worden.
    Anmerkung meinerseits: Die Zahl der veröffentlichten Bücher auf der Verlagsseite scheint nicht aktualisiert: ich zähle zwölf Romane Pelewins, von denen 10 bereits ins Deutsche übersetzt worden sind. Laut Klappentext ist dieser Schriftsteller mit zwei renommierten russischen Literaturpreisen ausgezeichnet worden, dem National Bestseller und dem Apollon Grigoriev Preis.


    Ein schönes Zitat von Pelewin gibt es auf der englischen Wikipedia-Seite über den Autor:

    Zitat

    In a conversation with BOMB Magazine, Pelevin named Russian author Mikhail Bulgakov's The Master and Margarita as an early influence on his reading, saying, "The effect of this book was really fantastic. [...] This book was totally out of the Soviet world." Pelevin avoids, however, listing authors who have specifically influenced his writing, for he believes that "the only real Russian literary tradition is to write good books in a way nobody did before."




    Inhalt (Klappentext):


    Stepan Michailow ist ein Glückskind und als mehrfacher Bankengründer ein gemachter Mann. Sein enormer Erfolg in Spekulationsdingen speist sich aber nicht etwa aus der gründlichen Kenntnis ökonomischer Vorgänge. Stepan ist vielmehr ein Meister der Zahlenmystik, er hat zudem ein sicheres Händchen in der Auswahl seiner tschetschenischen Leibwächter, und: Er hört auf den Rat seines Gurus, der ebenso bewandert ist in den neuesten buddhistischen Strömungen wie in den Vertriebsstrategien von Manga-Pornos. Die 34 ist Stepan als Glückszahl verheißen, mit 43 aber soll ihn das Unglück ereilen, und das kommt prompt in Gestalt des plötzlichen Konkurrenten Firkin. Doch weil ein echter Kapitalist so schnell nicht aufgibt, steuert alles auf den großen Showdown zu. Mit überraschendem Ausgang …





    Meine Meinung zum Buch
    (bzw. was ich aus diesem Roman herauszulesen glaube):


    Was hinter Stepan als Zahlenmystiker steht, ist an und für sich das Konzept des philosophischen Dualismus (und wohl auch ein bisschen des religiösen Dualismus), und wie man auf der Basis eigener (d.h. selbst gewählter) Wert- bzw. Maßstabsetzungen sein Leben in positiv und negativ, in Licht- und Schattenseiten unterteilt; dies vermeintlich objektiv, tatsächlich aber beurteilt man völlig subjektiv den Lauf seines Lebens. Viktor Pelewin stellt dies anhand einer humorvollen Zahlenobsession seines Protagonisten dar, doch glaube ich nicht, dass der Autor sich damit nur auf Zahlenmystik bezieht. Meines Erachtens könnte man dies durch jede andere bewusst oder unbewusst gewählte Richtschnur ersetzen, vom (Aber-)Glauben in all seinen Erscheinungsformen, wozu man möglicherweise auch bestimmte fanatische Ausübungen von Veganismus, exzessiven Sport oder Mode- und Schönheitskult zählen könnte (diese Auswahl nur, um ein paar Beispiele zu nennen), bis hin zur Ausrichtung unser aller Leben auf unsere modernen papierenen Götter mit Dollar- und Eurozeichen darauf, und dem virtuellen Olymp der ultrafetten Bankkonten.
    So wie die Zahl 34 nichts weiter als eine Position von vielen in einer Zahlenreihe ist, die erst durch den fanatischen Glauben des Stepan Michailow zu dem maximalen Wert wird, nach dem er sein Leben ausrichtet, glauben wir in der modernen Gesellschaft unerschütterlich an den Wert des Geldes und an die „Göttlichkeit“ seiner Bedeutung. (Dass der Wert von Geld nur ideell besteht, haben wir alle im Fach Wirtschaft und Recht schon mal gehört, und was für eine inflationäre Talfahrt losgeht, wenn der Glauben an seinen Wert flöten geht …)


    Da Viktor Pelewin ein recht findiger Autor ist, treibt er einige Spielchen im Buch, u.a. mit seinen numerischen Kapitelüberschriften: Kapitel, die mit „34“ überschrieben sind, beinhalten also positive Ereignisse und Aspekte für den Banker Stepan Michailow, die mit der antagonistischen Zahl „43“ demzufolge das Gegenteil. Die Witzbolde unter den Lesern werden sich natürlich beim Entdecken von Kapiteln wie „0034“ oder „69“ gleich ihren Teil denken und gespannt sein, was sie denn bei den Kapiteln „II“. „100“ oder „360“ zu erwarten haben.


    Es geht im "Dialektik"-Roman um die postsowjetische Zeit, in der Russland mit der (von Gorbatschow damals überhaupt nicht beabsichtigten) Marktwirtschaft und dem Kapitalismus unter Jelzin abrupt konfrontiert wurde, aber auch um die Zeit Putins (dass ein homosexueller Banker beim Geschlechtsverkehr ein Bild Putins neben sich stehen hat, gewährt ihm nicht nur, wie im Buch dargestellt, Sicherheit vor Veröffentlichung des daraus resultierenden kompromittierenden Materials, sondern ist sicherlich auch eine Anspielung auf die Homophobie Putins, der mit seinem Bild der Szene des homosexuellen Geschlechtsverkehrs praktisch als unfreiwilliger Zeuge beiwohnen muss).
    Es geht um jede Menge wirtschaftspolitische Manipulationen, wie sie unter Jelzins Präsidentschaft gang und gäbe waren und den Grundstein für die Macht der russischen Oligarchen legte. Pelewin hat auch das Thema Tschetschenien eingebaut, mit diversen Assoziationen als Kryscha-Schutzmacht, als Moslems und als Terroristen (mit deren Unterbindung Putin damals als Premierminister erst nationale Bekanntheit erlangte). Auch das Thema der Manipulation durch das russische Fernsehen nimmt einen beachtlichen Teil in Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin ein, wobei mir dieser Teil nicht ganz so gut gefiel, weil mir die Anspielung auf Sjuganow und Tschubais und die Signifikanz der Beeinflussung durch das Medium Fernsehen erzählerisch zu offenkundig zutage liegt.


    Auf der anderen Seite bin ich auf mehrere Details gestoßen, bei denen ich eine Anspielung vermute, sie aber nicht verstehe, wie z.B. bei der Figur von „Lebedkin“, einem korrupten Agenten des FSB – ich frage mich, ob dieser Name als Anspielung auf General Lebed zu verstehen ist, der u.a. in der Beendigung des Tschetschenienkonflikts eine Rolle spielte. (Auch in Pelewins Roman setzt Lebedkin die Tschetschenen außer Kraft.) Von solchen für mich unklaren Beispielen gab es im Buch einige.



    Das Buch enthält außer dem Roman vier Kurzgeschichten, wobei die erste den Titel „Die mazedonische Kritik der französischen Philosophie“ sich beinahe genauso schwer verdaulich liest wie der Titel selbst. Als Leser sollte man sicherlich ein Freund von bissiger Satire über Pseudophilosophen, erdölorientiertem Kapitalismus und hochgestochenen Verbalisierungen sein, um sie genießen zu können.
    Die dritte Geschichte, „Akiko“, macht anhand von ein bisschen Cybersex deutlich, wie schnell die Auffindbarkeit von persönlichen Daten im Internet einen Nutzer zum Sklaven machen kann. Ich habe mich beim Lesen sehr gut amüsiert.
    Und die letzte Geschichte mit dem Titel „Focus-Group“ dürfte interessant sein für alle, die an „Nichts“ glauben. In jedem Fall eine Geschichte mit einer recht originellen metaphysischen Betrachtung eines (nicht existenten) „Post mortem“.



    Dieses Buch stellt für mich eine hämisch-fiese und derbe Satire auf die Macht des Geldes im postsowjetischen Russland dar, sowie auf den Menschen selbst in seiner idiotisch-fanatischen Fixierung auf Zahlen (auf monetäre Zahlen, versteht sich, also im Endeffekt auf des Menschen Geldgier, sh. oben). Dass dieser Roman in den Kritiken so einmütig verrissen wurde, weil die meines Erachtens deutlich sichtbare philosophische Grundintention nicht (an)erkannt wird, tut mir ein bisschen in der Seele weh. Aber den Wald vor lauter Bäumen zu sehen, ist nun mal nicht leicht, und solange wir alle als Mitglieder der modernen Gesellschaft uns jeweils als ein intrinsisches Partikel der fundamentalistisch-globalen Geldverehrung verstehen, werden wir den gedanklichen Schritt der Analogie von (Aber-)Glauben und Materialismus als Mittel und Weg zum Ziel des Lebensglücks nun mal nicht schaffen, weil die Ideologie in einer materialistisch regierten Weltvorstellung eine solche Perspektive per se exkludiert.


    Diese Rezension soll keine Leseempfehlung darstellen!
    Ich hätte Angst, dass jeder, den ich hiermit zur Lektüre von Viktor Pelewins Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin animieren könnte, mir das Buch hinterher gegen den Kopf wirft, weil ich ihm einen derben Dödel-Roman als angeblich intellektuell-philosophisches Werk angepriesen habe. Es setzt nun mal ein reges Interesse an der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Russland bzw. der Sowjetunion in den letzten 25 bis 30 Jahren voraus, ebenso wie einiges an philosophischem Interesse.
    Kurz: Ich selbst bin zwar ein überzeugter Fan dieses meiner Meinung nach überaus cleveren und originellen Romans und der angehängten Kurzgeschichten, glaube aber, dass dieses Buch nur ganz vereinzelte (und damit meine ich wirklich ganz, ganz vereinzelte) Leser ansprechen dürfte.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Im Original trägt dieser Roman den Titel ДПП (НН) Диалектика Переходного Периода: Из Ниоткуда в Никуда ( DPP Dialektika Perechodnogo Perioda iz Niotkuda v Nikuda).
    In diesem Roman hat der Übersetzer Andreas Tretner bei der Übersetzung ins Deutsche jede Menge Wortspiele übertragen, bei denen es mich geradezu ärgert, dass ich kein Russisch spreche.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog